Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 17 UF 267/21

Tenor

1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Stuttgart vom 29.09.2021 - 26 F 1387/21 - wird

zurückgewiesen.

2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

4. Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.

Gründe

 
I.
1.
Der Antragsteller beantragt die Rückführung des beteiligten Kindes nach Polen.
Das Kind I. P., geboren am … 2018, ist aus der nichtehelichen Beziehung des Antragstellers J. P. (im Folgenden: Vater) und der Antragsgegnerin Jo. Pa. (im Folgenden: Mutter) hervorgegangen. Die Eltern lebten zumindest bis November 2019 gemeinsam mit dem Kind Ignacy in Polen zusammen. Nach der Trennung der Eltern lebte Ignacy im Haushalt der Mutter in Polen und wurde von ihr betreut und versorgt, mit dem Vater fanden Umgangskontakte statt.
Spätestens Anfang 2020 informierte die Mutter den Vater darüber, dass sie beabsichtige, mit Ignacy dauerhaft nach Deutschland zu ziehen und erbat seine Zustimmung hierzu, die der Vater jedoch nicht erteilte. Er stellte vielmehr am 25.05.2020 einen Antrag beim Amtsgericht in Opole/Polen, Az. III Nsm 433/20, auf Festlegung des Wohnortes des Kindes und von Umgangskontakten. Mit Beschluss vom 26.09.2020 hat sich das Amtsgericht Opole für das Hauptsacheverfahren für nicht örtlich zuständig erklärt und hat die Sache an das Amtsgericht Strzelce Opolskie verwiesen, wo die Akte am 01.02.2021 eingegangen ist und unter dem Aktenzeichen III Nsm 63/21 registriert wurde. Das Amtsgericht Strzelce Opolskie hat am 21.06.2021 mit den beteiligten Eltern mündlich verhandelt und anschließend ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. Ein Begutachtungstermin der Eltern und des Kindes wurde auf den 11.01.2022 bestimmt. Das in Polen anhängige Hauptsacheverfahren ist folglich noch nicht abgeschlossen.
An einem nicht bekannten Tag zwischen Montag, 06.09.2020, als der Vater Ignacy nach einem Umgangskontakt zur Mutter zurückbrachte, und Samstag, 11.09.2020, reiste die Mutter, ohne den Vater zuvor zu informieren, mit Ignacy nach Deutschland aus in der Absicht, zukünftig dauerhaft mit dem Kind dort zu leben. Am 11.09.2020 teilte sie dem Vater mit, dass sie sich mit dem gemeinsamen Kind in Trossingen, Deutschland, aufhalte. Seit der Ausreise im September 2020 bis heute lebt sie durchgängig mit Ignacy in Deutschland. Der Vater hat am 16.09.2020 vor dem Amtsgericht in Opole/Polen einen Antrag auf ein Sicherungsverfahren (entsprechend einem einstweiligen Anordnungsverfahren) gestellt, mit dem er beantragt hat,
den Wohnsitz des minderjährigen I. P. für die Dauer des Verfahrens so zu sichern, dass er jedes Mal der Wohnsitz seiner Mutter Jo. Pa. in der Republik Polen sein wird, und im Falle der Ausreise der Mutter ins Ausland der Wohnsitz des minderjährigen I. P. jedes Mal der Wohnsitz seines Vaters - J. P. - in der Republik Polen sein wird.
Mit Beschluss vom 25.09.2020 - III Nsm 433/12 - hat das Amtsgericht Opole/Polen aufgrund dieses Antrags des Vaters wie folgt entschieden:
I.
Für die Dauer des Verfahrens ist es festzulegen, dass der Wohnort des minderjährigen I. P., Sohn von J. und Jo., geboren am … 2018 in Krapkowice, jeweils der Wohnort seiner Mutter - der Verfahrensbeteiligten Jo. Pa. - ist.
II.
Im Übrigen sind die am 27.06.2020 und am 16.09.2020 vom Antragsteller eingebrachten Sicherungsanträge zurückzuweisen.
