Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 Bs 177/15
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 3. August 2015 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller vorläufig, bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, im Schuljahr 2015/2016 in eine 1. Klasse der Schule Trenknerweg aufzunehmen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
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Der Antragsteller begehrt, zum Beginn des Schuljahres 2015/2016 in eine 1. Klasse der Schule Trenknerweg aufgenommen zu werden, die für ihn bei der Anmeldung zur Einschulung als Erstwunsch angegeben worden war. Grund hierfür ist der Umstand, dass der Antragsteller zusammen mit seinem Zwillingsbruder (siehe Verfahren 1 Bs 178/15) bei seinen voneinander geschiedenen Elternteilen zu gleichen Teilen im Rahmen des paritätischen Wechselmodells lebt und die Schule Trenknerweg von beiden Wohnungen etwa gleich weit entfernt liegt. Entgegen diesem Wunsch wurde er der Loki-Schmidt-Schule zugewiesen. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat er am 13. Juli 2015 Klage erhoben (Verfahren 4 K 3942/15) und am 15. Juli 2015 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht abgelehnt. Die gesetzliche Regelaufnahmekapazität der Schule Trenknerweg sei erschöpft; die Antragsgegnerin habe ermessensfehlerfrei entschieden, den Antragsteller nicht in die an erster Stelle gewünschte Schule aufzunehmen.
II.
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Die zulässige Beschwerde des Antragstellers hat in der Sache Erfolg.
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Der Antragsteller hat ausreichend dargelegt (vgl. § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO) und mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), dass ihm ein Anspruch auf Aufnahme in eine 1. Klasse der Grundschule Trenknerweg zum Schuljahr 2015/2016 zusteht (1.) und ein Anordnungsgrund (2.) vorliegt.
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1. Dem Antragsteller steht bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen, aber auch hinreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nach § 1 Satz 4 i.V.m. § 42 Abs. 7 HmbSG voraussichtlich ein Anspruch auf Aufnahme in eine 1. Klasse der Schule Trenknerweg zu. Zwar ist es aller Voraussicht nach fehlerfrei, den Antragsteller nicht vorrangig unter dem Kriterium des Härtefalls in die gewünschte Schule aufzunehmen (1.1.). Indes beruht die Annahme der Antragsgegnerin, die Kapazität der Schule sei ausgeschöpft, mit erheblicher Wahrscheinlichkeit auf einer fehlerhaften Aufnahme eines anderen Kindes (1.2.). Hierauf kann sich der Antragsteller mit Erfolg berufen (1.3.).
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§ 1 Satz 4 i.V.m. § 42 Abs. 7 HmbSG begründet einen individuellen Anspruch darauf, dass ein Kind innerhalb der bestehenden Kapazitäten in die gewünschte Schule aufgenommen wird. Das subjektive Recht auf Teilhabe an der schulischen Bildung ist dabei auf die Teilnahme an dem vorhandenen Schulwesen beschränkt. Sind die bestehenden Kapazitäten nicht hinreichend, um alle Schulbewerber aufzunehmen, so kann beansprucht werden, dass über die Aufnahme nach § 42 Abs. 7 HmbSG in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermessensfehlerfrei entschieden wird (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 17.7. 2013, 1 Bs 213/13, juris Rn. 5 m.w.N.).
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1.1. Der Antragsteller hätte mit seinem in den Vordergrund gerückten Begehren, aufgrund seiner individuellen Lebensumstände als Härtefall vorrangig vor den in § 42 Abs. 7 Satz 3 HmbSG geregelten gesetzlichen Kriterien auf die Schule Trenknerweg aufgenommen zu werden, auch im Beschwerdeverfahren keinen Erfolg gehabt. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, das in § 42 Abs. 7 HmbSG nicht aufgeführte Kriterium des Härtefalls unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit auch gegenüber den gesetzlich benannten Auswahlkriterien – geäußerte Wünsche, altersangemessene Schulwege, mögliche gemeinsame Beschulung von Geschwistern – vorrangig bei der Zuweisung zur Wunschschule zu berücksichtigen. Eine derartige Berücksichtigung kommt aber nur ausnahmsweise und nur unter Anlegung strenger Maßstäbe in Betracht, wenn wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls die Zuweisung zu einer anderen als der gewünschten Schule zu unzumutbaren Konsequenzen für die Betroffenen führen würde (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 22.8.2011, 1 Bs 157/11, juris Rn. 3). Diese Voraussetzungen vermag das Beschwerdegericht auch in Würdigung des Beschwerdevorbringens nicht zu erkennen.
