Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 Bs 155/19

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 28. Mai 2019 geändert.

Der Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 25. April 2019 gegen den Bescheid vom 22. März 2019 anzuordnen, wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

2. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

3. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt. Frau Rechtsanwältin ... wird zur Vertretung beigeordnet.

Gründe

I.

1

Die Antragstellerin begehrt die Verlängerung der ihr nach § 30 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 31 AufenthG.

2

Die am ... Februar 1987 geborene Antragstellerin heiratete am 8. Februar 2013 in Indien den indischen Staatsangehörigen .... Die Ehe wurde durch die Familien arrangiert. Herr ... lebte und arbeitete bei Eheschließung in Düsseldorf. Er ist nach Aktenlage Vater eines im Jahr 2000 geborenen Sohnes, der bei seiner Mutter lebt und für den Herr ... Unterhalt zahlt. Das Sorgerecht wird gemeinsam ausgeübt. Herr ... war von Februar 2014 bis August 2016 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und ist seit dem 5. August 2016 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG.

3

Die Antragstellerin reiste am 31. Dezember 2015 mit einem Visum zum Familiennachzug, gültig vom 25. Dezember 2015 bis zum 23. März 2016, in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im Februar 2016 zog sie in die Wohnung des Herrn ... in Düsseldorf ein. Auf ihren Antrag vom 16. Februar 2016 wurde ihr eine Aufenthaltserlaubnis mit Gültigkeit vom 1. April 2016 bis 2. Februar 2017 erteilt.

4

Am 31. August 2016 teilte Herr ... der Ausländerbehörde Düsseldorf mit, dass er sich endgültig von seiner Ehefrau getrennt habe und er auf der Suche nach einer Wohnung sei, um die Trennung auch räumlich zu vollziehen. Die Antragstellerin habe am 18. April 2016 die Scheidung in Indien beantragt und halte sich auch derzeit in Indien auf.

5

Die Antragstellerin kehrte am 2. September 2016 aus Indien in die Bundesrepublik zurück und konnte nicht in die vormals gemeinsame Wohnung zurückkehren, da sie nach eigenen Angaben keinen Schlüssel zur Wohnung hatte und dort ein ihr unbekannter neuer Mieter lebte. Am 14. September 2016 wurde sie in einem Frauenhaus in Hamburg gemeldet. Am 10. Oktober 2016 stellte sie Strafantrag gegen Herrn ... wegen sexueller Nötigung, Vergewaltigung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Bedrohung und Unterschlagung. Am 29. November 2016 wurde sie ausführlich polizeilich vernommen. Eine Fortsetzung der Vernehmung zu den erhobenen Vorwürfen sexueller Übergriffe lehnte die Antragstellerin am 22. Dezember 2016 gegenüber der ermittelnden Polizei ab. Weitere schriftliche Angaben erfolgten nicht. Herr ... wies mit Schreiben vom 16. März 2017 an die ermittelnde Staatsanwaltschaft Düsseldorf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als frei erfunden zurück. Das Ermittlungsverfahren wurde im Juli 2017 von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, da Beweismittel, die eine bedenkenfreie Überführung des Beschuldigten ermöglichen könnten, nicht vorlägen. Die dagegen erhobene Beschwerde der Antragstellerin wies der Generalstaatsanwalt in Düsseldorf mit Schreiben vom 5. Oktober 2017 zurück. Eine Mitteilung über die Einstellung des Strafverfahrens erfolgte nach Aktenlage zunächst nicht an die Ausländerbehörde Hamburg.

