Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (2. Senat) - 2 O 171/15

Gründe

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Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Ergebnis zu Recht abgelehnt, weil das Verfahren vor der Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch bereits durch übereinstimmende Erledigungserklärungen beendet worden ist und eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe auch nicht ausnahmsweise aus Billigkeitsgründen geboten war.

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Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt regelmäßig nicht mehr in Betracht, wenn das Verfahren in der Hauptsache bereits beendet ist (vgl. Beschl. d. Senats v. 17.02.2015 – 2 O 9/15 –, juris RdNr. 2). Dies folgt insbesondere aus der Beschränkung auf eine „beabsichtigte" Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung und der Funktion der Prozesskostenhilfe, einer bedürftigen Partei den Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz zu ermöglichen. Demgegenüber hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht die Aufgabe, finanziell bedürftige Personen für prozessbedingte Kosten bzw. dafür eingegangene Verpflichtungen nachträglich zu entschädigen. Eine rückwirkende Gewährung von Prozesskostenhilfe nach Abschluss des Verfahrens ist allerdings aus Gründen der Billigkeit in besonders gelagerten Einzelfällen angebracht. Sie kann ausnahmsweise in Fällen geboten sein, in denen die sachlichen Voraussetzungen für die Bewilligung zu einem früheren Zeitpunkt, als die Rechtsverfolgung noch beabsichtigt war, vorgelegen haben und es lediglich in Folge eines Versäumnisses des Gerichts nicht zu einer rechtzeitigen Entscheidung über den Bewilligungsantrag gekommen ist (vgl. OVG LSA, Beschl. v. 24.08.2011 – 1 O 128/11 –, juris). Gleiches gilt, wenn der Kläger vor dem Wegfall der Rechtshängigkeit alles ihm Zumutbare getan hat, um eine Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag zu erreichen (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 20.05.2014 – 11 PA 186/13 –, juris RdNr. 8).

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Hiernach kommt eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe zugunsten der Klägerin nicht in Betracht. Im Zeitpunkt der Entscheidung über ihr Prozesskostenhilfegesuch am 11.11.2015 ist das verwaltungsgerichtliche Verfahren bereits beendet gewesen. Der Rechtsstreit ist durch die übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten vom 14.10.2015 und 30.10.2015 beendet worden.

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Es ist auch nicht aus Gründen der Billigkeit geboten, ausnahmsweise rückwirkend Prozesskostenhilfe zu gewähren. Die sachlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe lagen auch vor der Beendigung des Verfahrens durch die übereinstimmenden Erledigungserklärungen nicht vor, denn die Klage hatte keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Zwar dürfte dies – anders als das Verwaltungsgericht in seinem Einstellungsbeschluss vom 11.11.2015 angenommen hat, nicht daraus folgen, dass sich der Festsetzungsbescheid vom 04.12.2014 nach Durchführung der Ersatzvornahme erledigt hat (vgl. OVG NW, Urt. v. 13.06.2006 – 13 A 623/04 –, juris RdNr. 37). Das Verwaltungsgericht hat jedoch im Ergebnis zu Recht angenommen, dass die erhobene Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte, weil es an einem Rechtsschutzbedürfnis für die von der Klägerin erhobene Klage auf Erlass eines Widerspruchsbescheides fehlte.

