Beschluss vom Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (8. Senat) - 8 PA 6/21
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 12. Kammer - vom 8. Dezember 2020 geändert und ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt C., B-Stadt, bewilligt.
Gerichtskosten werden nicht erhoben; außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet.
Gründe
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Die Beschwerde der Klägerin gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts ist begründet.
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Es bestanden vor der Einstellung des Verfahrens durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 8. Dezember 2020 hinreichende Erfolgsaussichten i.S.v. §§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO für das Klagebegehren und die erforderliche Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrages war gegeben.
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Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Rechtslage angesichts der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. VG Köln, Urt. v. 4.12.2019 – 5 K 7317/18 –, juris Rn. 31 f. sowie Niedersächsischen OVG, Urt. v. 25.3.2014 – 2 LB 337/12 –, juris Rn. 49, jew. zu Syrien; s. auch VG Hannover, Urt. v. 20.5.2020 – 12 A 5005/18 –, juris Rn. 29 zu Eritrea) gegenwärtig hinsichtlich der streitigen Fragen zumindest als offen anzusehen ist. Damit waren die materiellen Bewilligungsvoraussetzungen für das Prozesskostenhilfebegehren vor der Erledigung des Rechtsstreits gegeben (vgl. zu den im Hauptsacheverfahren einerseits und im Prozesskostenhilfeverfahren andererseits anzulegenden unterschiedlichen Maßstäben: BVerfG, Beschl. v. 8.7.2016 – 2 BvR 2231/13 –, juris Rn. 10 ff. m.w.N.).
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Dem Verwaltungsgericht ist dagegen nicht in seiner Auffassung zu folgen, dass die nachträgliche Bewilligung von Prozesskostenhilfe ausgeschlossen ist, weil die Klägerin „… zum einen … aktiv an der Beendigung des Verfahrens durch die Abgabe der Erledigungserklärung mitgewirkt … (und) … zum anderen … nicht ausdrücklich um eine sofortige Bescheidung ihres Prozesskostenhilfeantrags gebeten (haben)“.
- 5
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit verletzt, wenn das Fachgericht einen PKH-Anspruch unter Hinweis auf die zwischenzeitliche Erledigung der Sache verneint, obschon das Rechtsschutzbegehren zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife des PKH-Antrags Aussicht auf Erfolg hatte; dieser Zeitpunkt ist der maßgebliche Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussichten des Prozesskostenhilfegesuchs (BVerfG, Beschl. v. 16.4.2019 – 1 BvR 2111/17 –, juris Rn. 25 mit umfangreichen Nachweisen). Jedenfalls dürfen dem entscheidenden Gericht zuzurechnende Verzögerungen bei der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag nicht zu Lasten des Rechtsschutzsuchenden berücksichtigt werden (BVerfG, Beschl. v. 12.5.2020 – 2 BvR 2151/17 –, juris Rn. 20; Beschl. v. 5.12.2018 – 2 BvR 2257/17 –, juris Rn. 15). Durch die Gewährung von Prozesskostenhilfe soll die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend angeglichen werden. Dem liefe es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zuwider, wenn im Fall eines bewilligungsreifen Prozesskostenhilfeantrags bei der Prüfung der Erfolgsaussichten des Verfahrens eine Erledigung ohne Weiteres zu Lasten des Prozesskostenhilfe begehrenden Antragstellers berücksichtigt würde. Würde Prozesskostenhilfe im Fall der Erledigung trotz Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags und trotz im Zeitpunkt der Bewilligungsreife hinreichender Erfolgsaussicht nicht gewährt, stünden Unbemittelte stets vor dem Risiko, wegen einer für sie nicht sicher vorhersehbaren Erledigung Kosten eines bis dahin an und für sich hinreichend erfolgversprechenden Verfahrens tragen zu müssen. Kostenerstattungsansprüche vermögen dieses Risiko nicht hinreichend zuverlässig auszuschließen. Dieses Kostenrisiko erschwerte Unbemittelten im Vergleich zu Bemittelten den Zugang zum Rechtsschutz und verstieße gegen die verfassungsrechtlich verbürgte Rechtsschutzgleichheit (BVerfG, Beschl. v. 16.4.2019 – 1 BvR 2111/17 –, juris Rn. 25). Zwar setzt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung begrifflich voraus, dass das entsprechende Rechtsschutzbegehren noch anhängig ist, allerdings kommt ausnahmsweise auch nach Abschluss der Instanz eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe in Betracht, wenn das Gericht sie bereits vor Beendigung des Verfahrens hätte bewilligen müssen (BVerfG, Beschl. v. 14.4.2010 – 1 BvR 362/10 –, juris Rn. 13f.). Diese Ausnahmevoraussetzung ist hier erfüllt. Die Klägerin hat bereits mit der Klageschrift vom 11. März 2018 Prozesskostenhilfe beantragt und der Übersendung des Originals die notwendigen Unterlagen beigefügt. Daher bestand Bewilligungsreife, die regelmäßig nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie nach Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme eintritt (BVerwG, Beschl. v. 21.1.2019 – 1 PKH 49/18 –, juris Rn. 6 m.w.N.; s. auch Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 23.7.2020 – 2 PA 245/20 –, juris Rn. 6), jedenfalls längere Zeit vor der Erledigung des Verfahrens und dessen Einstellung durch Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 8. Dezember 2020.