6

Am 26. Januar 2017 beantragte die Antragstellerin bei dem Bezirksamt Harburg der Antragsgegnerin die Verlängerung der ihr erteilten Aufenthaltserlaubnis. Nachdem ihr zunächst im Hinblick auf das gegen Herrn ... laufende Strafverfahren Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG erteilt worden waren – zuletzt mit Gültigkeit bis zum 4. August 2019 -, und die Staatsanwaltschaft Düsseldorf dem Bezirksamt Harburg auf Nachfrage mit Schreiben vom 25. Mai 2018 mitgeteilt hatte, dass das Strafverfahren gegen Herrn ... eingestellt worden sei, lehnte das nach einem Umzug der Antragstellerin nunmehr zuständige Bezirksamt Wandsbek der Antragsgegnerin den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit Verfügung vom 22. März 2019 ab. Zugleich drohte sie der Antragstellerin die Abschiebung an, sofern sie nicht bis zum 30. Mai 2019 ausgereist sein sollte, und befristete das im Falle der Abschiebung entstehende Einreise- und Aufenthaltsverbot auf den Zeitpunkt von zwei Jahre nachgewiesenen Auslandsaufenthalt ab Ausreise. Die Antragstellerin habe keine Beweise vorgelegt, dass sie misshandelt worden sei. Gegen die der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 26. März 2019 zugestellte Verfügung hat die Antragstellerin am 25. April 2019 Widerspruch erhoben und zugleich die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt.

7

Das Verwaltungsgericht Hamburg hat mit Beschluss vom 28. Mai 2019 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 22. März 2019 angeordnet. Sollten sich die Vorwürfe der Antragstellerin in einem Widerspruchs- bzw. Klagverfahren als wahr erweisen, so läge eine besondere Härte i.S.d. § 31 Abs. 2 Satz 2 Alt. 3 AufenthG vor. Eine abschließende Würdigung müsse dem Widerspruchs- bzw. ggf. Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Aufgrund der der Antragstellerin durch eine Ausreise entstehenden Nachteile überwiege ausnahmsweise das Interesse der Antragstellerin gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Entscheidung der Antragsgegnerin.

8

Gegen den der Antragsgegnerin am 17. Juni 2019 zugestellten Beschluss hat diese am 28. Juni 2019 Beschwerde erhoben und diese sogleich begründet. Sie macht u.a. geltend, dass nach der Rechtsprechung u.a. des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts ein Härtefall, der ein Absehen von der dreijährigen Ehebestandszeit gebiete, nur dann vorliege, wenn das als unzumutbar empfundene Festhalten an der Ehe sich auch nach außen durch einen Trennungsakt des zuziehenden Ausländers manifestiert habe. Dem ist die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 7. August 2019 entgegengetreten, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. Sie hat zugleich die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren beantragt.

II.

9

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin hat in der Sache Erfolg.

10

Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe ziehen die tragenden Erwägungen des angefochtenen Beschlusses jedenfalls mit dem Vorbringen erfolgreich in Zweifel, das als unzumutbar empfundene Festhalten an der Ehe müsse sich u.a. nach der Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts regelmäßig nach außen hin durch einen Trennungsakt des zugezogenen Ausländers - hier der Antragstellerin - manifestieren; hier sei die Initiative zur Trennung hingegen vom Ehegatten ausgegangen. Die Antragstellerin habe selbst vorgetragen, dass ihr Ehemann bei ihrer Rückkehr aus Indien im September 2016 nicht mehr in der gemeinsamen Wohnung anzutreffen gewesen sei. Auch sei nicht ersichtlich, dass sich die Antragstellerin bei Rückkehr ins Bundesgebiet im September 2016 noch derart unter dem Einfluss ihrer Eltern befunden habe, dass sie nicht selbst die Trennung von ihrem Ehemann hätte vollziehen können. Das Beschwerdegericht ist daher befugt, ohne Bindung an die vorgetragenen Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) über das Rechtsschutzbegehren eigenständig zu entscheiden. Diese eigenständige Prüfung ergibt, dass die begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs abzulehnen ist, weil der Widerspruch vom 25. April 2019 gegen die Verfügung vom 22. März 2019 bei der gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Insoweit überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der Aussetzung des Sofortvollzuges nicht das öffentliche Interesse an dem gesetzlich in § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG angeordneten Sofortvollzug.