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Das beim Antragsteller und seinem Zwillingsbruder vorliegende paritätische Wechselmodell, bei dem ein Kind jeweils 3 ½ Tage in der Woche bei beiden getrennt lebenden Elternteilen wohnt, dürfte schon nicht so selten sein, wie es der Antragsteller behauptet. Ungewöhnlich mag allenfalls sein, dass es wie im vorliegenden Fall eine Schule gibt, die in jeweils zumutbarer Entfernung etwa gleich weit von beiden Wohnungen entfernt liegt. Nach § 11 Satz 1 BGB teilt ein minderjähriges Kind – unabhängig von melderechtlichen Vorschriften – den Wohnsitz der Eltern. Bei gemeinsamer Personensorge getrennt lebender Eltern hat das Kind grundsätzlich bis zu einer etwaigen Entscheidung nach § 1671 BGB einen Doppelwohnsitz (vgl. Palandt/Ellenberger, BGB, 74. Aufl. 2015, § 11 Rn. 3). Demzufolge ist minderjährigen Kindern die Entscheidung der Eltern für das Wechselmodell durchaus wie eine "freiwillige" Entscheidung zuzurechnen. Auch im Beschwerdeverfahren wurde nicht nachvollziehbar begründet, dass es geradezu zwingend zu gravierenden Ungleichgewichten beim Knüpfen sozialer Kontakte kommen werde, wenn eine Schule besucht werden müsse, die anders als die Schule Trenknerweg nicht mittig zwischen den beiden Wohnungen liegt, und dass diese etwaige Konsequenz unzumutbar wäre. Das Problem, zwei Schulwege erlernen zu müssen, ist die notwendige Folge des im oben genannten Sinne selbst gewählten Wechselmodells; es ergibt sich zudem auch bei der Wunschschule. Dass es dem Antragsteller gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder nicht gelingen sollte, in angemessener Zeit – zunächst sicher unter Anleitung, wie dies bei fast allen anderen Schulanfängern auch der Fall ist – beide für sich genommen zumutbare Schulwege zur zugewiesenen Schule (Loki-Schmidt-Schule) zu bewältigen, ist nicht nachvollziehbar dargelegt worden. In einer Großstadt müssen sehr viele Schulkinder verkehrsreiche Kreuzungen überqueren.
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Dies alles bedarf aber keiner eingehenderen Begründung, da die Beschwerde aus anderen Gründen Erfolg hat.
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1.2. Es lässt sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht mit ausreichender Gewissheit feststellen, dass die Kapazität der Schule Trenknerweg in rechtmäßiger Weise erschöpft ist. Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 3 HmbSG darf die Schülerzahl in Grundschulklassen grundsätzlich 23 nicht überschreiten. In die vier ersten Klassen der Schule Trenknerweg sind im Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts insgesamt 92 Kinder aufgenommen worden.
