Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 11 A 4357/19
Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e :
2Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.
3Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu den allein geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. „Ernstliche Zweifel“ i. S. d. Gesetzes sind gegeben, wenn die Richtigkeit des angefochtenen Urteils einer weiteren Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist.
4Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2002 ‑ 7 AV 1.02 ‑, Buchholz 310 § 124b VwGO Nr. 1 = juris, Rn. 7.
5Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen.
6Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004- 7 AV 4.03 -, Buchholz 310 § 124 VwGO Nr. 33, S. 9.
7Hiervon ausgehend legt die Klägerin mit ihrem Zulassungsantrag ernstliche Zweifel nicht dar.
8Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Klägerin, die Beklagte zu verpflichten, ihr im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens einen Aufnahmebescheid zu erteilen, mit der Begründung abgelehnt, das Ausgangsverfahren sei bestandskräftig abgeschlossen worden und die Klägerin könne sich nicht mit Erfolg auf Wiederaufgreifensgründe berufen.
9Das für die Prüfung maßgebliche Zulassungsvorbringen (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der Klägerin stellt dies nicht in Frage.
10I. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass das Ausgangsverfahren bestandskräftig abgeschlossen worden ist.
111. Der Bescheid vom 19. Januar 2004, mit dem das Bundesverwaltungsamt einen Aufnahmeantrag der Klägerin abgelehnt hat (Az. IIIB2/SU-1348603/1), ist - anders als die Klägerin meint - nicht „ohnehin nichtig“.
12a) Die Klägerin hat im Jahr 2004 keinen Aufnahmeantrag gestellt. Zwar ist dem Bundesverwaltungsamt der mit Angaben zur Klägerin ausgefüllte amtliche Vordruck „Ergänzungsbogen S/Abkömmling“ am 19. September 2000 übersandt worden. Hieraus lässt sich indes nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit eine Antragstellung entnehmen. Dies folgt schon aus dem Umstand, dass im Antragsformular des Vaters der Klägerin in der Rubrik „Folgende Familienangehörige haben gleichzeitig mit dem/der Aufnahmebewerber/in eigene Anträge auf Aufnahme gestellt“ die Klägerin keine Erwähnung findet und sie stattdessen in der Rubrik „weitere Familienangehörige des Spätaussiedlers (§ 8 Abs. 2 BVFG)“ geführt wird. Die Angaben bezüglich der Klägerin ließen daher nicht eindeutig darauf schließen, dass beabsichtigt war, auch für die Klägerin einen eigenen Aufnahmeantrag zu stellen.
13b) Die fehlende Antragstellung führt nicht zur Nichtigkeit des Bescheids vom 19. Januar 2004.
14Gemäß § 44 Abs. 1 VwVfG, der einzig in Betracht zu ziehenden Norm, ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist.
15Ein fehlender Antrag bei einem mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsakt - wie hier - führt nicht zu dessen Nichtigkeit. Dies lässt sich der Regelung in § 45 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG entnehmen. Danach ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach § 44 VwVfG nichtig macht, unbeachtlich, wenn der für den Erlass des Verwaltungsaktes erforderliche Antrag nachträglich gestellt wird. Andernfalls bliebe für die dort vorgesehene Heilung durch nachträgliche Antragstellung kein Anwendungsfall. Die Heilungsvorschrift des § 45 VwVfG bezieht sich auf rechtswidrige, nicht etwa auf nichtige Verwaltungsakte. Ein nichtiger Verwaltungsakt kann nicht geheilt werden.
16Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. Oktober 2019- 1 A 2413/17 -, juris, Rn. 17, und vom 29. Mai 2006- 19 A 1483/06.A -, juris, Rn. 11, sowie Urteil vom 13. August 2008 - 1 A 157/07 -, juris, Rn. 56 ff.; VGH München, Urteil vom 10. September 1991- 19 BZ 90.30695 -, NVwZ-RR 1992, 328; Schemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, BeckOK, Stand: 1. April 2020, § 44 Rn. 31, Müller, in: Huck/Müller, VwVfG, Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 44 Rn. 11; Leisner-Egensperger, in: Mann/Senne-kamp/Uechtritz, VwVfG, Kommentar, 2. Aufl. 2019, § 44 Rn. 16; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 20. Aufl. 2019, § 44 Rn. 21; Ziekow, VwVfG, Kommentar, 4. Aufl. 2019, § 44 Rn. 8; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, Kommentar, 9. Aufl. 2018, § 44 Rn. 107; in diese Richtung auch OVG Koblenz, Urteil vom 24. Juni 1992- 11 A 10189/92 -, juris, Rn. 17; a. A. BSG, Urteil vom 15. Oktober 1981 - 5b/5 RJ 90/80 -, juris, Rn. 17, indes ohne Berücksichtigung von § 45 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG bzw. des am 1. Oktober 1981 in Kraft getretenen § 41 Abs. 1 Nr. 1 SGB X als der entsprechenden sozialgesetzlichen Verfahrensbestimmung.
17Von diesem Grundsatz werden in der Rechtsprechung und Literatur teilweise Ausnahmen gemacht. Es wird vertreten, ein mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt, der auf den Erlass eines Statusakts gerichtet sei, sei ohne entsprechenden Antrag nichtig. Dies gelte für das Beamtenrecht und das Staatsangehörigkeitsrecht.
18Vgl. dazu: OVG Lüneburg, Beschluss vom 20. April 1994 - 2 M 130/94 -, juris, Rn. 5 f. (Entlassung aus dem Beamtenverhältnis ohne entsprechenden Antrag); Ziekow, VwVfG, Kommentar, 4. Aufl. 2019, § 44 Rn. 8, sowie Schemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, BeckOK, Stand: 1. April 2020, § 44 Rn. 31 mit Verweis auf Ziekow; Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, Kommentar, 9. Aufl. 2018, § 44 Rn. 108 nimmt Nichtigkeit ferner an, wenn eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung ohne Antrag erteilt wird; Nichtigkeit allein für Sachverhalte mit Bezug zu §§ 16, 23 StAG bejahend Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 20. Aufl. 2019, § 44 Rn. 21. Hingegen geht die beamtenrechtliche Rechtsprechung des OVG NRW davon aus, bei Fehlen eines Antrags auf Entlassung sei der entsprechende Bescheid (lediglich) rechtswidrig, OVG NRW, Beschluss 28. Oktober 2019- 1 A 2413/17 -, juris, Rn. 17.
19Ferner wird in der - vor Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes am 1. Januar 1977 - ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Auffassung vertreten, es stelle einen schweren Verfahrensverstoß dar, wenn bei einem zweiseitigen Verwaltungsakt der betroffene Private nicht beteiligt wurde und seine Mitwirkung als unerlässliche Voraussetzung für das Zustandekommen des Verwaltungsakts, wie etwa beim Beamtenverhältnis, erscheine.
20Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1971- IV C 36.68 -, DÖV 1972, 173 (174) = juris, Rn. 16; (wohl) hierauf ohne nähere Begründung abzielend Leisner-Egensperger, in: Mann/Sennekamp/Uech-tritz, VwVfG, Kommentar, 2. Aufl. 2019, § 44 Rn. 16; a. A. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 20. Aufl. 2019, § 44 Rn. 21, der auch im Fall von „zweiseitigen“ Verwaltungsakten eine Nichtigkeit ablehnt.
21Ob diesen Ansätzen zu folgen ist, bedarf keiner Entscheidung. Denn ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Die Erteilung eines Aufnahmebescheids nach dem Bundesvertriebenengesetz stellt keinen Statusakt dar. Der Status als Spätaussiedler wird erst durch die Bescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG festgestellt. Demgegenüber wird der Aufnahmebescheid aufgrund einer vorläufigen Prüfung der Voraussetzungen der Spätaussiedlereigenschaft erteilt.
22Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 19. April 1994- 9 C 20.93 -, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 72, S. 8 = juris, Rn. 17.