11

1. Rechtsgrundlage für die geltend gemachte Verlängerung der der Antragstellerin nach § 30 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis ist § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Eine Verlängerung gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kommt nicht in Betracht, da danach die bis zum 2. Februar 2017 gültige Aufenthaltserlaubnis lediglich in dem Jahr unmittelbar nach Ablauf der Gültigkeit der ehegattenbezogenen Aufenthaltserlaubnis - vorliegend also bis zum 2. Februar 2018 - hätte verlängert werden können (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.6.2011, 1 C 5.10, BVerwGE 140, 64, juris Rn. 13). Daran anschließend ist eine Verlängerung nur nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG möglich, was neben dem Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG auch voraussetzt, dass zuvor die Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AufenthG hätte verlängert werden können. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nach summarischer Prüfung nicht erfüllt.

12

a) Es erscheint schon zweifelhaft, mag hier aber offen bleiben, ob zumindest im Februar und März 2016 eine eheliche Lebensgemeinschaft zwischen der Antragstellerin und Herrn ... bestanden hat. Der beschließende Senat hat hieran vor allem deshalb Zweifel, weil die Ehe bereits im Februar 2013 geschlossen wurde, und nach unwidersprochener Darstellung von Herrn ... (Schriftsatz im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 16.3.2017, Seite 2) bereits im März 2015 zwischen den Eheleuten über eine Trennung und Scheidung gesprochen wurde. Als die Antragstellerin am 31. Dezember 2015 in das Bundesgebiet eingereist ist, hat Herr ... sie nicht nur nicht vom Flughafen abgeholt, sondern hat auch in der Folgezeit zunächst eine Kontaktaufnahme mit der Antragstellerin verweigert (vgl. Schilderung der Antragstellerin S. 181 ff. Ausländerakte). Während die Antragstellerin bei verschiedenen Freunden jeweils für ein paar Tage gewohnt hat, hat sie versucht, Herrn ... telefonisch zu erreichen. Als Herr ... sie bei einem Freund besucht hat, ist Herr ... wieder weggegangen, ohne die Antragstellerin mitzunehmen bzw. in seine Wohnung aufzunehmen (vgl. S. 184 Ausländerakte). Erst Anfang Februar 2016 - nach Schilderung der Antragstellerin am 1. Februar 2016, nach Darstellung von Herrn ... am 8. Februar 2016 - hat Herr ... die Antragstellerin bei einem Freund abgeholt, nachdem dieser ihm nach übereinstimmender Schilderung von Herrn ... und der Antragstellerin gedroht haben soll, die Polizei zu rufen, sofern er die Antragstellerin nicht zu sich nehme (vgl. S. 178, 183, 184, 257 Ausländerakte). Nachdem die Antragstellerin im April 2016 nach Indien zurückgereist war, reichte sie am 18. April 2016 die Scheidung ein (S. 96 ff. Ausländerakte) und erklärte in dem Scheidungsantrag, dass sie die Scheidung begehre, u.a. weil Herr ... es deutlich verweigert habe, sie - die Antragstellerin - bei sich aufzunehmen („clearly refused to keep the petitioner with him“). Dies sei zuletzt am 13. April 2016 erfolgt. Unklar ist, ob und ggf. wann die Antragstellerin danach erneut in das Bundesgebiet eingereist ist. Jedenfalls am 2. September 2016 kehrte sie nach ihrer Schilderung nach einem zweimonatigen Aufenthalt aus Indien in das Bundesgebiet zurück. Bereits zuvor, am 31. August 2016, hatte Herr ... sich an die Ausländerbehörde gewendet und mitgeteilt, dass er sich endgültig von seiner Ehefrau getrennt habe und auf der Suche nach einer eigenen Wohnung sei, um die Trennung auch räumlich zu vollziehen. Als die Antragstellerin Anfang September 2016 in die vormals gemeinsame Wohnung zurückkehren wollte, wohnte dort bereits eine andere Person (S. 220 Ausländerakte). Wo Herr ... sich aufhielt, war der Antragstellerin zunächst nicht bekannt. Ebenso konnte sie telefonisch keinen Kontakt mit ihm aufnehmen. Die Kontaktaufnahme erfolgte über einen Freund. Danach tauschte Herr ... seine Telefonnummer, sodass die Antragstellerin ihn nicht mehr erreichen konnte (S. 222 Ausländerakte).