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Soweit in der Rechtsprechung teilweise zusätzliche Voraussetzungen in formeller Hinsicht für die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Erledigung des Rechtsstreits aufgestellt worden sind (s. insoweit Senatsbeschl. v. 19.10.2017 – 8 PA 92/17 –, V.n.b. unter Hinweis auf Sächsisches OVG, Beschl. v. 24.3.2015 - 5 D 117/14 -, juris Rn. 12; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 28.6.2017 - 13 E 231/17 -, juris Rn. 8 u. v. 6.12.2012 - 13 E 1177/12 -, juris Rn. 4; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 7.2.2014 - 2 PA 11/14 -, juris Rn. 2; v. 13.1.2016 - 2 PA 409/15 -, juris Rn. 13; v. 27.7.2010 - 4 PA 175/10 -, juris Rn. 6; v. 30.10.2012 - 2 PA 335/12 -, juris Rn. 2 u. v. 20.5.2014 - 11 PA 186/13 -, juris Rn. 8; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 17.2.2015 - 2 O 9/15 -, juris Rn. 2 u. v. 23.12.2015 - 2 O 171/15 -, juris Rn. 2), ist daran im Hinblick auf die neuere verfassungsgerichtliche und höchstgerichtliche Rechtsprechung nicht festzuhalten. Um den Anspruch auf nachträgliche Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu erhalten, kann von dem Prozesskostenhilfe begehrenden Antragsteller weder ein prozessordnungswidriges Verhalten durch Verzögerung der verfahrensrechtlich gebotenen Erledigungserklärung, noch ein besonderes „Drängen“ auf Bescheidung des Prozesskostenhilfeantrages, etwa durch Schriftsätze oder Anträge, die die Belastung des Gerichts bei zunehmend knappen Ressourcen zusätzlich erhöhen und den Verfahrensgang weiter verzögern müssten, gefordert werden, wenn nicht außergewöhnliche Umstände dies erforderlich erscheinen lassen (vgl. etwa Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 20.5.2014 – 11 PA 186/13 –, juris Rn. 12, 14). Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussichten, die nach der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags eintreten, sind ohnehin grundsätzlich nicht mehr zu Lasten des Rechtsschutzsuchenden zu berücksichtigen (BVerfG, Beschl. v. 26.9.2020 – 2 BvR 1942/18 –, juris Rn. 17; BVerwG, Beschl. v. 21.1.2019 – 1 PKH 49/18 –, juris Rn. 6). Der unbemittelte Verfahrensbeteiligte kann im Hinblick auf die dargestellte Rechtsprechung vielmehr darauf vertrauen, dass das Gericht über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe rechtzeitig (s. dazu BVerfG, Beschl. v. 14.10.2003 – 1 BvR 901/03 –, juris Rn. 11; BVerwG, Beschl. v. 23.7.2003 – 1 B 386/02 –, juris Rn. 3; Neumann/Schaks, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 36) entscheiden wird.
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Die Entscheidung über die Beiordnung beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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