Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (1. Senat) - 1 LZ 238/17

Tenor

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Schwerin vom 6. Februar 2017 – 6 A 761/14 – wird abgelehnt.

Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer jugendhilferechtlichen Maßnahme.

2

Der Beklagte nahm am Nachmittag des 21. Januar 2014 zwei Kinder der Klägerin aus der Kindertagesstätte in Obhut. Die Klägerin wurde anschließend telefonisch informiert und widersprach der Inobhutnahme. Am 24. Januar 2014 beantragte der Beklagte telefonisch die Entscheidung des Familiengerichts. Dieses entzog den Eltern der beiden Kinder mit Beschluss vom 11. Februar 2014 vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht und übertrug dieses auf den Fachdienst Jugend des Beklagten. Die Inobhutnahme wurde einvernehmlich am 11. März 2014 beendet und den Eltern der Kinder zugleich Hilfe zur Erziehung durch Heimerziehung gemäß § 34 SGB VIII gewährt. Am 12. März 2014 ordnete das Familiengericht im Wege der einstweiligen Anordnung an, dass die Kinder vorläufig in der Jugendhilfeeinrichtung verbleiben.

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Am 15. April 2014 hat die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Schwerin erhoben. Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 6. Februar 2017 – 6 A 761/14 – festgestellt, dass die am 21. Januar 2014 angeordnete Inobhutnahme der beiden Kinder durch den Beklagten für die Zeit von der Anordnung bis zum Wirksamwerden des familiengerichtlichen Beschlusses des Amtsgerichts Hagenow vom 11. Februar 2014 rechtswidrig war. Das Urteil ist dem Beklagten am 13. März 2017 zugestellt worden. Am 10. April 2017 hat der Beklagte beantragt, die Berufung gegen das Urteil zuzulassen und am 12. Mai 2017 seinen Antrag begründet.

II.

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1. Der fristgemäß gestellte (§ 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO) und begründete (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe rechtfertigen die Zulassung der Berufung nicht. Dabei berücksichtigt der Senat, dass die Voraussetzungen an eine Berufungszulassung mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht überspannt werden dürfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.11.2013 – 2 BvR 1895/11 –, juris Rn. 14).

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a) Der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist nicht hinreichend dargelegt. Nach Maßgabe der ständigen Rechtsprechung des Senats muss sich ein auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel gestützter Antrag im Hinblick auf das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen und im Einzelnen darlegen, in welcher Hinsicht und aus welchen Gründen diese ernsthaften Zweifeln bezüglich ihrer Richtigkeit begegnen. Erforderlich dafür ist, dass sich unmittelbar aus der Antragsbegründung sowie der angegriffenen Entscheidung selbst schlüssig Gesichtspunkte ergeben, die ohne Aufarbeitung und Durchdringung des gesamten bisherigen Prozessstoffes – vorbehaltlich späterer Erkenntnisse – eine hinreichend verlässliche Aussage dahingehend ermöglichen, das noch zuzulassende Rechtsmittel werde voraussichtlich zum Erfolg führen (vgl. OVG Greifswald, Beschl. v. 23.07.2015 – 1 L 28/13 –, juris Rn. 8).

6

Der Zulassungsantrag wendet sich allein gegen die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, bei Inobhutnahme der Kinder hätten die Voraussetzungen von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII nicht vorgelegen, weil eine familiengerichtliche Entscheidung hätte rechtzeitig eingeholt werden können. Diese Annahme stellt das Zulassungsvorbringen nicht ernstlich in Zweifel. Das Verwaltungsgericht ist in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass die Inobhutnahme gegenüber familiengerichtlichen Entscheidungen nachrangig ist. Das stellt der Beklagte auch nicht in Abrede. Die Inobhutnahme kommt deshalb nur in besonders gelagerten akuten Gefährdungssituationen in Betracht, die ein Abwarten der Entscheidung des Familiengerichts nicht erlauben. Familiengerichte verfügen über einen gerichtlichen Bereitschaftsdienst und haben den Erlass einer einstweiligen Anordnung in Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB unverzüglich zu prüfen (§ 157 Abs. 3 FamFG). Vor der Inobhutnahme muss deshalb grundsätzlich versucht werden, eine Entscheidung des Familiengerichts einzuholen (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 28.03.2017 – OVG 6 S 8.17 –, juris Rn. 7; VGH München, Beschl. v. 09.01.2017 – 12 CS 16.2181 –, juris Rn. 14). Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Gefahr für das Kindeswohl so dringend ist, dass selbst die Kontaktaufnahme mit dem Familiengericht und die Klärung, bis wann mit einer Entscheidung zur rechnen ist, so lange dauert, dass die Gefahr nicht mehr rechtzeitig abgewendet werden könnte (vgl. Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 1. Auflage 2014, § 42 SGB VIII, Rn. 88).