13

b) Es kann offen bleiben, ob die Antragstellerin die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG erfüllt. Denn jedenfalls liegen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ersichtlich nicht vor und es kann auch nicht gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 AufenthG von den Voraussetzungen des dreijährigen rechtmäßigen Bestandes der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) abgesehen werden.

14

aa) Ein Absehen von der dreijährigen Ehebestandszeit ist danach geboten, wenn es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, dem Ehegatten den weiteren Aufenthalt zu ermöglichen. Eine besondere Härte liegt gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG insbesondere vor, wenn dem Ehegatten wegen der Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange das Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar ist; letzteres ist insbesondere anzunehmen, wenn der Ehegatte Opfer häuslicher Gewalt ist.

15

Dies setzt zur Überzeugung des beschließenden Senats regelmäßig voraus, dass der nachgezogene Ehegatte - vorliegend die Antragstellerin - die eheliche Lebensgemeinschaft beendet hat. Anderes könnte ausnahmsweise z.B. dann gelten, wenn dem nachgezogenen Ehegatten eine freie Willensentscheidung nicht möglich war (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 28.2.2003, 13 S 2798/02, InfAuslR 2003, 232), eine Trennung ihn oder Kinder gefährdet hätte oder der Ehepartner dem zugezogenen Ehegatten zuvorkommt, um zu verhindern, dass dieser ein eigenes Aufenthaltsrecht erhält (vgl. auch: OVG Hamburg, Beschl. v. 2.11.2007, 4 Bf 69/07.Z n.v., Beschl. v. 3.8.2015, 4 So 119/14, n.v., Beschl. v. 28.1.2019, 1 Bf 163/18.Z, n.v.; ebenso: OVG Lüneburg, Beschl. v. 4.12.2018, 13 ME 458/18, AuAS 2019, 14, juris Rn. 6; VGH München, Beschl. v. 25.6.2018, 10 ZB 17.2436, juris Rn. 12; VGH Kassel, 9. Senat, Beschl. v. 10.10.2015, 9 TG 2403/05, AuAS 2005, 266, juris Rn. 5; Dienelt in Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Auflage 2018, § 31 AufenthG Rn. 63; lediglich indizielle Wirkung im Rahmen der Gesamtwürdigung, ob die Trennung unzumutbar ist: OVG Saarlouis, Beschl. v. 19.4.2018, 2 B 52/18, juris Rn. 15; Beschl. v. 24.2.2011, 2 B 17/11, juris Rn. 17; OVG Bautzen, 12.1.2018, 3 B 325/17, DVBl 2018, 668, juris Rn. 18; OVG Berlin/Brandenburg, Beschl. v. 7.7.2011, OVG 2 S 63.11 u.a., juris Rn. 4; VGH Kassel, 7. Senat, Beschl. v. 17.1.2007, 7 TG 2908/06, AuAS 2007, 122, juris Rn. 14 f.; Marx in GK AufenthG, Stand April 2019, § 31 AufenthG Rn. 71 f.).

16

Für die aufgezeigte Auslegung der Norm spricht zunächst deren Wortlaut. Zwar kann aus der nach § 31 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gebotenen „Vermeidung einer besonderen Härte“ keine nähere Bestimmung in Bezug auf die vorliegende Frage abgeleitet werden. Die in § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vom Gesetzgeber vorgenommene beispielhafte Aufzählung der möglichen Fallkonstellationen nimmt aber die vorliegende Fallkonstellation in den Blick und konkretisiert diese dahingehend, dass „dem Ehegatten (...) das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar“ sein muss. Dies setzt voraus, dass dem nachgezogenen Ehegatten das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft überhaupt möglich sein muss, was jedoch ausgeschlossen ist, wenn der andere Ehepartner die eheliche Lebensgemeinschaft beendet hat.