III.
Es ist festzustellen, dass der Beschluss in Punkt I vollstreckbar ist.
10 
Zur Begründung führt das Amtsgericht Opole aus, dass bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens festgestellt werde, dass der jeweilige Wohnsitz des minderjährigen I. P. der jeweilige Wohnsitz seiner Mutter sei, da die Mutter als Elternteil und ständige faktische Betreuerin des Minderjährigen bisher eine führende Rolle gespielt habe. Aus den Beweisen, die bei der Prüfung des Antrags auf Sicherungsgewährung gesammelt worden seien, gehe hervor, dass die Eltern des Minderjährigen getrennt seien und dass der Minderjährige selbst (derzeit in Deutschland) hauptsächlich unter der direkten Betreuung seiner Mutter gestanden habe und stehe. Es sei festzustellen, dass auch nach Ansicht des Vaters der Wohnsitz des Minderjährigen in der Regel der Wohnsitz seiner Mutter sein solle.
11 
Soweit der Antragsteller auch beantrage, dass für die Dauer des Verfahrens bei der Ausreise der Mutter ins Ausland der Wohnsitz beim Vater festgesetzt sein solle, könne dem Antrag auf Sicherung in diesem Teil nicht stattgegeben werden. Das Gericht nehme wahr, dass der Minderjährige weiterhin emotionale Bindungen zu beiden Elternteilen habe und dass der Vater sich bemühe, den Kontakt zum Sohn aufrechtzuerhalten, die Festsetzung von zwei verschiedenen Wohnsitzen - gemäß Art. 28 Kodeks Cywilny (polnisches Zivilgesetzbuch) im Umkehrschluss - sei (aber) unzulässig.
12 
Der Vater hat in der ersten Instanz vorgebracht, dass er von der ersten Lebensminute seines Sohnes aktiv an dessen Pflege und Erziehung teilgenommen habe. Auch nach Beendigung der Beziehung zur Kindesmutter hätten regelmäßige Umgangskontakte mit ihm stattgefunden, teilweise auch mehrere Tage hintereinander. Mit dem Verbleib des Kindes in der Bundesrepublik Deutschlands sei er weder in der Vergangenheit einverstanden gewesen noch stimme er aktuell zu. Die Mutter habe durch ihre einseitige Handlungsweise das ihm zustehende Mitsorgerecht für Ignacy gemäß Art. 3 des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (im Folgenden: HKÜ) verletzt, weshalb das Kind sofort nach Polen zurückzuführen sei. Dies entspreche dem Kindeswohl am ehesten, weil hierdurch die Kontinuität seiner Lebensbedingungen erhalten bleibe.
13 
Mit am 31.08.2021 beim Amtsgericht - Familiengericht - Stuttgart eingegangenen Schriftsatz hat der Vater durch das Bundesamt für Justiz als Verfahrensbevollmächtigten beantragt,
14 
die Mutter zu verpflichten, das Kind Ignacy innerhalb einer angemessenen Frist nach Polen zurückzuführen, und sofern die Mutter dieser Verpflichtung nicht nachkommt, die Herausgabe des Kindes an den Vater zum Zwecke der sofortigen Rückführung nach Polen herauszugeben.
15 
Die Mutter hat beantragt,
16 
die Anträge kostenpflichtig zurückzuweisen.
17 
Sie hat vorgebracht, dass sie in Deutschland imstande sei, sich und das Kind zu unterhalten. Dies sei in Polen nicht möglich gewesen. Der Vater habe kein Interesse an dem gemeinsamen Kind. Er sei zu keiner Zeit aktiv an der Pflege und Erziehung seines Sohnes beteiligt gewesen. Es hätten auch keine Umgangskontakte in dem vom Vater behaupteten Umfang stattgefunden. In Deutschland habe der Vater Ignacy noch nie besucht, obwohl sie ihn eingeladen habe. Er habe sich auch nicht um ein Treffen mit seinem Sohn bemüht, als sie sich im August 2021 in Polen aufgehalten habe.