23Auch die weiteren Fallgruppen, für die unter Berücksichtigung des einschlägigen Rechtsgebiets (zum Teil) eine Ausnahme angenommen wird, sind nicht einschlägig.
242. Der Einwand im Zulassungsantrag, der Bescheid sei „der Klägerin nicht wirksam bekanntgegeben“ worden, es handele sich vielmehr um ein „Verwaltungsinternum“, greift nicht durch. Denn der Bescheid vom 19. Januar 2004 (Az. IIIB2/SU-1348603/1) ist wirksam bekanntgegeben worden.
25Gemäß § 8 Abs. 1 VwZG i. d. F. vom 25. Juni 2001 (VwZG 2001) können Zustellungen an den allgemein oder für bestimmte Angelegenheiten bestellten Vertreter gerichtet werden (Satz 1). Sie sind an ihn zu richten, wenn er schriftliche Vollmacht vorgelegt hat (Satz 2). Nach § 9 VwZG 2001 gilt ein Schriftstück als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat, wenn sich die formgerechte Zustellung eines Schriftstücks nicht nachweisen lässt oder das Schriftstück unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
26a) Das Verwaltungszustellungsgesetz i. d. F. vom 25. Juni 2001 ist anwendbar. Ausweislich des Begleitschreibens ist der die Klägerin betreffende Bescheid vom 19. Januar 2004 (Az. IIIB2/SU-1348603/1) Frau B. T. per Einwurf-Einschreiben übersandt worden. Das Bundesverwaltungsamt beabsichtigte folglich eine Zustellung.
27b) Der Bescheid vom 19. Januar 2004 war an Frau B. T. zu richten. Diese war insoweit wirksam bevollmächtigt und hatte eine schriftliche Vollmacht vorgelegt.
28Im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids vom 19. Januar 2004 war die am 5. Januar 1987 geborene Klägerin 17 Jahre alt und damit nicht handlungsfähig i. S. v. § 12 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG sind fähig zur Vornahme von Verfahrenshandlungen natürliche Personen, die nach bürgerlichem Recht geschäftsfähig sind. Bei ausländischen natürlichen Personen bestimmt sich die Handlungsfähigkeit entsprechend Art. 7 Abs. 1 EGBGB nach dem Recht des Staates, dem die Person angehört.
29Vgl. Sennekamp, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, Kommentar, 2. Aufl. 2019, § 12 Rn. 13.
30Nach Art. 17 Abs. 1 des Kasachischen Zivilgesetzbuchs vom 27. Dezember 1994 sind Personen, die das 18. Lebensjahr erreichen, geschäftsfähig.
31Vgl. Abdruck der Norm bei Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Kommentar, 235. Egl. 2020, Kasachstan, S. 37.
32Diese Voraussetzung erfüllte die Klägerin im Jahr 2004 nicht.
33Die Klägerin war zu diesem Zeitpunkt auch nicht gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG aufgrund besonderer Vorschriften des bürgerlichen Rechts oder des öffentlichen Rechts handlungsfähig.
34Vielmehr war ihr Vater - ihre Mutter verstarb bereits im Jahr 1990 - als ihr gesetzlicher Vertreter befugt, Dritte zur Entgegennahme von - die Klägerin betreffenden - Bescheiden zu bevollmächtigen.
35Vgl. zum gesetzlichen Vertretungsrecht der Eltern eines Kindes in Kasachstan Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Kommentar, 122. Egl. 1995, Kasachstan, S. 43; zur aktuellen Rechtslage Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Kommentar, 235. Egl. 2020, Kasachstan, S. 62.