17

Diese Auslegung wird gestützt durch die Gesetzgebungshistorie. Hierzu hat der 4. Senat des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts zutreffend ausgeführt (Beschl. v. 2.11.2007, 4 Bf 69/07.Z, n.v.):

18

„Nach der Gesetzesbegründung zu der Vorgängervorschrift des insoweit gleichlautenden § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Satz 2 AuslG (i.d.F. v. 25.5.2000), an dem sich § 31 AufenthG orientiert (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 82), liegen besondere Umstände, die es dem Ehegatten unzumutbar machen, an der ehelichen Lebensgemeinschaft festzuhalten, u.a. dann vor, wenn der nachgezogene Ehegatte wegen physischer oder psychischer Misshandlungen durch den anderen Ehegatten die Lebensgemeinschaft aufgehoben hat (BT-Drs. 14/2368 S.4). Der Gesetzgeber hatte hierbei die Zwangslage von Betroffenen, in der Regel Frauen, die sich in nicht tragbaren Lebensgemeinschaften befinden, im Blick und wollte sich nicht „gleichsam zum Kerkermeister mancher Frauen“ machen, „weil gegen Frauen und Kinder zum einen Gewalt ausgeübt wird, auf der anderen Seite geschiedene Frauen in ihrem Kulturkreis nicht mehr geachtet werden und deshalb nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können“ (BT-Drs. 14/2902, S. 5 f.). Wird z.B. eine Ausländerin in der Ehe jeglicher freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit beraubt und ist sie durch ihren Ehegatten körperlicher Gewalt bzw. psychischer Misshandlung ausgesetzt, so dass sich ihre Ehe für sie als Martyrium darstellt (vgl. zu einem derartigen Fall OVG Hamburg, Beschl. v. 6.1.2005, 1 Bs 513/04, NVwZ 2005, 469 f.), greift der mit § 31 Abs. 2 Satz 2 - zweite Alt. - AufenthG bezweckte Schutz des Ausländers dahin gehend, dass die eheliche Lebensgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Nachteile bereits vor Ablauf von zwei Jahren vom Betroffenen aufgelöst werden kann.

19

Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass diese Voraussetzungen nicht vorliegen. Das ist grundsätzlich nur dann der Fall, wenn der nachgezogene Ehegatte, der sich zur Begründung seines eigenständigen Aufenthaltsrechts auf eine besondere Härte beruft, wegen der Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange die eheliche Lebensgemeinschaft auch tatsächlich beendet hat. In den Fällen, in denen die eheliche Lebensgemeinschaft durch den Ehepartner des nachgezogenen Ausländers aufgelöst wird, besteht dagegen regelmäßig kein Grund, davon auszugehen, dass ihm das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar war (vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 10.10.2005, FamRZ 2006, 789). Zweck der Regelung ist es gerade, den nachgezogenen Ehegatten bereits vor dem Konflikt zu bewahren, entweder sich zu trennen und auf ein eigenes Aufenthaltsrecht zu verzichten, oder aber bis zum Ablauf der „Wartefrist“ an der Ehe festzuhalten und weitere Misshandlungen in Kauf zu nehmen, um ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht erwerben zu können. In einen derartigen Konflikt gerät jedoch derjenige nachgezogene Ehegatte nicht, dessen eheliche Lebensgemeinschaft ohnehin vor Ablauf der genannten Frist beendet wird, sei es aufgrund einer einvernehmlichen Trennung, sei es dadurch, dass der andere Ehepartner einseitig die Lebensgemeinschaft auflöst. In einem derartigen Fall erwirbt der nachgezogene Ehegatte grundsätzlich kein eigenes Aufenthaltsrecht. Insbesondere sieht das Gesetz nicht vor, dass der nachgezogene Ehegatte, also typischerweise die Ehefrau, ein Aufenthaltsrecht gewissermaßen als Entschädigung für Misshandlungen erhält, die sie während der Dauer der - von ihr nicht aufgegebenen - ehelichen Lebensgemeinschaft objektiv erlitten hat. Vielmehr eröffnet das Gesetz ihr ausdrücklich die Möglichkeit, weiteren Misshandlungen ohne aufenthaltsrechtliche Nachteile aus dem Weg zu gehen, indem sie den misshandelnden Ehepartner verlässt und die eheliche Lebensgemeinschaft beendet.“