18 
Das polnische Gericht habe festgelegt, dass Ignacy bei ihr wohnen solle, bis das psychologische Gutachten angefertigt und über das Sorgerecht entschieden worden sei. Bei dem Gerichtstermin im Juni 2021 in Polen habe ihr niemand verboten, mit Ignacy wieder nach Deutschland zu reisen, obwohl bekannt gewesen sei, dass sie seit September 2020 mit dem Kind in Deutschland wohne. Auch nach ihrem Aufenthalt in Polen im August 2021 habe man ihr die Rückreise nach Deutschland mit Ignacy nicht verwehrt.
19 
Der Vater hält an seinem Vorbringen fest, dass er nach der Trennung von der Mutter in Polen regelmäßige Besuchskontakte mit Ignacy wahrgenommen habe. Wegen Corona und aus finanziellen Gründen habe er ihn nicht in Deutschland besuchen können. Im August 2021 sei es zu keinem Kontakt mit seinem Sohn gekommen, weil die Mutter bereits nach ein paar Tagen zu 280 km entfernt lebenden Verwandten gefahren sei.
20 
Mit Beschluss vom 02.09.2021 hat das Amtsgericht dem beteiligten Kind einen Verfahrensbeistand, Frau Lorenz-Stumpfrock, bestellt und diesen sowie die Eltern des Kindes und Ignacy selbst in der mündlichen Verhandlung am 24.09.2021 persönlich angehört. Auf die Sitzungsniederschrift vom 24.09.2021 sowie den schriftlichen Bericht des Verfahrensbeistands vom 23.09.2021 wird Bezug genommen.
21 
Mit Beschluss vom 29.09.2021 hat das Amtsgericht den Antrag des Vaters auf Rückführung des Kindes Ignacy nach Polen zurückgewiesen.
22 
Seine Entscheidung hat das Amtsgericht darauf gestützt, dass einer Rückgabeanordnung der Beschluss des Amtsgerichts Opole vom 25.09.2020 entgegenstehe, da eine dennoch angeordnete Rückführung des Kindes nach Polen dieses in eine unzumutbare Lage gemäß Art. 13 Abs. 1 lit. b) 2. Alt HKÜ bringen würde.
23 
Mit dem Beschluss des Amtsgerichts Opole vom 25.09.2020 liege eine vorläufige Entscheidung eines Gerichts des polnischen Herkunftsstaates des Kindes vor, mit der dieses den Wohnort des Kindes für die Dauer des Verfahrens jeweils am Wohnort der Mutter festlege. Der Gerichtstermin am 21.06.2021 in Polen sei ebenso wenig wie ihr Aufenthalt im August 2021 in Polen dazu genutzt worden, der Mutter eine erneute Ausreise nach Deutschland mit dem Kind zu verwehren.
24 
Es sei mithin davon auszugehen, dass die Mutter bei einer nach dem HKÜ angeordneten Rückführung des Kindes nach Polen nicht gehindert wäre, mit dem Kind erneut nach Deutschland auszureisen, vielmehr hierzu aufgrund des Beschlusses vom 25.09.2020 sogar berechtigt wäre. Ein solches Hin- und Her-Verbringen des Kindes wäre nicht gerechtfertigt, zumal die Mutter in der Vergangenheit an dem laufenden polnischen Verfahren stets mitgewirkt habe und davon auszugehen sei, dass sie dies auch in Zukunft tun werde. Die Durchführung des polnischen Verfahrens und damit die Sorgerechtsentscheidung am Ort des früheren Aufenthaltes des Kindes erscheine somit - dem Ziel des HKÜ entsprechend - auch ohne Rückführung nach Polen gesichert.
25 
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Darstellung des Sachverhalts und die Begründung in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
2.