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Eine auf Erlass eines Widerspruchsbescheides gerichtete Klage ist regelmäßig – so auch hier – unzulässig (vgl. BayVGH, Beschl. v. 01.07.2013 – 7 ZB 13.305 –, juris RdNr. 12; HessVGH, Beschl. v. 15.10.2013 – 6 A 1492/13.Z –, juris RdNr. 16). Der Senat schließt sich der in der Rechtsprechung überwiegend vertretenen Auffassung an, dass – mit Ausnahme einer hier nicht vorliegenden Drittwiderspruchskonstellation – grundsätzlich kein subjektives Recht auf den Erlass eines Widerspruchsbescheids besteht (vgl. VG Neustadt , Urt. v. 21.04.2010 – 1 K 1171/09.NW –, juris RdNr. 24 ff.). Dies erschließt sich bereits aus der gesetzlichen Systematik. Denn § 79 Abs. 2 VwGO eröffnet zwar in Ergänzung der Regelungen zur Anfechtungsklage die Möglichkeit, einen Widerspruchsbescheid isoliert anzufechten. Eine entsprechende gesetzliche Erweiterung der Regelungen zur Verpflichtungsklage dahin gehend, dass auf den Erlass eines Widerspruchsbescheids geklagt werden darf, kennt die Verwaltungsgerichtsordnung allerdings nicht. § 68 Abs. 2 VwGO verdeutlicht vielmehr, dass die Verpflichtungsklage sich auf die Vornahme eines abgelehnten Verwaltungsakts, nicht aber auf einen Widerspruchsbescheid, bezieht. Die Regelungen der §§ 68 ff. VwGO beschreiben somit vorprozessuale Obliegenheiten, enthalten aber keine isoliert einklagbaren Rechte und Pflichten innerhalb des Verwaltungsrechtsverhältnisses; die rechtlichen Interessen der Klägerseite sind insoweit durch die Möglichkeit der Erhebung einer Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO hinreichend geschützt (vgl. SächsOVG, Beschl. v. 13.05.2009 – 1 A 62/08 –, juris RdNr. 24 m.w.N.). § 68 VwGO beschränkt sich also aus kompetenzrechtlichen Gründen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) auf die Verpflichtung, regelmäßig vor Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes ein Vorverfahren durchlaufen zu müssen; eine Anspruchsposition auf Erlass eines Widerspruchsbescheids lässt sich hieraus nicht ableiten (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 24.04.2009 – 4 PA 276/09 –, juris RdNr. 14). Dies bestätigt auch § 75 VwGO, der für den Fall der Untätigkeit der Widerspruchsbehörde nur bestimmt, dass nach Ablauf der dort genannten Frist der materielle Verpflichtungsanspruch unmittelbar, das heißt ohne Durchführung eines Vorverfahrens, mit der entsprechenden Klage verfolgt werden darf (NdsOVG, Beschl. v. 24.04.2009 – 4 PA 276/09 –, a.a.O.). Hingegen begründet § 75 VwGO keine den Katalog der VwGO erweiternde Klageart auf Erlass eines Widerspruchsbescheids. Die Untätigkeitsklage ist somit lediglich eine besondere Spielart der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage und kann im Falle eines Verpflichtungsbegehrens nur auf Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts gerichtet sein. Dies gilt umso mehr, als der Gesetzgeber in § 113 Abs. 5 VwGO den Gerichten vorgibt, in welcher Weise ein Verpflichtungsbegehren zum Gegenstand eines gerichtlichen Urteilsausspruchs zu machen ist, ohne dort die Verpflichtung zum Erlass eines Widerspruchsbescheids anzuführen. Schließlich führt selbst die Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften im Vorverfahren, wenn der Widerspruchsbescheid darauf beruht, gemäß § 79 Abs. 2 VwGO nur zur Aufhebung des Widerspruchsbescheids; ein Verpflichtungsausspruch gegenüber der Widerspruchsbehörde, einen (erneuten) Widerspruchsbescheid zu erlassen, erfolgt hingegen nicht (NdsOVG, Beschl. v. 24.04.2009 – 4 PA 276/09 –, a.a.O.).