20

An dieser Zielrichtung der gesetzlichen Regelung hat sich auch durch die Ergänzung des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG um einen weiteren Halbsatz („dies ist insbesondere anzunehmen, wenn der Ehegatte Opfer häuslicher Gewalt ist“) mit Wirkung ab dem 1. Juli 2011 durch das Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderungen weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften (v. 23.6.2011, BGBl. I. S. 1266) nichts geändert. Nach dem Wortlaut konkretisiert der Halbsatz, wann das Festhalten an der Ehe dem nachgezogenen Ehegatten unzumutbar ist; dies setzt wiederum regelmäßig voraus, dass dem Ehegatten das Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft möglich ist. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfes (vgl. BT-Drs. 17/5093 S. 16) handelt es sich zudem allein um eine klarstellende Regelung.

21

Schließlich gebietet auch der Schutzzweck der Norm keine andere Auslegung. Denn - wie ausgeführt - ist das Ziel der Regelung, den nachgezogenen Ehegatten vor dem Konflikt zu bewahren, entweder sich zu trennen und auf ein eigenes Aufenthaltsrecht zu verzichten, oder aber bis zum Ablauf der „Wartefrist“ an der Ehe festzuhalten und weitere Misshandlungen in Kauf zu nehmen, um ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht erwerben zu können; bestünde aufgrund der gesetzlichen Regelungen ein derartiger Konflikt, so würde sich der Staat zum „Kerkermeister“ dieser Frauen machen, was durch die derzeitige Regelung verhindert werden soll. Hingegen ist der Zweck der Regelung nicht, generell von der dreijährigen Ehebestandszeit abzusehen, wenn der nachgezogene Ehegatte Opfer häuslicher Gewalt geworden ist, insbesondere wenn er selbst weiterhin an der Ehe festhalten will.

22

bb) Es ist vorliegend nicht zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich, der Antragstellerin einen weiteren Aufenthalt zu ermöglichen.

23

(1) Nach Aktenlage hat Herr ... und nicht die Antragstellerin die - hier unterstellte - eheliche Lebensgemeinschaft beendet.

24

Nach Aktenlage erfolgte jedenfalls eine erste Trennung der Ehepartner Mitte April 2016. Ausweislich des Scheidungsschriftsatzes des Bevollmächtigten der Antragstellerin vom 18. April 2016 hat Herr ... es zuletzt am 13. April 2016 abgelehnt, die Antragstellerin bei sich aufzunehmen. Sollte die Antragstellerin im Anschluss an diese Auseinandersetzung am 13. April 2016 nach Indien zurückgekehrt sein, weil sie die Ehe mit Herrn ... nicht fortsetzen wollte (hierfür spricht der Scheidungsantrag vom 18. April 2016) und erst auf den Druck ihrer Eltern wieder in das Bundesgebiet zurückgekehrt sein (hierfür sprechen die Angaben der Antragstellerin in der polizeilichen Vernehmung -S. 234 Ausländerakte-: „Ich möchte so gerne da bleiben [Anmerkung: in Indien], aber meine Familie hat mir gesagt, meine Mutter und meine ganze Familie, ich muss wieder zurück zu mein Mann hier, egal, wie geht es schlecht.“), so wäre der Aufenthaltstitel zudem gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen, worauf die Antragsgegnerin zu Recht hinweist.

25

Selbst wenn die Antragstellerin danach vor Juli 2016 erneut in das Bundesgebiet zurückgekehrt und erneut eine eheliche Lebensgemeinschaft mit Herrn ... aufgenommen haben sollte, so hätte Herr ... diese am 31. August 2016 beendet, bevor die Antragstellerin am 2. September 2016 wieder in das Bundesgebiet zurückgekehrt ist, wobei die Antragstellerin nach ihrem eigenen Vortrag bei Rückkehr an der ehelichen Lebensgemeinschaft festhalten wollte.

26

(2) Die Antragstellerin hat keine Umstände glaubhaft gemacht, die es zur Vermeidung einer besonderen Härte dennoch erfordern, von der Notwendigkeit des dreijährigen Bestandes der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet abzusehen und ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlängern.