26 
Gegen diesen der erstinstanzlich beigeordneten Verfahrensbevollmächtigten am 06.10.2021 zugestellten Beschluss wendet sich der Vater mit seiner am 18.10.2021 beim Amtsgericht Stuttgart eingegangenen Beschwerde, mit der er beantragt:
27 
Ziff. 1:
28 
Dem Antragsteller und Beschwerdeführer wird Verfahrenskostenhilfe für die zweite Instanz und das Zwangsvollstreckungsverfahren unter Beiordnung von Frau K., ..., bewilligt.
29 
Ziff. 2:
30 
Der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Stuttgart vom 29.09.2021, dortiges
31 
Az.: 26 F 1387/21, wird aufgehoben.
32 
Ziff. 3:
33 
Die Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin wird verpflichtet, das Kind I. P., geboren am ... 2018, innerhalb einer angemessenen Frist nach Polen zurückzuführen.
34 
Ziff. 4:
35 
Sofern die Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin der Verpflichtung zu 3. nicht nachkommt, wird die Herausgabe des Kindes I. P., geboren am… 2018, an den Antragsteller und Beschwerdeführer zum Zwecke der sofortigen Rückführung nach Polen angeordnet.
36 
Ziff. 5:
37 
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der Zwangsvollstreckung sowie der notwendigen Aufwendungen, insbesondere für die Vertretung durch eine Rechtsanwältin, werden der Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin auferlegt.
38 
Zur Begründung trägt der Vater vor, dass er dem Umzug seines Kindes nach Deutschland nicht zugestimmt habe. Die Mutter habe keine Ersatzzustimmung des polnischen Vormundschaftsgerichts eingeholt. Ebenso wenig sei ihm das Sorgerecht für das gemeinsame Kind ganz oder in Bezug auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes entzogen worden. Demnach sei das Verbringen des Kindes von Polen nach Deutschland widerrechtlich gewesen. Ein Ausnahmetatbestand liege ebenfalls nicht vor. Nur in einem der oben genannten Fälle käme eine Ablehnung der Rückführung nach Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ in Betracht, denn nur dann könne die Mutter nach polnischem Recht ohne Einverständnis des Vaters direkt wieder mit dem gemeinsamen Kind nach Deutschland umziehen.
39 
Der Beschluss des Amtsgerichts Opole vom 25.09.2020 biete hierfür jedoch keine geeignete Grundlage. Er stelle lediglich eine Klärung der Obhutsverhältnisse dar, beinhalte jedoch keine sorgerechtliche Entscheidung. Eine solche wäre jedoch notwendig, um den Wegzug der Mutter nach Deutschland zu legitimieren. Dass das Amtsgericht Opole den Wegzug mit der getroffenen Entscheidung konkludent genehmige, könne schon wegen der Bedeutung der Angelegenheit nicht zutreffen.
b)
40 
Die Mutter verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt,
41 
die Beschwerde kostenpflichtig zurückzuweisen.
42 
Sie beruft sich darauf, dass Fakt sei, dass das Amtsgericht Opole entschieden habe, dass das Kind für die Dauer des Verfahrens (Hauptsacheverfahren) am Wohnort der Mutter verbleiben könne. Das Amtsgericht Opole habe damals gewusst, dass das Kind in Deutschland befindlich sei. Für das Gericht sei nicht von Wichtigkeit gewesen, zu welchem Zweck die Mutter mit dem Kind ausgereist sei. Diese Entscheidung eines polnischen Gerichts sei natürlich auch von einem deutschen Gericht zu akzeptieren, zumal es sich insoweit um eine vorläufige Regelung handele und das Hauptsacheverfahren noch nicht abgeschlossen sei.
43 
Zudem sei der Vater nach seinen eigenen Angaben in einer nicht so guten finanziellen Situation. Bei Abbruch ihrer jetzigen Berufsausbildung in Deutschland müsste die Mutter wieder bei ihren Eltern in Polen einziehen und hätte keine Arbeit und damit keinen Verdienst.