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a) Aus der von der Antragsgegnerin im Klageverfahren vorgelegten Schülerliste der Schule Trenknerweg resultieren keine Zweifel daran, dass bis zur Entscheidung über die vorliegende Beschwerde 92 Kinder aufgenommen worden sind. Die Liste zeigt erkennbar einen Stand, der deutlich nach der Verteilungskonferenz liegt. Das Kreuz in Spalte 15 ("Aufnahme in der eigenen Schule") ist bei den Schülern mit den Nummern 1-82, 84-91 und 104 gemacht (= 91 Schüler). Die Schüler Nr. 83 und 92 sind ausweislich Spalte 16 nach der Verteilerkonferenz an Privatschulen aufgenommen worden. Das heißt, dass die Verteilerkonferenz die Schüler 1-92 und 104 (= 93 Kinder) berücksichtigt hatte, wobei das Kind Nr. 104 auf der Grundlage von § 87 Abs. 1 Satz 4 HmbSG der Schule Trenknerweg zugewiesen wurde. Nach dem "Wegfall" der Kinder Nr. 83 und 92 ist noch das Kind Nr. 94 (nicht Nr. 93) nachträglich berücksichtigt worden ("Nachrücker); hier fehlt in der Schülerliste lediglich das Kreuz in Spalte 15. Das Kind Nr. 93 hatte keinen Widerspruch eingelegt (s. Spalte 17), so dass es der nicht zu beanstandenden Praxis der Antragsgegnerin entsprach, als nächstes das Kind Nr. 94 nachrücken zu lassen.
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b) Ohne Erfolg wendet sich der Antragsteller gegen die Berücksichtigung der Kinder Nr. 1 und 2, die als Härtefälle vorrangig in die Schule Trenknerweg aufgenommen worden sind.
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Da das Kind Nr. 1 einen deutlich kürzeren Schulweg zur Schule Trenknerweg hat als der Antragsteller, gleichgültig, ob der Weg von der Wohnung seiner Mutter oder der seines Vaters berechnet wird, wäre dieses Kind ihm auch dann vorzuziehen gewesen, wenn es nicht als Härtefall anerkannt und nur nach den Maßstäben der Schulweglänge betrachtet worden wäre.
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Die Angaben, die die Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren hinsichtlich des Kindes Nr. 2 nachgereicht hat (Anlage zum Schriftsatz vom 27.8.2015), erscheinen nach den Maßstäben des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens ausreichend, einen Härtefall zu bejahen. Dabei spielte der Besuch der Vorschulklasse an der Schule Trenknerweg durch dieses Kind nicht die ausschlaggebende Rolle; dieses Kriterium dürfte in der Tat nach der Herausnahme aus § 42 Abs. 7 Satz 3 HmbSG durch das Änderungsgesetz vom 28. Januar 2014 (HmbGVBl. S. 37) nicht mehr ausschlaggebend berücksichtigt werden. Entscheidend waren hier vielmehr die offenbar gesondert dokumentierte Entwicklungsverzögerung und die Unsicherheit des Kindes, die bereits zu einer Zurückstellung vom Schulbesuch geführt hatten; die inzwischen erreichten Fortschritte würden bei einem Wechsel des Schulorts und einem Verlassenmüssen der vertrauten Gruppe verstärkt und die positiven Ansätze würden zunichte gemacht. Diese Umstände dürften über die Verhältnisse, die dem vom Antragsteller zitierten Beschluss des Beschwerdegerichts vom 30. September 2011 (1 Bs 167/11) zugrunde lagen, deutlich hinausgehen.
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c) Die Antragsgegnerin hat jedoch nicht belegen können, dass das Kind Nr. 104 rechtmäßigerweise gemäß § 87 Abs. 1 Satz 4 HmbSG der Schule Trenknerweg zugewiesen worden ist. Da nach dem Ausscheiden der beiden Kinder Nr. 83 und 92, die eine Privatschule besuchen werden, nur ein (1) weiteres Kind als Nachrücker der Schule Trenknerweg zugewiesen wurde, wäre, wenn das Kind Nr. 104 "hinweggedacht" würde, die Kapazität der Schule (4 x 23 Schüler gemäß § 87 Abs. 1 Satz 3 HmbSG) noch nicht erschöpft; ohne das Kind Nr. 104 sind der Schule bislang letztlich nur 91 Kinder zugewiesen. Ob nach dem Ausscheiden der beiden Kinder Nr. 83 und 92 (Besuch einer Privatschule) möglicherweise nicht nur ein weiteres Kind (91 +1), sondern zwei weitere Kinder (92 + 1) als Nachrücker hätten zugelassen werden müssen, braucht hier daher nicht geprüft zu werden. Soweit vorliegend problematisch sein könnte, dass beim Zwillingsbruder des Antragstellers, der im Verfahren 1 Bs 178/15 das gleiche Ziel verfolgt, identische Verhältnisse vorliegen, bedarf dies keiner weiteren Erörterung. Denn die Antragsgegnerin hat auf Nachfrage erklärt, dass in einem Fall (nur) eines freien Platzes beide Zwillinge berücksichtigt würden, auch wenn es hierdurch zu einer Kapazitätsüberschreitung käme.
