Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 Bs 159/15

Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen Ziffer 1 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 1. Juli 2015 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren sowie – insoweit unter Abänderung von Ziffer 2 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 1. Juli 2015 – auch für das erstinstanzliche Verfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Antragstellerin, eine ghanaische Staatsangehörige, begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen eine nach § 15a Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 AufenthG ergangene und inzwischen vollzogene Verteilungsentscheidung. Sie macht geltend, sie habe im April 2015 ein Kind geboren, dessen Vater ein anderweitig verheirateter deutscher Staatsangehöriger sei; dieser habe die Vaterschaft anerkannt und zusammen mit ihr eine Erklärung über die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge für das Kind abgegeben. Sie, die Antragstellerin, bestimme, dass das Kind in Hamburg wohnen solle; das Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit unterliege keinen ausländerrechtlichen Regelungen. Sie könne in der Folge nicht gezwungen werden, ohne ihr Kind in ein anderes Bundesland zu gehen.

2

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Verteilungsentscheidung abgelehnt und u.a. ausgeführt, die vorgetragene Bindung des Kindes an den in Hamburg lebenden Vater stelle vorliegend keinen zwingenden Grund dar, von der Verteilung der Antragstellerin in ein anderes Bundesland abzusehen. Auch die deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes beeinträchtige nicht die Möglichkeit der Antragsgegnerin, ausländerrechtliche Maßnahmen gegenüber der Antragstellerin zu ergreifen.

II.

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Die gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts gerichtete zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Die von der Antragstellerin mit der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung das Beschwerdegericht vorliegend gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, sind nicht geeignet, die Begründung des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts zu erschüttern. Sie rechtfertigen daher nicht, diesen abzuändern.

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1.  Die Antragstellerin setzt den Ausführungen des Verwaltungsgerichts, es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass eine tatsächliche familiäre Bindung zwischen dem Kind und dem Kindsvater bestehe oder aufgebaut werden solle, entgegen, der Vater habe gemäß § 1684 Abs. 1 BGB ein Recht zum Umgang mit dem Kind. Hieraus folge auch ein Recht des Kindes, seinen Vater zu erleben. Der Antragstellerin sei daher die örtliche Nähe zum Kindsvater zu gewährleisten, damit sie die Möglichkeit habe, das Kind an eine enge Vater-Kind-Beziehung heranzuführen. Besuche des Kindsvaters in Mecklenburg-Vorpommern, zumal absehbar im Osten dieses Bundeslandes, seien hierfür nicht ausreichend.

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Dieses Vorbringen erschüttert die verwaltungsgerichtliche Entscheidung nicht. Entscheidend für die ausländerrechtliche Schutzwirkung von Art. 6 GG – und damit einen möglichen zwingenden Grund i.S.v. § 15a Abs.1 Satz 6 AufenthG – ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist (BVerfG, Kammerbeschl v. 10.5.2008, 2 BvR 588/08, InfAuslR 2008, 347, juris Rn. 12 m.w.N.). Gemäß § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG sind dabei die Erkenntnisse maßgeblich, die spätestens am 18. Mai 2015, dem Tag des Erlasses der Verteilungsentscheidung, vorlagen (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 26.11.2014, 1 Bs 218/14, Beschl. v. 17.2.2015, 1 Bs 31/15). Auf diesen Zeitpunkt bezogen – erkennbar insbesondere durch die Bezugnahme auf die Angaben der Antragstellerin in der Anhörung vom 18. Mai 2015 – hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass eine tatsächliche familiäre Bindung zwischen dem Kind und dem Kindsvater bestehe oder aufgebaut werden solle. Die Antragstellerin habe selbst angegeben, dass der Vater zwar Unterhalt für seinen Sohn leiste, sich aber ansonsten nicht um ihn kümmere. Diesen Ausführungen setzt die Antragstellerin in tatsächlicher Hinsicht nichts entgegen und zieht sie daher als solche nicht in Zweifel.

6

Sollten sich nach dem maßgeblichen Zeitpunkt Veränderungen ergeben haben bzw. künftig ergeben, die im Lichte von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG neu zu bewerten wären, stünde es der Antragstellerin im Übrigen frei, einen Antrag gemäß § 15a Abs. 5 AufenthG zu stellen, ihre Wohnung in Hamburg nehmen zu dürfen.

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Auf die Frage, ob unter den derzeit gegebenen räumlichen Umständen Umgangskontakte zwischen Vater und Kind realistischerweise überhaupt möglich sind, kommt es daher für die Entscheidung über die Beschwerde nicht an.

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2.  Die Antragstellerin bringt weiter vor, ihr Kind habe die deutsche Staatsangehörigkeit, weshalb ihm keine Wohnsitzauflagen gemacht werden könnten. Sie übe ihr Aufenthaltsbestimmungsrecht in Bezug auf das Kind "für Hamburg" aus, ohne dass es hierfür einer Rechtfertigung bedürfe; infolge dessen müsse gemäß § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG auch ihr eigener Aufenthalt in Hamburg liegen.

9

Auch dieser Vortrag zieht die tragenden Erwägungen des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses nicht in Zweifel. Danach gebe das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Antragstellerin kein Recht, abstrakt Hamburg als Aufenthaltsort für ihren Sohn zu bestimmen; soweit sie das Aufenthaltsbestimmungsrecht dahin ausübe, dass ihr Sohn bei ihr leben solle, könne sie aus den familienrechtlichen Vorschriften kein weitergehendes Recht für sich ableiten, sich an einem bestimmten Ort innerhalb Deutschlands aufzuhalten. Es mag dahinstehen, ob sich das Vorbringen der Antragstellerin mit diesen Ausführungen des Verwaltungsgerichts im Sinn von § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO überhaupt ausreichend auseinander setzt. Denn die Argumentation der Antragstellerin trifft jedenfalls im Ergebnis nicht zu.

