Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 2 HEs 37 - 39/11; 2 HEs 37/11; 2 HEs 38/11; 2 HEs 39/11

Tenor

Der Haftbefehl des Landgerichts – 6. Große Jugendkammer – Ulm vom 15. März 2011 wird aufgehoben.

Alle drei Angeschuldigten sind freizulassen.

Gründe

 
Die Angeschuldigten K. und D. befinden sich seit dem 8. Oktober 2010 ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Ulm vom 8. Oktober 2010, seit dem 28. März 2011 aufgrund des neu gefassten und ergänzten Haftbefehls des inzwischen mit der Sache befassten Landgerichts - Große Jugendkammer - Ulm vom 15. März 2011. Dieser Haftbefehl richtet sich außerdem gegen den Angeschuldigten St., der sich zuvor aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Ulm vom 9. Oktober 2010 seit diesem Tage ununterbrochen in Untersuchungshaft befand.
In dem Haftbefehl des Landgerichts Ulm, der sich – genau wie die Haftbefehle des Amtsgerichts Ulm – auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO) stützt, werden den Angeschuldigten im Wesentlichen mehrere Verbrechen des schweren Bandendiebstahls nach § 244a StGB, den Angeschuldigten K. und St. auch zwei besonders schwere Fälle des Diebstahls nach §§ 242, 243 StGB vorgeworfen. Darüber hinaus liegt dem Angeschuldigten K. ein Verbrechen des versuchten Mordes zur Last. Außerdem werden ihm – genau wie den anderen Angeschuldigten – Vergehen vorgeworfen, die nicht zu den Katalogtaten des § 112a Abs. 1 StPO gehören.
Die nach §§ 121 Abs. 1, 122 StPO vorzunehmende Haftprüfung ergibt, dass der Haftbefehl aufzuheben ist und die Angeschuldigten freizulassen sind. Denn es ist absehbar, dass die Kammer das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung weiterbetreiben kann.
1. Die allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft nach § 112 StPO liegen vor.
a) Die Angeschuldigten sind der Taten, die ihnen im Haftbefehl des Landgerichts vorgeworfen werden, dringend verdächtig. Dies ergibt sich teilweise bereits aus der Einlassung des Angeschuldigten D., insbesondere aber dem Geständnis des Angeschuldigten K., der nahezu sämtliche der ihm zur Last liegenden Taten eingeräumt hat.
Im Übrigen folgt der dringende Tatverdacht hinsichtlich der Diebstahlsvorwürfe aus der Auswertung der erhobenen Verkaufsbelege, den Erkenntnissen aus Observation und Telekommunikationsüberwachung, der Analyse der Verbindungsdaten von Mobiltelefonen sowie der Beschlagnahme von Diebesgut und Tatwerkzeugen.
Die gemeinschaftliche Tatbegehung stellt sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch als bandenmäßiges Zusammenwirken dar. Dafür spricht insbesondere das organisierte Vorgehen der Angeschuldigten unter Führung des Angeschuldigten K., das durch den Einsatz immer größerer Fahrzeuge – zuletzt eines VW-Busses – zum Transport des Diebesguts, stetiger Vergrößerung der Lagerkapazitäten und der Rationalisierung durch Einsatz von Kabelabisoliermaschinen gekennzeichnet ist.
Hinsichtlich des allein dem Angeschuldigten K. zur Last liegenden Verbrechens des versuchten Mordes beruht der dringende Tatverdacht auf den Angaben des Geschädigten R. H. und des Zeugen J. M. sowie den Ausführungen des Rechtsmediziners Dr. F. J. R.
b) Bei allen Angeschuldigten besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr, soweit sie des schweren Bandendiebstahls oder des Diebstahls in einem besonders schweren Fall dringend verdächtig sind. Die serienmäßige Begehung dieser Taten und der Umstand, dass die Angeschuldigten ihre Beutezüge in Kenntnis der polizeilichen Ermittlungen unvermindert weitergeführt haben, lassen eine so starke innere Neigung der Angeschuldigten zu einschlägigen Taten erkennen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zu besorgen ist, sie werden die Serie gleichartiger Straftaten nach ihrer Haftentlassung fortsetzen. So fand der überwiegende Teil der angeklagten Beschaffungsfahrten, die jeweils zu erheblichen Schäden bis zu rund 6.000 EUR geführt haben und derentwegen den Angeschuldigten mehrjährige Freiheitsstrafen drohen, nach der ersten polizeilichen Kontrolle der Angeklagten K. und St. am 23. August 2010 statt, die zur ersten Beschlagnahme von Diebesgut führte. Auch die vorläufige Festnahme des Angeschuldigten K. am 30. August 2010 und die weitere Beschlagnahme von über fünf Tonnen Buntmetall nebst Tatwerkzeugs vermochte die Angeschuldigten nicht von neuen Taten abzuhalten, weshalb auch die beschlagnahmte Kabelabisoliermaschine bereits am 29. September 2010 durch ein neues Gerät ersetzt wurde. Weniger einschneidende Maßnahmen als die Untersuchungshaft reichen zur Abwendung der drohenden Gefahr dabei nicht aus.