27

In der Gesamtschau ist nach Aktenlage davon auszugehen, dass Herr ... bereits bei Einreise der Antragstellerin Ende Dezember 2015 eine Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet nicht gewünscht hat. Hierfür spricht nicht nur, dass er erst unter Androhung, andernfalls die Polizei einzuschalten, die Antragstellerin überhaupt in seine Wohnung aufgenommen hat. Selbst wenn es in der Folge zu den von der Antragstellerin geschilderten gewalttätigen Übergriffen gekommen sein sollte, was das Gericht hier trotz erheblicher Zweifel unterstellt, so wäre es der Antragstellerin möglich gewesen, ihrem mehrfach geäußerten Wunsch entsprechend in Indien zu verbleiben und nicht in das Bundesgebiet zurückzukehren.

28

Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihre Familie sie derart bedrängt hat, dass sie keinen anderen Weg gesehen hat, als erneut in das Bundesgebiet zu Herrn ... zurückzukehren. In der eidesstattlichen Versicherung vom 7. August 2019 hat die Antragstellerin insoweit lediglich angegeben, dass sie wusste, dass die Trennung von ihrem Ehemann in Indien als Schande betrachtet werde und ihre eigene Familie nicht wolle, dass sie als „getrennt[e] Frau“ bei ihnen lebe. Dennoch hat die Antragstellerin bereits im April 2016 die Scheidung beantragt. Anschließend in das Bundesgebiet zu Herrn ... zurückzukehren ergibt selbst dann keinen Sinn, wenn die Eltern gegen eine Scheidung waren und diese als Schande betrachten sollten. Denn dann hätte die Antragstellerin mit dem Scheidungsantrag dokumentiert, dass sie sich (verständlicherweise) von den Vorstellungen ihrer Eltern löst. Wenn sie sich aber von den Vorstellungen der Eltern gelöst hat, so wäre eine Rückkehr in das Bundesgebiet (auf Druck der Eltern) widersinnig. Insoweit ist auch von Bedeutung, dass Herr ... unwidersprochen vorgetragen hat, dass die Antragstellerin bereits vor ihrer Heirat nicht mehr bei ihren Eltern gelebt und gewohnt habe, sondern abseits ihrer Familie in Neu-Delhi (Schriftsatz v. 16.3.2017, S. 255 Ausländerakte). Eine (zudem mehrfache) Rückkehr in das Bundesgebiet gerade zu Herrn ... ist unter diesen Prämissen für den erkennenden Senat nicht mehr nachvollziehbar. In diesem Zusammenhang weist die Antragsgegnerin zu Recht darauf hin, dass die Antragstellerin sich nach Einreise in das Bundesgebiet an Freunde oder die Polizei hätte wenden können, um Hilfe zu erlangen und auch eine Trennung im Bundesgebiet zu vollziehen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Antragstellerin nach Aktenlage Deutsch (jedenfalls rudimentär) und auch Englisch spricht.

29

c) Aus dem Vorstehenden folgt zugleich, dass die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht hat, dass von dem dreijährigen Bestand der ehelichen Lebensgemeinschaft abzusehen ist, weil der Antragstellerin wegen der aus der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft erwachsenden Rückkehrverpflichtung eine erhebliche Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange droht.

30

2. Die in der angefochtenen Verfügung enthaltene Abschiebungsandrohung sowie die Befristung der Wirkung einer möglichen Abschiebung auf zwei Jahre nachgewiesenem Auslandsaufenthalt ab Ausreise sind rechtlich nicht zu beanstanden. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in §§ 59 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, 11 Abs. 2 AufenthG. Die festgesetzte Ausreisefrist hält die Vorgaben des § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein.

31

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

III.

32

Der Antragstellerin ist Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu gewähren, da sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann (vgl. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Ob die Rechtsverfolgung bzw. Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint, ist vorliegend nicht zu prüfen, da die Antragstellerin in erster Instanz obsiegt und die Antragsgegnerin das Rechtsmittel eingelegt hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Frau Rechtsanwältin ... ist antragsgemäß zur Vertretung beizuordnen (vgl. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 1 ZPO).

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