44 
Ein Herausreißen des Kindes aus seiner jetzigen Umgebung würde sich außerdem nicht förderlich auf die Beziehung von Ignacy zu seinem Vater auswirken.
c)
45 
Nach Ansicht des Verfahrensbeistands (Stellungnahme vom 26.11.2021) ist der Beschluss des Amtsgerichts im Sinne von Ignacy, um ihm ein Hin- und Her-Verbringen zwischen Polen und Deutschland zu ersparen. Die Beschwerde des Vaters ist aus Sicht des Verfahrensbeistands nicht nachvollziehbar (Stellungnahme vom 26.11.2021, S. 2).
46 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten in beiden Instanzen wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
1.
47 
Die Beschwerde des Vaters, vertreten durch das Bundesamt für Justiz, ist gemäß § 40 Abs. 2 Satz 1 IntFamRVG, § 58 Abs. 1 FamFG statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgemäß eingelegt und begründet worden (§ 40 Abs. 2 Satz 2 IntFamRVG).
48 
Nach §§ 3, 6 Abs. 2 IntFamRVG gilt das Bundesamt für Justiz als Zentrale Behörde als bevollmächtigt, im Namen des Antragstellers und Beschwerdeführers tätig zu werden.
2.
49 
In der Sache hat die Beschwerde jedoch keinen Erfolg.
50 
Das Amtsgericht hat zu Recht und mit zutreffender Begründung den auf Art. 12 Abs. 1, Art. 3 HKÜ, Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 vom 27.11.2003 (im Folgenden: Brüssel Ila-Vo) gestützten Antrag des Vaters auf Rückführung des Kindes Ignacy nach Polen zurückgewiesen. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.
51 
Auch der Verfahrensbeistand hat in seiner Stellungnahme im Beschwerdeverfahren vom
52 
26.11.2021 die Aufrechterhaltung des angefochtenen Beschlusses befürwortet.
a)
53 
Polen ist wie Deutschland Mitgliedstaat des HKÜ. Das am 02.11.2018 geborene Kind Ignacy hat das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet (Art. 4 Satz 2 HKÜ).
b)
54 
Indem die Mutter eigenmächtig mit dem gemeinsamen Kind Ignacy, das seit seiner Geburt bis September 2020 in Polen lebte und damit seinen gewöhnlichen Aufenthalt unstreitig in Polen hatte, nach Deutschland umgezogen ist, hat die Mutter das Mitsorgerecht des Vaters widerrechtlich verletzt.
aa)
55 
Das Amtsgericht weist zutreffend darauf hin, dass für die Beurteilung der Verletzung des Mitsorgerechts maßgebend auf das Recht desjenigen Staates abzustellen ist, in dem sich das Kind vor der Sorgerechtsverletzung (zuletzt) gewöhnlich aufgehalten hat. Damit ist auf Art. 93 § 1 des polnischen Familien- und Vormundschaftsgesetzbuchs vom 25.02.1964 (im Folgenden: FVGB) abzustellen, wonach sowohl bei verheirateten als auch bei nicht verheirateten Eltern die elterliche Sorge von beiden Elternteilen ausgeübt wird. Nach Art. 97 § 2 FVGB haben die Eltern in wesentlichen Angelegenheiten des Kindes gemeinsam zu entscheiden (so auch Beschluss des Amtsgerichts Opole vom 25.09.2020). Zu diesen von den Eltern gemeinsam zu entscheidenden wesentlichen Angelegenheiten gehört auch die Entscheidung über die Ausreise des Kindes ins Ausland, sowohl für einen dauerhaften als auch für einen vorübergehenden Aufenthalt (vgl. Beschluss des Amtsgerichts Opole vom 25.09.2020).
bb)
56 
Der Vater hat dieses Mitsorgerecht für seinen Sohn auch tatsächlich ausgeübt (Art. 3 Satz 1 lit. b HKÜ).