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Die Zulässigkeit einer auf den Erlass eines Widerspruchsbescheids gerichteten Klage kann auch nicht aus einer vermeintlichen Regelungslücke der Verwaltungsgerichtsordnung hergeleitet werden. Das Rechtsschutzsystem der Verwaltungsgerichtsordnung ist insoweit lückenlos, weil der Gesetzgeber für den Fall der Nichtentscheidung über einen Widerspruch in § 75 VwGO mit der Möglichkeit der Erhebung einer Anfechtungsklage ohne vorausgegangenes Vorverfahren eine den klägerischen Interessen hinreichend Rechnung tragende Regelung getroffen hat. Zudem bestimmt § 75 Satz 3 VwGO, dass das Gericht im Falle eines zureichenden Grundes für eine noch nicht erfolgte Entscheidung über einen Widerspruch das Verfahren unter Fristsetzung aussetzt. Eine Verurteilung zum Erlass eines Widerspruchsbescheids sieht die Verwaltungsgerichtsordnung auch in dieser Konstellation nicht vor. Schließlich kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, er habe in der Verwaltungsgerichtsordnung ungewollt eine Regelungslücke gelassen, soweit es den hier streitigen Anspruch auf Erlass eines Widerspruchsbescheids betrifft. Hiergegen spricht, dass der Gesetzgeber mit §§ 79 Abs. 2 und 115 VwGO den Anwendungsbereich der Anfechtungsklage um die isolierte Anfechtung eines Widerspruchsbescheids erweitert hat. Da dem Gesetzgeber aber die Verpflichtungsklage als "Pendant" der Anfechtungsklage geläufig war (vgl. z.B. § 68 Abs. 2 VwGO), kann ihm nicht unterstellt werden, er habe eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Verpflichtungsklage um die Möglichkeit der isolierten Verpflichtung auf Erlass eines Widerspruchsbescheids schlicht vergessen.

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Zuletzt sprechen auch prozessökonomische Erwägungen gegen eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Verpflichtungsklage. Denn im Rahmen einer nach den Vorgaben der Verwaltungsgerichtsordnung zulässigen Untätigkeitsklage kann ein Kläger ohne weitere Verzögerung eine gerichtliche Entscheidung über sein Anfechtungsbegehren herbeiführen. Die dennoch auf Erlass eines Widerspruchsbescheids gerichtete Klage führte hingegen zu einer zeitlichen Verschleppung der rechtsverbindlichen Klärung, ohne dass aus Sicht des Bürgers hierdurch eine größere Richtigkeitsgewähr der Rechtskontrolle erreicht würde. Zwar hat sich die Rechtsprechung bei der Prüfung, ob ein Anspruch auf Erlass eines Widerspruchsbescheids besteht, im Wesentlichen mit gebundenen Entscheidungen befasst (vgl. auch Beschl. d. Senats v. 20.05.2009 – 2 O 22/09 –, juris RdNr. 3). Die aufgezeigten systematischen Erwägungen zu den §§ 68, 75, 79 Abs. 2, 113 Abs. 5 und 114 VwGO gelten jedoch nicht nur für gebundene Entscheidungen, sondern auch im Falle eines der Behörde eingeräumten Ermessens. Denn die Frage der Ausgestaltung des gesetzlichen Klagekatalogs und die prozessuale Zulässigkeit einer Klage hängen insoweit nicht von der dem materiellen Recht zuzuordnenden Frage ab, ob die maßgebliche Norm eine gebundene oder eine Ermessensentscheidung erfordert (vgl. umfassend: VG Neustadt , Urt. v. 21.04.2010 – 1 K 1171/09.NW –, a.a.O.).

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Die Klägerin hat auch nicht alles ihr Zumutbare getan, um eine Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag noch vor Wegfall der Rechtshängigkeit zu erreichen. Sie hat mit Schriftsatz vom 14.10.2015 den Rechtsstreit ohne weitere Einschränkungen für erledigt erklärt. Sie hätte jedoch eine Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag noch vor Wegfall der Rechtshängigkeit dadurch erreichen können, dass sie die Erledigungserklärung erst nach einer Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag abgibt. Hat es der bedürftige Prozessbeteiligte selbst in der Hand, eine Entscheidung des Gerichts zum Prozesskostenhilfeantrag zu erreichen, bevor die Rechtshängigkeit wegfällt, ist für Billigkeitserwägungen kein Raum (OVG MV, Beschl. v. 03.06.2005 – 1 O 55/05 –, juris RdNr. 9 ff.).

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

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Dieser Beschluss ist unanfechtbar.


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