Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 2 Ws 21/13

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 10. Januar 2013

a u f g e h o b e n .

2. Die Sache wird an das zuständige Amtsgericht Kirchheim/Teck

v e r w i e s e n .

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

 
I.
Das Amtsgericht Kirchheim verhängte mit Strafbefehl vom 06. August 2012 gegen den Angeklagten wegen Urkundenfälschung eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 20,00 Euro. In der auf den form- und fristgerecht eingelegten Einspruch des Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung am 27. November 2012 gab dieser ausweislich des Protokolls nach Durchführung der Beweisaufnahme die Erklärung ab, dass er seinen Einspruch zurücknehme.
Am 03. Dezember 2012 erreichte das Amtsgericht Kirchheim ein als „Berufung“ bezeichnetes Schreiben des Angeklagten. Hierin wendet er sich gegen das „Urteil“ vom 27. November 2012 und die seiner Auffassung nach zu hohe Geldstrafe. Das Amtsgericht legte daraufhin am 13. Dezember 2012 die Akten dem Landgericht Stuttgart zur Entscheidung über die Berufung des Angeklagten vor. Mit Beschluss vom 10. Januar 2013 verwarf das Landgericht die Berufung mit Verweis auf die Rechtskraft des Strafbefehls als unzulässig (§ 322 Abs. 1 Satz 1 StPO). Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seinem binnen Wochenfrist nach Zustellung der angegriffenen Entscheidung eingelegten „Widerspruch“.
II.
Das als sofortige Beschwerde zu wertende Rechtsmittel des Angeklagten (§ 300 StPO) ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Der Angeklagte hatte keine Berufung eingelegt, die gemäß § 322 Abs.1 StPO hätte verworfen werden können.
1. Zwar hat der Angeklagte sein Schreiben vom 03. Dezember 2012 ausdrücklich als Berufung bezeichnet. Allerdings bemisst sich gemäß § 300 StPO die Frage, welches Rechtsmittel tatsächlich eingelegt ist, nicht nach dessen Bezeichnung sondern nach dem objektiven Erklärungsgehalt. Diese Vorschrift ist Ausdruck des allgemeinen Rechtsgedankens, wonach jede Person Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Rechtszügen hat. Sie ist daher auf alle Rechtsbehelfe und Anträge im Strafverfahren entsprechend anwendbar (BeckOK-Cirener, StPO, 15. Edition, § 300 Rn. 1). Aus diesem Grund ist ein Irrtum in der Bezeichnung unschädlich, wenn nur ein bestimmter Rechtsbehelf statthaft und dessen Einlegung offensichtlich bezweckt ist. Maßgebend für die Beurteilung sind hierbei der Gesamtinhalt der Verfahrenserklärungen und die Erklärungsumstände im Einzelfall (Meyer-Goßner, StPO, 55. Auflage, § 300 Rn. 3 m. w. N.). Der Rechtsbehelf ist daher so zu deuten, dass der erstrebte Erfolg möglichst erreichbar ist.
Im vorliegenden Fall wendet sich der Angeklagte gegen die Höhe der ihm auferlegten Geldstrafe. Die Strafe ist allerdings nicht durch Urteil festgesetzt, das mit der Berufung angegriffen werden könnte, sondern durch einen Strafbefehl. Dieser wäre als Straferkenntnis wieder aufgelebt, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung am 27. November 2012 seinen Einspruch wirksam zurückgenommen hätte (Meyer-Goßner, aaO., § 410 Rn. 2). Sollte die Einspruchsrücknahme hingegen nicht wirksam geworden sein, wäre bislang noch keine das amtsgerichtliche Verfahren abschließende und gegebenenfalls vollstreckbare Entscheidung über den gegen den Angeklagten erhobenen Vorwurf ergangen.
Folglich kann der Angeklagte das bei Anbringung seines Antrags erstrebte Ziel einer Strafherabsetzung nur dann erreichen, wenn sein Einspruch gegen den Strafbefehl vom 06. August 2012 nicht wirksam zurückgenommen ist. Damit ist das Vorbringen des Angeklagten aber als Angriff auf die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung und als Antrag auf Fortsetzung des gegen ihn geführten Strafverfahrens vor dem Amtsgericht zu verstehen (vgl. OLG Jena NStZ 2007, 56).