57 
An die tatsächliche Ausübung der elterlichen Sorge werden keine allzu hohen Anforderungen gestellt, wie das Amtsgericht zutreffend ausführt (Hausmann, Internationales und Europäisches Familienrecht, 2. A., U Rn. 117). Es genügt, wenn der andere Elternteil einen Mindestkontakt im Umfang eines Umgangsrechts zu seinem Kind aufrechterhält und hinsichtlich der für die Erziehung und Ausbildung des Kindes wichtigen Entscheidungen von seinem Mitspracherecht Gebrauch macht. Es genügt also, wenn er das Kind hin und wieder besucht oder anruft, aber seinen dauerhaften Umzug ins Ausland ablehnt (Hausmann, a.a.O., U Rn. 117).
58 
Vorliegend hatte der Vater vor der Ausreise der Mutter mit Ignacy nach Deutschland unstreitig hin und wieder Umgangskontakte mit seinem Sohn, zuletzt am 06.09.2020. Er hat sich auch gegen den von der Mutter beabsichtigten Umzug nach Deutschland ausgesprochen, so dass das Amtsgericht die tatsächliche Ausübung der elterlichen Sorge durch ihn zu Recht bejaht hat.
cc)
59 
Durch das eigenmächtige Verbringen des Kindes Ignacy durch die Mutter nach Deutschland wurde die Mitentscheidungsbefugnis des Vaters über die Ausreise des gemeinsamen Kindes ins Ausland verletzt, was im vorliegenden Zusammenhang ausreichend ist (Hausmann, a.a.O., U Rn. 94,141).
dd)
60 
Die Widerrechtlichkeit des Verbringens ist durch Ziff. I der Entscheidungsformel des Beschlusses des Amtsgerichts Opole vom 25.09.2020, durch die für die Dauer des polnischen Hauptsacheverfahrens zur Regelung des Sorgerechts für Ignacy festgelegt wurde, dass der Wohnort des Kindes Ignacy jeweils der Wohnort seiner Mutter ist, nicht entfallen. Davon ist bereits deshalb auszugehen, weil für die Feststellung der Widerrechtlichkeit im Sinne des Art. 3 HKÜ auf den Zeitpunkt des Verbringens des Kindes abzustellen ist (OLG Stuttgart, FamRZ 2015, 1631, juris, Rn. 35; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.12.2014 - 2 UF 266/14 -, juris, Rn. 46). Der Zeitpunkt des Verbringens liegt vorliegend zwischen dem 06.09.2020 und dem 11.09.2020, also vor dem Erlass des Beschlusses des Amtsgerichts Opole vom 25.09.2020.
ee)
61 
Der Vater hat seinen Rückführungsantrag schließlich innerhalb der Jahresfrist des Art. 12 Abs. 1 HKÜ seit dem widerrechtlichen Verbringen des Kindes durch die Mutter nach Deutschland, das frühestens am 07.09.2020 erfolgte, gestellt, nämlich am 31.08.2021 (Eingang des Antragsschriftsatzes bei dem Amtsgericht Stuttgart).
b)
62 
Der Vater weist in der Beschwerdebegründung zutreffend darauf hin, dass er als (mit-)sorgeberechtigte Person der Verbringung des Kindes nach Deutschland zu keinem Zeitpunkt zugestimmt oder diese nachträglich genehmigt habe (Art. 13 Abs. 1 lit. a HKÜ). Dem Amtsgericht ist darin zu folgen, dass er - auch durch seine Anträge an die polnischen Gerichte - durchgängig deutlich gemacht hat, dass er mit dem (dauerhaften) Aufenthalt von Ignacy in Deutschland nicht einverstanden ist.
c)
63 
Es ist nicht festzustellen, dass die Rückführung des gemeinsamen Kindes nach Polen mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens verbunden wäre (Art. 13 Abs. 1 lit. b 1. Alt. HKÜ). Insbesondere wurde bei der Kindesanhörung Ignacys durch das Amtsgericht deutlich, dass er trotz der langen Kontaktunterbrechung seit September 2020 eine Bindung zu seinem Vater hat und sich gefreut hat, ihn zu sehen.
