Urteil vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (8. Senat) - 8 A 10638/18

Tenor

Auf die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 20. Dezember 2017 teilweise abgeändert und die Klage auch hinsichtlich des Verpflichtungsbegehrens abgewiesen. Die Anschlussberufung der Kläger wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge haben die Kläger zu tragen, einschließlich 4/5 der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen; im Übrigen trägt die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren die Verpflichtung des Beklagten zur Zulassung einer Abweichung von den bauordnungsrechtlichen Anforderungen an Abstandsflächen und Brandwände sowie die Aufhebung einer Baueinstellungsverfügung.

2

Sie sind Eigentümer des Grundstückes Gemarkung W., Flur 45, Flurstück Nr. 264. Das Flurstück war mit einem früher als Schreinereiwerkstatt genutzten Gebäude bebaut. Das Gebäude hielt zu dem nordöstlichen Nachbarflurstück Nr. 265, das im Eigentum der Beigeladenen steht, einen Abstand von 1,91 m im Nordwesten und einen Abstand von 1,54 m im Nordosten ein. Eine Erschließung der Parzelle Nr. 264 ist nur über die Parzelle Nr. 265 zur H. Straße hin möglich.

3

Nach dem Vorbringen der Kläger erwarben sie das Flurstück Nr. 264 mit notariellem Kaufvertrag vom 28. Februar 2014. Im April / Mai 2014 hätten ihnen Statiker Dipl.-Ing. P. und Architekt Dipl.-Ing. L. bestätigt, dass das Werkstattgebäude eine renovierungsfähige Substanz aufweise.

4

Am 1. September 2014 (Eingangsvermerk Bauaufsichtsbehörde: 8. September 2014) beantragten die Kläger die Erteilung einer Baugenehmigung im vereinfachten Verfahren für das Vorhaben „Nutzungsänderung Werkstattgebäude, geringfügige Änderung mit Erweiterung des Anbau Süd“. Nach den eingereichten Planunterlagen sollte das Gebäude in seiner äußeren Gestalt und seinem Umfang im Wesentlichen unverändert bleiben, mit Ausnahme der Neuerrichtung des südwestlichen Anbaus an das Werkstattgebäude.

5

Mit E-Mail vom 23. September 2014 reichte Dipl.-Ing. A. der Baubehörde die am 13. August 2014 erstellte statische Berechnung zu den vorhandenen Mittel- und Firstpfetten der Dachkonstruktion mit der Bemerkung ein, dass die Dachpfetten stark unterdimensioniert gewesen seien. In der Antwort-E-Mail vom 24. September 2014 wies der Baukontrolleur darauf hin, dass die Erneuerung der Dachkonstruktion vor ihrer Ausführung einer Baugenehmigung bedürfe und bei einem Abriss der Bestandsschutz erlösche.

6

Nach dem Vorbringen der Kläger sei bereits am 15. September 2014 der Zimmermeister B. zur Neuerrichtung des Dachstuhls beauftragt worden und habe am 29. September 2014 mit der Demontage des Daches begonnen; dabei habe er festgestellt, dass die Tragfähigkeit der Fachwerkkonstruktion nicht gegeben sei. Deshalb sei noch am 29. September 2014 Kontakt mit der Firma D. aufgenommen worden, die nach Angebot vom 1. Oktober 2014 und der Auftragserteilung am 5. November 2014 ab dem 11. November 2014 erste Bauteile für eine neue selbsttragende hölzerne Gebäudestruktur geliefert habe. Diese Struktur sei am 14. November 2014 fertiggestellt gewesen, woraufhin die Firma B. am 19. November 2014 mit der Errichtung des Dachstuhls begonnen habe.