2. Die Entscheidung über diesen Antrag obliegt dem Amtsgericht Kirchheim. Wird die Wirksamkeit der Rücknahme eines Rechtsmittels von einem Verfahrensbeteiligten in Zweifel gezogen, ist anerkannt, dass das Gericht, gegebenenfalls nach Ermittlungen im Freibeweisverfahren, durch förmliche Entscheidung auszusprechen hat, dass das Rechtsmittel zurückgenommen ist (für die Revision BGH NStZ 2009, 51; NStZ-RR 2010, 55; BGH BeckRS 2010, 27859; Meyer-Goßner, aaO., § 302 Rn. 11a m. w. N.). Anderenfalls setzt es das Verfahren fort. Umstritten ist alleine, ob für diese Entscheidung das Rechtsmittelgericht oder der iudex a quo zuständig ist (Meyer-Goßner, aaO., § 302 Rn. 11a m. w. N.).
Entsprechendes gilt für den Fall, dass die Wirksamkeit der Rücknahme eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl angegriffen ist (OLG Jena aaO.). Der Einspruch nach § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO ist zwar ein Rechtsbehelf, über den im Gegensatz zu den Rechtsmitteln das Gericht, dessen Entscheidung angegriffen wurde und nicht ein Spruchkörper höherer Instanz (Devolutiveffekt) entscheidet. In beiden Fallkonstellationen bedarf es jedoch einer eindeutigen Entscheidung, ob das Strafverfahren durch ein rechtskräftiges und gegebenenfalls vollstreckbares Erkenntnis beendet ist. Damit wäre vorliegend das Amtsgericht Kirchheim berufen gewesen, sich mit der Frage der Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung und einer Fortsetzung des Strafverfahrens auseinanderzusetzen. Als Ergebnis der Prüfung hätte es entweder durch Beschluss feststellen müssen, dass der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl vom 06. August 2012 wirksam zurückgenommen ist oder anderenfalls dem Strafverfahren seinen Fortgang geben und eine Entscheidung in der Sache treffen müssen.
3. An einer eigenen Entscheidung in der Sache ist der Senat gehindert. Zwar hat das Beschwerdegericht nach § 309 Abs. 2 StPO grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden. In Rechtsprechung und Schrifttum ist jedoch anerkannt, dass in Ausnahme von dieser Regel eine Sachentscheidung dann nicht erfolgen kann, wenn anstelle des zur Entscheidung berufenen Amtsgerichts das Landgericht entschieden hat (OLG Düsseldorf NStZ-RR 1999, 307; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2004, 112, 113; Meyer-Goßner, aaO., § 309 Rn. 6). Die Sache ist daher an den zuständigen Spruchkörper zu verweisen.
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4. Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin: Sollte das Amtsgericht feststellen, dass der Einspruch des Angeklagten wirksam zurückgenommen ist, wäre dieser Beschluss nicht mit der einfachen, sondern in entsprechender Anwendung des § 411 Abs. 1 Satz 1, 2.HS StPO mit der sofortigen Beschwerde angreifbar. Diese Vorschrift trägt dem Umstand Rechnung, dass anderenfalls in den Fällen, in denen ein Einspruch durch Beschluss als unzulässig verworfen worden ist, mangels Befristung des Rechtsmittels beliebig lang in der Schwebe bliebe, ob der Strafbefehl rechtskräftig und somit taugliche Vollstreckungsgrundlage geworden ist.
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Gleiches gilt für den hier zu entscheidenden Fall. Bis zu einer Entscheidung des Rechtsmittelgerichts bliebe offen, ob der Strafbefehl vom 06. August 2012 in Rechtskraft erwachsen ist. Die damit verbundene Rechtsunsicherheit rechtfertigt es, den feststellenden Beschluss des Amtsgerichts nicht dem Rechtsmittel der einfachen sondern der sofortigen Beschwerde zu unterwerfen. Dieses Ergebnis ist auch für den vergleichbaren Fall des Streits über die Wirksamkeit einer Berufungsrücknahme anerkannt. Der feststellende Beschluss des Berufungsgerichts, wonach das Rechtsmittel erledigt sei, ist in entsprechender Anwendung des § 322 Abs. 2 StPO mit der sofortigen Beschwerde angreifbar (OLG Frankfurt NStZ 1988, 328 m. w. N.; Meyer-Goßner, aaO., § 302 Rn. 11a).
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO.

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