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Der Antragsteller hatte schon in der Begründung seines Widerspruchs die Rechtmäßigkeit der Entscheidung, das Kind Nr. 104 der Schule Trenknerweg zuzuweisen, angesprochen und in Zweifel gezogen. Im Widerspruchsbescheid ist hierzu lediglich ausgeführt worden, dass dieses Kind "aus Gründen der regionalen Versorgung" kapazitätserhöhend der Schule Trenknerweg zugewiesen worden sei. Ob diese Zuweisung ihrerseits rechtmäßig war, wurde indes nicht näher begründet. Auf den im erstinstanzlichen Verfahren erneut gemachten Hinweis des Antragstellers auf die nicht geklärte Rechtmäßigkeit dieser kapazitätserhöhenden Zuweisung sind weder die Antragsgegnerin noch das Verwaltungsgericht eingegangen; dieses referiert in seinem Beschluss (S. 4) lediglich die Formulierung aus dem Widerspruchsbescheid.
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Dies wird vom Antragsteller in seiner Beschwerde zu Recht kritisiert, umso mehr, als das Kind Nr. 104 nach dem Nachrücken nur eines Kindes nunmehr einen "regulären" Platz an der Schule Trenknerweg einnimmt. Die Antragsgegnerin hat auf Nachfragen seitens des Beschwerdegerichts gegebenen Erklärungen nicht hinreichend darlegen können, dass die Entscheidung hinsichtlich des Kindes Nr. 104 rechtmäßig ist.
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Die für Grundschulen in § 87 Abs. 1 Satz 3 HmbSG geregelte Klassengröße, deren Begrenzung aus pädagogischen Gründen für die schulische Versorgung von besonderer Bedeutung ist, kann nach Satz 4 der Vorschrift nur aus Gründen der regionalen Versorgung aller Schülerinnen und Schüler im Einzelfall überschritten werden. Die Antragsgegnerin ist mithin nur dann berechtigt, die Höchstzahl je Klasse zu überschreiten, wenn dies bei räumlich isoliert liegenden Schulen zur regionalen Versorgung und der Schwankung in der Größe der Jahrgänge im Einzelfall erforderlich ist (vgl. BüDrs. 19/3195 S. 20 zur insoweit textgleichen Vorgängervorschrift). Die Möglichkeit zur Überschreitung der Höchstzahl für die Klassengröße erfordert, dass wegen der räumlichen Isolation der Schule andere Schulen derselben Schulform in angemessener Entfernung für die Schüler nicht erreichbar sind (OVG Hamburg, Beschl. v. 8.8.2011, 1 Bs 137/11, NordÖR 2011, 561, juris Rn. 7; Beschl. v. 30.7.2013, 1 Bs 225/13). Solche Verhältnisse sind hier streng genommen nicht gegeben, da von der Wohnung des Kindes Nr. 104 aus (X…………..-Weg …) etliche Grundschulen in erreichbarer Entfernung liegen: Neben den von den Eltern dieses Kindes gewählten Schulen Trenknerweg, Groß-Flottbek und Mendelssohnstraße sind dies die Loki-Schmidt-Schule im Othmarscher Kirchenweg und wohl noch die Schule Bahrenfelder Straße (Gaußstraße) und evtl. die Schule Rothestraße. Eine Situation, die der der räumlichen Isolation einer Schule entspricht und zur Kapazitätserhöhung gemäß § 87 Abs. 1 Satz 4 HmbSG führen kann, wird aber auch dann anzunehmen sein, wenn die reguläre Kapazität aller in Frage kommenden Schulen in der Umgebung durch regulär zu berücksichtigende Kinder erschöpft ist. Dabei wird es auf die Verhältnisse bei der Verteilung der Kinder durch die Verteilerkonferenz ankommen.