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Wegen des gegen den Angeschuldigten K. bestehenden dringenden Tatverdachts des versuchter Mordes besteht der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO.
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2. Der Haftbefehl ist dennoch aufzuheben, weil die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nicht im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO gerechtfertigt ist.
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a) Der besondere Umfang der Ermittlungen hat bisher ein Urteil nicht zugelassen. Vorliegend waren Serienstraftaten aufzuklären, an denen mutmaßlich mehrere Beschuldigte in wechselnder Besetzung beteiligt waren. Dazu musste die überwachte Telekommunikation und eine Vielzahl von Verkaufsbelegen ausgewertet sowie Diebesgut von insgesamt rund zehn Tonnen Gewicht gesichtet werden.
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b) Das Verfahren ist bislang auch mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden. Aus den Akten ist eine durchgängige Ermittlungstätigkeit während des gesamten Zeitraums bis zum 41-seitigen kriminalpolizeilichen Ermittlungsbericht vom 16. Dezember 2010 ersichtlich. Nach Vorlage der 13 Stehordner umfassenden Akten an die Staatsanwaltschaft wurde am 17. Februar 2011 die Anklageschrift abgefasst. Das ist vor dem Hintergrund der Erkrankung der sachbearbeitenden Staatsanwältin in der abschließenden Ermittlungsphase nicht zu beanstanden.
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Nach dem Eingang der Akten bei der 6. Großen Jugendkammer des Landgerichts Ulm am 23. Februar 2011 hat deren Vorsitzender am 24. Februar 2011 unverzüglich die Anklagezustellung mit einwöchiger Einlassungsfrist verfügt. Sodann hat die Kammer unter dem 15. März 2011 den Haftbefehl nach Maßgabe der Anklageschrift und unter Erweiterung auf Tatvorwürfe gegen den Angeschuldigten K., die Gegenstand zweier bereits dort anhängiger Verfahren sind, neugefasst. Diesen Haftbefehl hat die Kammer den Angeschuldigten am 28. März 2011 eröffnet und – unter Aufhebung der bisher vollzogenen Haftbefehle – in Vollzug gesetzt.
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c) Ein Haftbefehl ist indes nicht nur dann unverzüglich aufzuheben, wenn Verfahrensverzögerungen bereits eingetreten sind, sondern auch dann, wenn hinreichend deutlich absehbar ist, dass erhebliche Verfahrensverzögerungen bevorstehen (BVerfG, Beschluss vom 19.09.2007, 2 BvR 1850/07, juris Rn. 5 m.w.N.). So liegt der Fall hier.
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Der Kammervorsitzende legt in seinem Vorlagebericht vom 4. April 2011 dar, dass eine Hauptverhandlung in vorliegender Sache „realistisch frühestens im September 2011 möglich“ – und damit im günstigsten Fall erst rund sieben Monate nach Anklageerhebung zu erwarten ist. Bis dahin befinden sich die Angeschuldigten mindestens elf Monate in Untersuchungshaft. Damit verzögert sich das Verfahren gegenüber dem üblichen Geschäftsgang um mindestens drei Monate, weshalb die Hauptverhandlung auch zum Zeitpunkt der Haftprüfung nach neun Monaten Untersuchungshaft noch nicht begonnen haben wird. Bei einer so langen Haft gilt für die Rechtfertigung der Haftfortdauer schon allgemein ein besonders strenger Maßstab. Hier kommt hinzu, dass die Haft auf Wiederholungsgefahr gestützt ist und in solchen Fällen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zukommt, wie schon daraus hervorgeht, dass § 122a StPO den Vollzug der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr auf höchstens ein Jahr begrenzt. Nach diesem Maßstab ist die Verfahrensverzögerung nicht gerechtfertigt.