d)
64 
Einer Anordnung der sofortigen Rückführung des Kindes Ignacy nach Polen steht jedoch der Beschluss des Amtsgerichts Opole vom 25.09.2020 - III Nsm 433/20 - entgegen. Eine gleichwohl angeordnete Rückführung Ignacys nach Polen würde das Kind in eine unzumutbare Lage bringen (Art. 13 Abs. 1 lit. b 2. Alt. HKÜ). Auf die zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts wird verwiesen.
aa)
65 
Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung steht eine vorläufig vollstreckbare Entscheidung eines Gerichts des Herkunftsstaates des Kindes, mit der dieses den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes am Wohnsitz des entführenden Elternteils festgelegt hat, einer Rückgabeanordnung entgegen, da sie das Kind gemäß Art. 13 Abs. 1 lit. b 2. Alt. HKÜ in eine unzumutbare Lage bringen würde (OLG Stuttgart, FamRZ 2015, 1631, juris Rn. 39; OLG Stuttgart, FamRZ 2003, 959, juris Rn. 19; OLG Karlsruhe, FamRZ 2015, 1627, juris Rn. 57). Aufgrund einer solchen Entscheidung hätte der entführende Elternteil jederzeit die Möglichkeit, das Kind nach einer Rückführung in den Herkunftsstaat wieder zu sich nach Deutschland zu nehmen. Ein solches Hin- und Her-Verbringen des Kindes ist auch durch den präventiven Zweck des HKÜ nicht zu rechtfertigen: das Kind würde als bloßes Streitobjekt ohne Rücksicht auf seine Bedürfnisse behandelt und somit durch eine Rückgabeanordnung in eine gemäß Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ unzumutbare Lage gebracht werden (OLG Stuttgart, FamRZ 2015,1631, juris, Rn. 39; OLG Stuttgart, FamRZ 2003, 959, juris, Rn. 19; OLG Karlsruhe, FamRZ 2015, 1627, juris, Rn. 57).
bb)
66 
Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht Opole in Ziff. I der Entscheidungsformel des Beschlusses vom 25.09.2020 - III Nsm 433/20 - festgelegt, dass für die Dauer des Verfahrens der Wohnort des Kindes Ignacy jeweils der Wohnort seiner Mutter ist. Mit der „Dauer des Verfahrens“ ist die Dauer des vor dem Amtsgericht Strzelce Opolskie anhängigen Hauptsacheverfahrens, Az.: III Nsm 63/21, zur Bestimmung des Wohnsitzes des Kindes Ignacy gemeint, wie sich aus den Gesamtumständen und der Begründung des Beschlusses des Amtsgerichts Opole vom 25.09.2020 ergibt. Das Hauptsacheverfahren ist noch nicht abgeschlossen: Ein Termin zur Fachuntersuchung bei dem gerichtlichen Begutachterteam ist auf den 11.01.2022 um 8.30 Uhr festgesetzt worden.
67 
Die vorläufige Festlegung des Wohnsitzes des Kindes am jeweiligen Wohnsitz der Mutter wurde nachvollziehbar damit begründet, dass die Mutter als Elternteil und ständige faktische Betreuerin des Minderjährigen bisher eine führende Rolle gespielt habe. Sie spiele die Hauptrolle im Leben des Kindes, indem sie sich um das Kind kümmere und seine täglichen Bedürfnisse sichere, was der Vater nicht in Frage gestellt habe.
68 
Damit hat das zuständige Gericht in Polen bereits eine - wenn auch vorläufige - Entscheidung über den Aufenthalt des Kindes Ignacy am Wohnsitz der Mutter getroffen. Zwar ergibt sich aus den Erläuterungen des Amtsgerichts in Opole gegenüber dem polnischen Justizministerium vom 13.09.2021, dass die einstweilige Entscheidung vom 25.09.2020 den Wohnort des Kindes nicht konkret, sondern nur dem Grunde nach regele. Da der Wohnsitz des Kindes aber nach der getroffenen Entscheidung dem Wohnsitz der Mutter entspricht, ist die Regelung dennoch ausreichend bestimmt. Gemäß Ziff. III der Entscheidungsformel des Beschlusses des Amtsgerichts Opole vom 25.09.2020 ist die Ziff. I der Entscheidungsformel des Beschlusses vom 25.09.2020 auch vollstreckbar.