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Eine solche Sachlage legt der Beklagte auch in der Begründung seines Zulassungsantrags nicht dar. Es trifft zwar zu, dass das Verwaltungsgericht keine Auskunft des Familiengerichts zur voraussichtlichen Dauer einer Entscheidungsfindung eingeholt hat. Dem Zulassungsvorbringen lässt sich aber auch nicht entnehmen, dass eine Anrufung des Familiengerichts in der konkreten Situation von vornherein aussichtlos gewesen wäre.

8

Darüber hinaus fehlt es auch an hinreichenden Darlegungen zu der Frage, warum am 21. Januar 2014 eine auch nur kurzzeitige Rückkehr der Kinder in die Häuslichkeit und ein Abwarten der familiengerichtlichen Entscheidung ausscheiden musste. Die Gefahrenprognose des Beklagten bezog sich auf eine drohende Misshandlung durch den Lebensgefährten der Klägerin. Es ist nicht dargelegt, dass dieser am fraglichen Tag zuhause war und von ihm eine dringende Gefahr körperlicher Übergriffe auf die Kinder ausging. Wenn der Beklagte nunmehr diesen befürchteten Kausalverlauf durch die Überlegung ersetzt, die Kinder wären bei einer Rückkehr vor einer gerichtlichen Entscheidung einem psychischen Druck durch die Mutter und einem Loyalitätskonflikt ausgesetzt gewesen, geht damit der Bezug zur eigentlichen Rechtfertigung der Inobhutnahme verloren, zumal dies eine ohnehin unausweichliche Folge der Befragung der Kinder durch das Jugendamt war.

9

Soweit sich der Beklagte auf die späteren Entscheidungen des Familiengerichts beruft, ergibt sich daraus durchaus, dass das Jugendamt die Sachlage zum Handlungsanlass nehmen durfte und musste. Der Senat verkennt nicht, dass der Beklagte das Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft (§ 1 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) wahrgenommen hat und das Kindeswohl tatsächlich gefährdet war (§ 1666 BGB). Es ist nicht zu beanstanden, dass sich der Beklagte zum Einschreiten entschlossen hat. Der Entscheidungsmaßstab des Familiengerichts betraf jedoch nicht die Frage, ob im konkreten Fall auch die Voraussetzungen von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII vorgelegen haben und der Beklagte die Inobhutnahme ohne Entscheidung des Familiengerichts anordnen durfte.

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b) Der weiterhin geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist gleichfalls nicht hinreichend dargelegt. Insoweit wären Darlegungen (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) dazu erforderlich gewesen, dass die Rechtssache in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht eine Frage aufwirft, die im Rechtsmittelzug entscheidungserheblich und fallübergreifender Klärung zugänglich ist und deren Klärung der Weiterentwicklung des Rechts förderlich ist. Hierzu gehört, dass die klärungsbedürftige konkrete Rechtsfrage bezeichnet und dargestellt wird, woraus sich die grundsätzliche Bedeutung dieser speziellen Rechtsfrage ergibt. Der Antragsbegründung muss entnommen werden können, warum prinzipielle Bedenken gegen einen vom Verwaltungsgericht in einer bestimmten Rechts- oder Tatsachenfrage eingenommenen Standpunkt bestehen und es deshalb erforderlich ist, dass sich das Berufungsgericht noch einmal klärend mit der aufgeworfenen Frage auseinandersetzt. Dazu bedarf es einer substantiierten Darlegung, aus welchen Gründen ein von dem Verwaltungsgericht eingenommener Rechtsstandpunkt bzw. die vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen zweifelhaft geworden sind (vgl. OVG Greifswald, Beschl. v. 14.09.2012 – 1 L 195/10 –, juris Rn. 31).

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Die Begründung des Zulassungsantrags bezeichnet als klärungsbedürftige Rechtsfrage die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Mitarbeiter der Jugendämter hätten vor einer Inobhutnahme stets zu versuchen, das Familiengericht anzurufen. Einen solchen Rechtssatz hat das Verwaltungsgericht indes gar nicht aufgestellt. Das Verwaltungsgericht war der Auffassung, dass die Voraussetzungen von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII erst dann vorliegen, wenn die Herausnahme des Kindes aus seinem Umfeld keinen Aufschub duldet und die Gefahr für das Kindeswohl so akut ist, dass eine Entscheidung des Familiengerichts nicht abgewartet werden kann. Eine Abweichung von der benannten Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg liegt in diesem Rechtssatz nicht. Auch dort wird ausgeführt, dass maßgeblich sei, ob eine familiengerichtliche Entscheidung rechtzeitig hätte erwirkt werden können, um der Kindeswohlgefährdung zu begegnen (OVG Berlin, Beschl. v. 04.03.2016 – OVG 6 S 60.15 –, juris Rn. 4). Davon ist das Verwaltungsgericht nicht abgewichen.

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2. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.

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