10

Die Antragstellerin argumentiert mit dem Aufenthaltsbestimmungsrecht (§ 1631 Abs. 1 BGB). Hiermit wird der Kern der hier einschlägigen rechtlichen Problematik jedoch nicht getroffen. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht ist nämlich zu unterscheiden von der Wohnsitzbestimmung des § 11 BGB (vgl. Palandt/Götz, BGB, 74. Aufl. 2015, § 1631 Rn. 4). Nach § 11 Satz 1 BGB teilt ein minderjähriges Kind den Wohnsitz der Eltern. Bei gemeinsamer Personensorge getrennt lebender Eltern hat das Kind grundsätzlich bis zu einer etwaigen Entscheidung nach § 1671 BGB einen Doppelwohnsitz. Sind sich bei gemeinsamer Personensorge beide Elternteile darüber einig, dass das Kind auf Dauer bei einem Elternteil bleiben soll, hat das Kind nur bei diesem seinen Wohnsitz (Palandt/Ellenberger, a.a.O., § 11 Rn. 3 m.w.N.). Von einem solchen Fall wird vorliegend auszugehen sein: Nach den Angaben der Antragstellerin bei ihrer Anhörung am 18. Mai 2015 ist der Vater ihres Kindes anderweitig verheiratet und lebt mit seiner Ehefrau zusammen; außer der Zahlung von Kindesunterhalt kümmere er sich nicht um das Kind. Angesichts dessen liegt die Annahme fern, es entspreche dem Willen des Vaters, dass das Kind auch bei ihm einen Wohnsitz habe. Somit kommt es darauf an, wo die Antragstellerin ihren Wohnsitz begründet. Hierin ist sie aber aufenthaltsrechtlich nicht frei, sondern unterliegt zulässigerweise der aufenthaltsrechtlichen Verteilungsregelung des § 15a Abs. 1 AufenthG. Danach darf sie jedenfalls derzeit ihren Wohnsitz nicht in Hamburg begründen bzw. beibehalten. Der gegenteiligen Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Bremen (Beschl. v. 8.3.2013, 1 B 13/13, InfAuslR 2013, 250, juris Rn. 3 ff.), in der auf die obigen Erwägungen allerdings nicht eingegangen wird, kann sich der Senat nicht anschließen. Nur am Rande sei angemerkt, dass in bestimmten Fallgestaltungen weder ein gefestigtes Aufenthaltsrecht noch selbst die deutsche Staatsangehörigkeit eines Familienangehörigen es ausschließen, dass dem Familienmitglied ein vorübergehendes oder sogar dauerhaftes Verlassen des Bundesgebiets zumutbar ist (vgl. nur das Patchworkfamilien-Urteil des BVerwG v. 30.7.2013, 1 C 15.12, BVerwGE 147, 278).

III.

11

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

12

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG sowie hinsichtlich der Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Das Verwaltungsgericht hat sich bei der Streitwertfestsetzung im Ausgangspunkt am Vorschlag des Streitwertkatalogs für einen Rechtsstreit um eine Abschiebung (halber Auffangwert) orientiert und diesen Betrag halbiert, weil einer Verteilung innerhalb des Bundesgebiets eine deutlich geringere Bedeutung als einer Abschiebung ins Ausland zukomme. Von einer Halbierung des Streitwerts für das vorläufige Rechtsschutzverfahren hat das Verwaltungsgericht abgesehen, da die Entscheidung in ihrer Wirkung einer Vorwegnahme der Hauptsache gleichkomme.

13

Dem kann sich das Beschwerdegericht nicht anschließen. Die Verteilungsentscheidung nach § 15a AufenthG kann wertmäßig nicht in ein nachvollziehbares Verhältnis zu einer Abschiebung z.B. in das Herkunftsland eines Ausländers gesetzt werden. Mangels anderweitiger Anhaltspunkte für eine Bestimmung des (Hauptsache-)Streitwerts hält der Senat es für sachgerecht, bei Streitigkeiten nach § 15a AufenthG den Auffangwert von 5.000 Euro (§ 52 Abs. 2 GKG) zugrunde zu legen; dies entspricht, soweit ersichtlich, auch der überwiegenden Festsetzungspraxis des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. Beschlüsse v. 17.2.2015, 1 Bs 31/15; v. 26.11.2014, 1 Bs 31/15; v. 27.3.2009, 2 Bs 19/09; v. 23.4.2007, 3 Bs 243/06; v. 17.8.2011, 4 Bs 121/11; v. 11.9.2012, 4 Bs 184/12; v. 23.6.2010, 5 Bs 117/10; a.A. Beschl. v. 12.7.2010, 2 Bs 109/10). Die begehrte Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutzantrag nimmt die Hauptsache nicht vorweg. Das nach § 53 Abs. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG zu bestimmende Interesse des Antragstellers ist nach dem erstrebten Ziel, nicht aber nach dem Ergebnis des Rechtsstreits zu bemessen (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 10.6.2014, IÖD 2014, 216, juris Rn. 6). Zudem könnte die Verteilungsentscheidung im Hauptsacheverfahren immer noch aufgehoben werden.

14

Eine Erhöhung des Streitwerts wegen der erstinstanzlich auch beantragten Verpflichtung der Antragsgegnerin, der Antragstellerin eine Duldung zu erteilen, ist hier nicht angezeigt. Der Antrag dürfte nur für den Fall gestellt worden sein, dass der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Verteilungsentscheidung Erfolg hat, was nicht der Fall war.

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