7

Am 25. September 2014 hatte die SGD Nord die wasserrechtliche Ausnahmegenehmigung für den Umbau des Werkstattgebäudes in ein Wohnhaus im gesetzlichen Überschwemmungsgebiet der Ruwer mit der Begründung erteilt, dass durch die beantragte Baumaßnahme gegenüber dem derzeitigen Geländezustand kein wesentlicher Retentionsraum verbaut und der bestehende Hochwasserschutz nicht beeinträchtigt werde. Mit notariellem Vertrag vom 16. Oktober 2014 hatte die Beigeladene zugunsten des Eigentümers des Flurstücks Nr. 264 ein Geh- und Fahrrecht auf ihrem Grundstück Flurstück Nr. 265 gegen ein jährliches Entgelt von 1.200,00 € bewilligt.

8

Am 27. Oktober 2014 erteilte der Beklagte den Klägern im vereinfachten Verfahren die Baugenehmigung für „Umbau/Sanierung einer ehemaligen Werkstatt in Wohnraum“.

9

Am 19. November 2014 teilte der Kläger der Bauaufsichtsbehörde die zwischenzeitlich erfolgte Konzeptänderung mit: Ursprünglich habe man die vorhandene Substanz maximal erhalten wollen. Es habe sich dann aber herausgestellt, dass das Fachwerk im Erdgeschoss sehr stark marode und angegriffen gewesen sei. Dies habe eine vollständige Konzeptänderung notwendig gemacht, wonach die tragende Gebäudestruktur von der Basis her habe erneuert werden müssen. Allerdings habe man die Balken-/Fachwerkkonstruktion zumindest optisch erhalten wollen. Dies sei dadurch geschehen, dass eine Holzkonstruktion in das vorhandene bzw. noch bestehende Fachwerkgerüst eingebaut worden sei.

10

Mit Bescheid vom 20. November 2014 verfügte der Beklagte daraufhin die Einstellung der Bauarbeiten.

11

Per E-Mail vom 1. Dezember 2014 teilte die SGD Nord dem Kläger mit, dass die wasserbehördliche Ausnahmegenehmigung vom 25. September 2014 im Vergleich zu den jetzt besichtigten Maßnahmen unter völlig anderen Voraussetzungen erteilt worden sei. Der jetzt vorliegende Neubau im gesetzlichen Überschwemmungsgebiet sei mit der Rechtsverordnung nicht vereinbar.

12

Mit Schreiben ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 8. Dezember 2014 stellten die Kläger ein Nachtragsbaugesuch für die Nutzungsänderung des Werkstattgebäudes. Der neu eingereichte Plan vom 3. Dezember 2014 weist als Bestand lediglich die Bodenplatte sowie die Wände des ehemaligen „Bankraums“ im Südosten des Werkstattgebäudes aus. Im Übrigen sollen Außenwände, Zwischendecke und Dachstuhl neu errichtet werden.

13

In der Sitzung vom 26. Januar 2015 verweigerte der Gemeinderat der Beigeladenen sein Einvernehmen zu dem Nachtragsbaugesuch mit der Begründung, dass das jetzige Bauvorhaben nicht mehr identisch sei mit dem ursprünglichen Umbauvorhaben; der bislang bestehende Bestandsschutz sei entfallen; für die Neuerrichtung des Gebäudes würden die Abstandsflächen nicht eingehalten.

14

Mit Bescheid vom 17. März 2015 lehnte die SGD Nord den Antrag der Kläger auf Erteilung einer wasserrechtlichen Ausnahmegenehmigung für die Errichtung eines Wohngebäudes im festgesetzten Überschwemmungsgebiet der Ruwer mit der Begründung ab, dass Gegenstand des jetzigen Antrags ein neues Bauvorhaben sei, das nicht mehr als bloße Instandsetzung des alten Gebäudes gewertet werden könne.

15

Am 24. März 2015 lehnte der Beklagte die Nachtragsbaugenehmigung mit der Begründung ab, dass das Vorhaben zwar nach § 34 BauGB bauplanungsrechtlich zulässig sei, allerdings gegen sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften in Form der wasserrechtlichen Verbote nach § 78 Abs. 3 WHG verstoße.