36Dem folgend heißt es in der vom Vater der Klägerin ausgefüllten Vollmachtsurkunde, die im Jahr 2000 beim Bundesverwaltungsamt einging:
37„Hiermit bevollmächtige ich ‚T. , B. , Wiesenstr. 87, 58642 Iserlohn‘ für mich und meine minderjährigen Kinder das Aussiedleraufnahmeverfahren nach den §§ 27 und 28 BVFG durchzuführen. Die Vollmacht umfaßt auch die Durchführung eines möglichen Widerspruchs- und Klageverfahrens sowie die Entgegennahme von Bescheiden und sonstigen Schreiben.“
38Damit war Frau B. T. im Jahr 2004 wirksam zum Empfang von die Klägerin betreffenden Bescheiden des Bundesverwaltungsamts bevollmächtigt.
39c) Der Bescheid vom 19. Januar 2004 (Az. IIIB2/SU-1348603/1) ist Frau B. T. zwar in Form eines Einwurf-Einschreibens und damit unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen. Denn in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts war geklärt, dass das Einwurf-Einschreiben nicht den Anforderungen, die § 2 Abs. 1 VwZG in der Fassung vom 14. Dezember 1976, gültig bis 31. Januar 2006, an die Zustellung eines Schriftstücks stellte, genügte.
40Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000- 9 C 7.00 -, NJW 2001, 458 = juris, Rn. 8.
41Dieser Fehler ist jedoch gemäß § 9 VwZG 2001 geheilt worden. Der Bescheid ist Frau B. T. nachweislich zugegangen. Dies folgt bereits aus dem Umstand, dass die Kanzlei X. & I. mit Schreiben vom 24. Februar 2004 gegen den Bescheid vom 19. Januar 2004 (Az. IIIB2/SU-1348603/1) Widerspruch eingelegt hat.
423. Der Bescheid vom 19. Januar 2004 (Az. IIIB2/SU-1348603/1) ist bestandskräftig geworden.
43a) Wenn man mit dem Zulassungsantrag annimmt, der Vater der Klägerin habe die Vollmacht der Kanzlei X. & I. für die damals noch minderjährige Klägerin am 24. Februar 2004 als deren gesetzlicher Vertreter unterschrieben, so wären die Rechtsanwälte wirksam bevollmächtigt worden und hätten dementsprechend wirksam Widerspruch eingelegt. Der Widerspruchsbescheid vom 24. August 2004 wäre ihnen zugestellt worden und - in der Gestalt des Ausgangsbescheids vom 19. Januar 2004 - bestandskräftig geworden.
44b) Wenn man der Ansicht der Beklagten folgte, die Klägerin habe die Vollmachtsurkunde selbst unterschrieben - wofür nach Vergleich der Unterschriften unter den eingereichten Vollmachten einiges spricht -, hätte die Kanzlei X. & I. als vollmachtloser Vertreter gehandelt. Denn die Klägerin war aufgrund ihrer Minderjährigkeit zum damaligen Zeitpunkt nicht handlungsfähig und damit auch verfahrensrechtlich nicht fähig, wirksam einen Bevollmächtigten zu bestellen.
45Der Widerspruch eines vollmachtlosen Vertreters ist indes unwirksam.
46Vgl. für den Fall einer durch einen vollmachtlosen Vertreter eingelegten Berufung: OVG NRW, Beschluss vom 12. Januar 1993 - 22 A 1122/92 -, NJW 1993, 3155 = juris, Rn. 1.
47Dass das Bundesverwaltungsamt den Widerspruch dennoch inhaltlich geprüft und beschieden hat, ändert daran nichts. Auch in diesem Falle wäre das Ausgangsverfahren bestandskräftig abgeschlossen.
48c) Unterstellt, eine dritte Person hätte die die Klägerin betreffende Vollmacht der Kanzlei X. & I. unterschrieben, läge wiederum ein Fall eines vollmachtlosen Vertreters vor, mit der Folge, dass auch insoweit das Ausgangsverfahren bestandskräftig abgeschlossen wäre.
49II. Das Verwaltungsgericht hat darüber hinaus zu Recht den geltend gemachten Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens auf der Grundlage von § 51 Abs. 5 VwVfG i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG verneint. Es kann offenbleiben, ob die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG vorliegen. Eine Aufhebung kommt, selbst wenn diese Voraussetzungen als erfüllt anzusehen wären und der einen Antrag der Klägerin auf Erteilung eines Aufnahmebescheids ablehnende Bescheid vom 19. Januar 2004 (ggfls. in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. August 2004) rechtswidrig gewesen sein sollte, nicht in Betracht.
50Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ ist, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt. Allein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begründet keinen Anspruch auf Rücknahme, da der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung der Behörde ist. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann „schlechthin unerträglich“, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, dessen Rücknahme begehrt wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich.
51Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2018- 1 C 26.17 -, Buchholz 412.3 § 27 BVFG Nr. 25 = juris, Rn. 31.
52Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn an dem Verstoß der streitigen Maßnahme gegen formelles oder materielles Recht vernünftigerweise kein Zweifel besteht und sich deshalb die Rechtswidrigkeit aufdrängt. Anders als bei der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts nach § 44 Abs. 1 VwVfG NRW ist es nicht erforderlich, dass der Verwaltungsakt an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig erweist, ist in der Regel der Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts. Die die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts möglicherweise gebietende Offensichtlichkeit fehlt damit, wenn die Evidenz des Rechtsfehlers erst später ersichtlich wird.
53Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007- 6 C 32.06 -, NVwZ 2007, 709 (710) = juris, Rn. 15.
54Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Aufrechterhaltung der bestandskräftigen Ablehnung des damaligen Antrags auf Erteilung eines Aufnahmebescheids nicht „schlechthin unerträglich“.
55Das Zulassungsvorbringen zeigt eine offensichtliche Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 19. Januar 2004 (ggfls. in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. August 2004, Az. IIIB2/SU-1348603/1) aufgrund einer fehlenden Antragstellung nicht auf. Der Verstoß gegen formelles Recht ist nicht als evident anzusehen. Die Angaben im damaligen Verwaltungsverfahren waren aufgrund der für eine Antragstellung sprechenden - und vom Vater der Klägerin veranlassten - Zusendung des „Ergänzungsbogens S/Abkömmling“ einerseits und der Eintragungen im Antragsformular des Vaters der Klägerin andererseits jedenfalls mehrdeutig. Der Zulassungsantrag irrt in diesem Zusammenhang, wenn er meint, in der Übersendung des „Ergänzungsbogens/Abkömmling S“ könne von vornherein keine Antragstellung gesehen werden. Denn im Antragsformular für einen Aufnahmebescheid wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Abkömmling, der als Spätaussiedler anerkannt werden will, dies durch Übersendung des „Ergänzungsbogens/Abkömmling S“ beantragen muss. Daher liegen die Voraussetzungen einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit nicht vor. Die Aufrechterhaltung ist mit Blick darauf auch deshalb nicht „schlechthin unerträglich“, weil die Mehrdeutigkeit allein Folge der unterschiedlichen Angaben des Vaters der Klägerin als ihrem gesetzlichen Vertreter ist.
56Es werden auch keine sonstigen Umstände dargelegt, die für einen wegen unterschiedlicher Ausübung der Rücknahmebefugnis verursachten Verstoß gegen das Gleichheitsgebot sprechen oder die ein Festhalten an der bestandskräftigen Ablehnung als einen Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Die bloße Behauptung im Zulassungsantrag, es sei seitens der Beklagten „grob treuwidrig“, sich auf die Bestandskraft zu berufen, genügt insofern nicht.
57Die Beklagte hat ihr Ermessen über das Wiederaufgreifen des Verfahrens fehlerfrei zulasten der Klägerin ausgeübt. Ist die Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts nicht „schlechthin unerträglich" und das Wiederaufgreifensermessen damit nicht auf Null reduziert, ist es in aller Regel und so auch hier ermessensfehlerfrei, wenn die Behörde dem Aspekt der Rechtssicherheit den Vorzug gibt. Ins Einzelne gehender Ermessenserwägungen bedarf es insoweit nicht.
58Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 20. November 2018- 1 C 23.17 -, Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 63 = juris, Rn. 30.
59Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
60Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
61Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.
62Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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