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Welche Überlegungen dazu geführt haben, dass das Kind Nr. 104 gerade der Schule Trenknerweg zugewiesen wurde, konnte von der Antragsgegnerin in überprüfbarer Weise nicht mitgeteilt werden. Sie hat auf die Nachfragen seitens des Beschwerdegerichts lediglich angegeben, für dieses Kind habe bei der Verteilerkonferenz keine andere Schule als die Schule Trenknerstraße in zumutbarer Entfernung gefunden werden können (Schriftsatz vom 27.8.2015); da die Vorgehensweise und die Rechtslage der erfahrenen Schulaufsicht sowie der Schulleitung bekannt seien, könne davon ausgegangen werden, dass zum Zeitpunkt der Verteilung in keiner der in zumutbarer Entfernung liegenden Grundschulen mehr Kapazitäten vorhanden gewesen seien (Schriftsatz vom 31.8.2015).
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Diese Angaben sind angesichts des Anspruchs des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) unzureichend. Um die Rechtmäßigkeit der Zuweisung nach § 87 Abs. 1 Satz 4 HmbSG prüfen zu können, benötigt das Gericht ein Mindestmaß an überprüfbaren Angaben, aus denen sich ergibt, welche Erwägungen für die Entscheidung der Verteilerkonferenz maßgeblich waren. Vom Antragsteller kann dies nicht verlangt werden, da die Umstände der Zuweisung des anderen Kindes außerhalb seines Wissensbereichs liegen. Sie liegen vielmehr allein in der Einflusssphäre der Antragsgegnerin. Es ist daher allein der Antragsgegnerin möglich, die maßgeblichen Erwägungen darzulegen und ggf. in einem gerichtlichen Verfahren nachzuweisen. Aus diesem Grund ist sie insoweit auch beweisbelastet. Es ist der Antragsgegnerin zumutbar, hierfür Vorsorge zu treffen. Dies kann z.B. dadurch erfolgen, dass die Verteilerkonferenz die Gründe dokumentiert, ähnlich wie dies augenscheinlich auch für Härtefälle erfolgt (vgl. die Anlage zum Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 27.8.2015). In einer solchen ggf. formlosen Darstellung könnte für ein nach § 87 Abs. 1 Satz 4 HmbSG zuzuweisendes Kind zunächst niedergelegt werden, dass die vorrangigen Prüfungsschritte (vgl. die Auflistung in Abschnitt C der "Handreichung zur Organisation der Aufnahme in Klasse 1, Schuljahr 2015/16") ohne Erfolg durchgeführt worden sind. Ferner wäre anzugeben, welche Schulen – ggf. auch solche, die nicht als Wunsch angegeben worden waren – für eine kapazitätserhöhende Zuweisung näher betrachtet wurden und welche Gesichtspunkte für die konkrete Zuweisung letztlich entscheidend waren. Ein solcher Dokumentationsaufwand überfordert die an der Verteilung der Schüler beteiligten Dienststellen nicht.
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Der Hinweis der Antragsgegnerin, die im konkreten Fall an der Verteilungsentscheidung beteiligten Personen seien erfahren und mit der Rechtslage vertraut, ist nicht hinreichend. Dieses Vorbringen ermöglicht dem Gericht keine sachliche Prüfung, ob bei den maßgeblichen Entscheidungen rechtmäßig gehandelt worden ist. So ist im konkreten Fall z.B. nicht erkennbar, welche Schulen für das Kind Nr. 104 von der Verteilerkonferenz überhaupt in den Blick genommen worden sind; eine Beschränkung des Blicks auf die Schulen, die bei der Anmeldung als Wünsche angegeben worden sind, wäre im Zusammenhang mit einer Zuweisung nach § 87 Abs. 1 Satz 4 HmbSG jedenfalls im Fall des Kindes Nr. 104 unzureichend.