16

Am 15. April 2015 wandten sich die Kläger an die Mitglieder des Gemeinderats der Beigeladenen und schilderten aus ihrer Sicht verschiedene Konflikte zwischen ihnen und der Gemeinde. Der darin enthaltenen Bewertung traten die Vertreter der Gemeinde mit Schreiben vom 28. April 2015 entgegen.

17

Am 25. April 2016 verpflichtete sich die SGD Nord in einem vor dem Verwaltungsgericht Trier abgeschlossenen Vergleich zur Erteilung der wasserrechtlichen Ausnahmegenehmigung für das Bauvorhaben der Kläger in Gestalt der Planunterlagen vom 8. Dezember 2014.

18

Mit Urteil vom 10. August 2016 – 5 K 2662/16.TR – verpflichtete das Verwaltungsgericht Trier den Beklagten zur Erteilung der von den Klägern am 8. Dezember 2014 beantragten Nachtragsbaugenehmigung. Den dagegen von dem Beklagten gestellten Berufungszulassungsantrag wies der Senat mit Beschluss vom 12. Dezember 2016 – 8 A 10877/16.OVG – mit der Begründung zurück, dass das Vorhaben bauplanungsrechtlich zulässig sei. Das Sachbescheidungsinteresse für die im vereinfachten Genehmigungsverfahren zu erteilende Baugenehmigung sei auch nicht aus Gründen des Bauordnungsrechts zu verneinen. Wegen des Verstoßes gegen das Abstandsflächenrecht (§ 8 Abs. 6 Satz 3 LBauO) sei die Zulassung einer Abweichung nach § 69 LBauO nicht offensichtlich ausgeschlossen.

19

Daraufhin wurde den Klägern am 22. Dezember 2016 die Nachtragsbaugenehmigung erteilt, mit Verfügung vom selben Tage jedoch die Durchführung weiterer Bauarbeiten mit der Begründung untersagt, dass während des Verfahrens der Abweichungsprüfung keine weiteren Fakten geschaffen werden sollten.

20

Mit Beschluss vom 11. Januar 2017 – 5 L 11443/16.TR – stellte das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Kläger gegen die Baueinstellungsverfügung vom 22. Dezember 2016 mit der Begründung wieder her, dass dem Interesse der Kläger an der Umsetzung des bauplanungsrechtlich genehmigten Vorhabens keine gewichtigen Interessen des Beklagten oder der Beigeladenen entgegenstünden. Das Risiko eines späteren Rückbaus des Gebäudes nach negativem Ausgang des Hauptsacheverfahrens trage allein der Bauherr. Mit Beschluss vom 6. März 2017 – 8 B 10364/17.OVG – lehnte der Senat den Eilrechtsschutzantrag gegen die Baueinstellungsverfügung vom 22. Dezember 2016 in der modifizierten Fassung vom 10. Februar 2017 (Baueinstellung nur noch für den Bereich des Bauwichs) ab. In der Begründung wird ausgeführt, dass die Durchführung von Bauarbeiten im Bereich der Abstandsflächen gegen § 8 LBauO verstoße und hierfür auch keine Abweichung nach § 69 LBauO zugelassen sei. Mit der Baueinstellungsverfügung solle die Entscheidung über die Abweichungsgenehmigung offengehalten und von dem Druck vollendeter Tatsachen freigehalten werden. Dies sei legitim.

21

Im Rahmen des Abweichungsgenehmigungsverfahrens teilte die Beigeladene der Kreisverwaltung gegenüber mit, dass der Gemeinderat mit Beschluss vom 29. August 2016 die Übernahme einer Abstandsbaulast abgelehnt habe. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Kläger für ihren Neubau die Abstandsflächen nicht hätten einhalten können. Es bestehe keine Sozialpflichtigkeit der Ortsgemeinde zur Duldung geringerer Grenzabstände.

22

Mit Bescheid vom 30. Mai 2017 lehnte der Beklagte die begehrte Abweichungsgenehmigung mit der Begründung ab, dass die Interessen der Ortsgemeinde an der Beachtung des Abstandsflächenrechts und der brandschutzrechtlichen Anforderungen des § 30 LBauO Vorrang verdienten, dies insbesondere deshalb, weil es den Klägern möglich gewesen sei, die Abstandsflächen einzuhalten. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 24. August 2017 zurückgewiesen.