69 
Dass es sich nur um eine vorläufige Entscheidung handelt, steht der Berücksichtigung des Beschlusses nicht entgegen (OLG Stuttgart, FamRZ 2015,1631, juris Rn. 39). Mit der Entscheidung vom 25.09.20 hat das Amtsgericht Opole zwar keine Entscheidung bezüglich der Zustimmung des Familiengerichts zur Ausreise des Kindes ins Ausland zwecks dauerhaften Aufenthalts getroffen (vgl. Erläuterungen des Amtsgerichts Opole gegenüber dem Justizministerium vom 13.09.2021), worauf der Vater in seiner Beschwerdebegründung zu Recht hinweist. Allerdings kommt es hierauf auch nicht an. Das Amtsgericht Opole hat nämlich durch die uneingeschränkte Anknüpfung des Wohnsitzes des Kindes an den Wohnsitz der Mutter zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht, dass es eine Rückführung des gegenwärtig mit der Mutter in Deutschland befindlichen Kindes nach Polen bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht für geboten erachte.
70 
Dass die Entscheidung des Amtsgerichts Opole so auszulegen ist, zeigt sich deutlich darin, dass bei dem Gerichtstermin im Juni 2021 in Polen das Amtsgericht Opole der Mutter nicht untersagt hat, mit Ignacy wieder auszureisen, obwohl dort bekannt war, dass sie sich inzwischen gegen den Willen des Vaters mit dem Kind in Deutschland aufhält, wie sich aus den Entscheidungsgründen des Beschlusses vom 25.09.2020 unmissverständlich ergibt. Auch nach ihrem Aufenthalt in Polen im August 2021 wurde ihr die Rückreise nach Deutschland mit Ignacy nicht verwehrt.
71 
Aufgrund dieser vollstreckbaren vorläufigen Entscheidung hätte die Mutter während der Dauer des Hauptsacheverfahrens jederzeit die Möglichkeit, den Sohn Ignacy nach einer Rückführung nach Polen wieder zu sich zu nehmen und erneut mit ihm nach Deutschland auszureisen. Dieses kindeswohlschädliche Hin- und Her-Verbringen muss vermieden werden, wie das Amtsgericht zu Recht entschieden hat.
72 
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte kommt eine Rückführung Ignacys nach Polen auch nach der Auffassung des Senats nicht in Betracht, weshalb die Beschwerde des Vaters als unbegründet zurückzuweisen ist.
III.
73 
Der Senat hat von einer nochmaligen Anhörung der Beteiligten im Beschwerdeverfahren gemäß § 14 IntFamRVG in Verbindung mit § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG abgesehen. In erster Instanz wurden sämtliche Verfahrenshandlungen ordnungsgemäß durchgeführt, alle notwendigen Anhörungen wurden vorgenommen und es finden sich aussagekräftige Vermerke in der Akte. Im Beschwerdeverfahren hatten die Beteiligten hinreichend Gelegenheit, nochmals schriftsätzlich Stellung zu nehmen.
IV.
74 
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt aus § 84 FamFG in Verbindung mit § 14 Nr. 2 IntFamRVG. Es besteht unter den Umständen des vorliegenden Falles kein Anlass, von dem Grundsatz abzuweichen, dass der Beteiligte die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels tragen „soll“, der es eingelegt hat.
V.
75 
Die Festsetzung des Verfahrenswerts erfolgt gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 FamGKG.
VI.
76 
Nach § 40 Abs. 2 Satz 4 IntFamRVG findet die Rechtsbeschwerde gegen den vorliegenden Beschluss nicht statt.
VII.
77 
Die Entscheidung über den Verfahrenskostenhilfeantrag des Vaters beruht auf § 76 Abs. 1 FamFG, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Nach den obigen Ausführungen hat seine Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg.

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