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1.3. Ist somit für das vorläufige Rechtsschutzverfahren davon auszugehen, dass ein Platz an der Schule Trenknerweg zu Unrecht an ein anderes Kind vergeben worden ist, kann der Antragsteller im Hinblick auf die Verpflichtung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verlangen, auf die Schule Trenknerweg aufgenommen zu werden, obwohl dann in einer der vier ersten Klassen die nach § 87 Abs. 1 Satz 3 HmbSG für eine Grundschule ohne sozialstrukturell benachteiligte Schülerschaft vorgegebene Klassenobergrenze von 23 Kindern überschritten werden würde. Die gesetzlich festgelegte Klassenobergrenze kann nicht nur in den Fällen des § 87 Abs. 1 Satz 4 HmbSG, sondern auch in eng begrenzten außergewöhnlichen Ausnahmefällen, wie z.B. einer vereinzelten fehlerhaften Auswahlentscheidung, im Ermessen der Antragsgegnerin erweitert werden (OVG Hamburg, Beschl. v. 17.7.2013, 1 Bs 213/13, juris Rn. 23 ff., 27; Beschl. v. 22.8.2012, 1 Bs 197/12). Ein solcher Fall ist hier gegeben. Die Gewährung effektiven Rechtsschutzes verlangt, den Antragsteller in die Schule Trenknerweg aufzunehmen. Eine gleichzeitige Umschulung eines dort bereits eingeschulten Kindes erscheint aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht zumutbar. Die Überschreitung der Klassenobergrenze ist geringfügig. Der Anspruch auf Einhaltung der Klassenobergrenze nach § 87 Abs. 1 Sätze 3, 4 HmbSG gebietet es daher nicht, den Anspruch des Antragstellers auf Aufnahme in die Wunschschule davon abhängig zu machen, dass die Aufnahme eines anderen Kindes an der Wunschschule erfolgreich angefochten wird (OVG Hamburg, Beschl. v. 17.7.2013, a.a.O., Rn. 27; Beschl. v. 22.8.2012, a.a.O.).
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Dem steht auch die Erwägung der Antragsgegnerin nicht entgegen, im Fall der Rechtswidrigkeit der Aufnahme des Kindes Nr. 104 wäre nicht der Antragsteller, sondern das auf der Liste nächststehende Kind mit dem kürzesten Schulweg, welches Widerspruch eingelegt hat, aufgenommen worden. Im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Beschwerdegericht sind laut einer Mitteilung der Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren alle Widerspruchsverfahren betreffend die Schule Trenknerweg abgeschlossen. Die anderen Kinder (bzw. deren Eltern) haben offenbar die jeweils getroffene Entscheidung akzeptiert; auch ihnen hätte ggf. der Rechtsweg offengestanden. Die Antragsgegnerin berücksichtigt beim etwaigen Nachrücken auch nur solche Kinder, die Widerspruch gegen die nicht wunschgemäße Aufnahme in einer Schule erhoben haben. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes rechtfertigt, nicht darauf abzustellen, ob der Antragsteller nach den Auswahlkriterien der Antragsgegnerin einen Platz erhalten hätte, wenn diese die freien Plätze anderweitig vergeben hätte (OVG Hamburg, Beschl. v. 29.8.2005, 1 Bs 258/05, NVwZ-RR 2006, 401, juris Rn. 9).
- 23
2. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung erforderlich ist, um wesentliche Nachteile abzuwenden (Anordnungsgrund). Denn eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache wird selbst bei zügiger Abwicklung des Hauptsacheverfahrens zumindest etliche Monate benötigen. Dem Antragsteller ist es nicht zumutbar, während dieser Zeit zunächst in eine andere Grundschule zu gehen und sodann an seine Wunschschule zu wechseln. Deshalb ist es zulässig, die Entscheidung in der Hauptsache teilweise vorwegzunehmen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 21. Auflage 2015, § 123 Rn. 14).
III.
- 24
Die Kostenentscheidung für das gesamte Verfahren beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG.
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