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Die Verzögerung beruht auf der Überlastung der Kammer, deren Mitglieder nicht nur die Jugendkammer, sondern zugleich eine Schwurgerichtskammer und allgemeine Strafkammer bilden. Es ist für den Senat nachvollziehbar, dass der Kammer eine frühere Terminierung nicht möglich ist. Nach dem Bericht des Vorsitzenden waren im Zeitpunkt des Eingangs der Anklageschrift vom 17. Februar 2011 für die Zeit bis Ende Juni 2011 bereits zahlreiche Haftsachen terminiert, nämlich je zwei Verfahren vor der Schwurgerichtskammer und der 2. Großen Strafkammer sowie vier Verfahren vor der 6. Großen Jugendkammer. In einem der Verfahren vor der Jugendkammer, das sich gegen fünf Angeklagte richtet, die mutmaßlich der Gruppierung der „Black Jackets“ angehören, sind dabei schon jetzt sieben Verhandlungstermine im Juni 2011 bestimmt sowie 44 Zeugen und Sachverständige geladen. Zur Terminierung steht außerdem eine Haftsache vor der Schwurgerichtskammer an, in der am 6. Juli 2011 die 6-Monats-Haftprüfunungsfrist abläuft. Gleichzeitig scheidet ein Kammermitglied im Mai 2011 aus, an dessen Stelle zum 1. Juni 2011 ein neu abgeordneter Richter tritt. Ein weiteres Kammermitglied wird sich im Juli und August 2011 in Elternzeit befinden.
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Die Überlastung des Gerichts infolge einer Häufung anhängiger Sachen die schon länger dauert, rechtfertigt die Verzögerung nicht. Ein Beschuldigter darf nicht deshalb länger in Haft gehalten werden, weil dem Gericht die personellen Mittel fehlen, die zur ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäftsanfalls erforderlich sind (BVerfG a.a.O. Rn. 6). Eine Überlastung kann eine Verfahrensverzögerung allenfalls dann rechtfertigen, wenn sie kurzfristig ist und weder voraussehbar noch vermeidbar war (vgl. Schultheis in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 121 Rn. 18 m. w. N.).
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Vorliegend ist nicht mehr von einer nur vorübergehenden Überlastung der Kammer auszugehen. Vielmehr dauert die hohe Belastung inzwischen seit nahezu zwei Jahren an. Seit August 2009 hat der Vorsitzende gegenüber dem Präsidenten des Landgerichts wiederholt die Belastungssituation dargelegt. Bereits mit Schreiben vom 18. August 2009 wies er auf den „extrem hohen Fallbestand“ infolge des Eingangs von zehn Schwurgerichtssachen innerhalb von sechs Wochen hin, der es auch bei überobligatorischem Einsatz der Kammer und unter Nutzung aller Ressourcen besorgen lasse, dass eine Abwicklung der Fälle innerhalb der Frist des § 121 Abs. 1 StPO nicht mehr zu gewährleisten ist. In seinem Schreiben vom 8. Dezember 2009 zeigte der Kammervorsitzende an, dass die Belastungssituation aufgrund der Entwicklung der zu verhandelnden Strafsachen und die ungewöhnlich hohen Eingangszahlen sich „dramatisch zugespitzt“ habe und ein Ende nicht abzusehen sei; an die Bearbeitung von Nichthaftsachen sei derzeit „überhaupt nicht zu denken“. Mit Schreiben vom 8. Dezember 2010 belegte der Vorsitzende schließlich, dass der Bestand der Kammer trotz Mobilisierung aller ihrer Ressourcen weiter angewachsen sei. Ein Abbau des aufgelaufenen Bestandes sei nicht möglich, obwohl die Verfahrensdauer in Nichthaftsachen bereits jetzt nicht mehr rechtsstaatlichen Grundsätzen entspreche. Haftsachen müssten inzwischen in nahezu allen Fällen dem Oberlandesgericht vorgelegt werden zur Prüfung der Haftfortdauer über sechs Monate hinaus.
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Angesichts dieser dauerhaften Belastung der Kammer kann offen bleiben, ob das Präsidium des Landgerichts durch die für die Geschäftsjahre 2010 und 2011 vorgenommenen Entlastungsmaßnahmen, die bislang noch keine spürbar entlastende Wirkung entfaltet haben, alle gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Denn die – nicht nur kurzfristige – Überlastung eines Gerichts ist angesichts des Wertgehalts des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG selbst dann kein wichtiger Grund, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Maßnahmen nicht mehr innerhalb angemessener Frist erledigen lässt (vgl. Schultheis a. a. O. mit Nachweisen zur Rechtsprechung von BVerfG und BGH).

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