23

Die Kläger haben zur Begründung der dagegen erhobenen Klage im Wesentlichen vorgetragen: Die Ablehnung der Abweichungsentscheidung sei ermessensfehlerhaft. Der Abstand zum Nachbargrundstück habe sich seit der ersten Baugenehmigung (Oktober 2014) nicht verändert. Auch damals hätten die Voraussetzungen der Privilegierung nach § 8 Abs. 12 LBauO nicht vorgelegen. Angesichts des mit dem Bauantrag beschriebenen Umfangs der Änderungen, einschließlich der Änderung des Dachs hätte der Bauaufsicht klar sein müssen, dass hier eine erhaltenswerte Bausubstanz nicht mehr vorhanden gewesen sei. Mit der Baugenehmigung vom Oktober 2014 sei deshalb auch die Abstandsflächenfrage bereits beantwortet worden. Das Verhalten der Beigeladenen sei schikanös. Hintergrund sei das Verhalten einer Einzelperson auf Seiten der Beigeladenen. Demgegenüber hätten sie – die Kläger – sich entschlossen, auf die Rechte aus dem Urteil des OVG RP vom 4. April 2017 (Verpflichtung der Beigeladenem zum teilweisen Rückbau eines Wasser-/Geröllbeckens) zu verzichten. Ferner habe man der Beigeladenen am 25. Oktober 2017 ein notarielles Kaufangebot zum Erwerb der Parzelle Nr. 265 zum Preis von 50.000,00 € (160,00 €/m²) unterbreitet, das diese aber ausgeschlagen habe.

24

Dem sind der Beklagte und die Beigeladene entgegengetreten.

25

Das Verwaltungsgericht hat die Anfechtungsklage gegen die Baueinstellungsverfügung vom 22. Dezember 2016 im Wesentlichen aus den Gründen der Eilrechtsschutzentscheidung des Senats vom 6. März 2017 abgewiesen, der Verpflichtungsklage hingegen stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Kläger hätten einen Anspruch auf Zulassung einer Abweichung von den bauordnungsrechtlichen Anforderungen der §§ 8 und 30 LBauO. Das der Behörde nach § 69 LBauO eingeräumte Ermessen sei hier auf null reduziert. Zwar werde dadurch der Wert und die bauliche Nutzbarkeit des Grundstücks der Beigeladenen gemindert. Jedoch habe die Beigeladene konkrete Bauabsichten für die noch bebaubare Fläche von bloß 311 m² nicht dargelegt. Nachdem die Beigeladene die Benutzung ihres Grundstücks als Zuwegung zu dem Schreinereibetrieb jahrzehntelang geduldet habe, sei ihre jetzige Verweigerung objektiv nicht nachvollziehbar. Die Kammer sei aufgrund des Gesamtergebnisses der mündlichen Verhandlung auch überzeugt, dass der jetzige Zustand des klägerischen Gebäudes nicht der ursprünglichen Planung der Kläger entsprochen habe, sondern vielmehr ausschließlich dem Umstand geschuldet sei, dass sich während der ursprünglich geplanten umfassenden Renovierungsarbeiten die fehlende Tragfähigkeit des früher vorhandenen Fachwerks herausgestellt habe. Die Kammer könne sich daher nicht dem Vorbringen der Beigeladenen anschließen, dass die Kläger von Anfang an ihr Gebäude unter Beachtung aller bauordnungsrechtlichen Anforderungen hätten planen können. Ferner sei auch nicht nachvollziehbar, warum die Beigeladene ein ihr unterbreitetes Kaufangebot der Kläger abgelehnt habe. Letztlich seien keine schützenswerten Belange der Beigeladenen ersichtlich, die die Interessen der Kläger überwiegen könnten. Vielmehr stelle sich das Verhalten der Beigeladenen als rechtsmissbräuchlich dar.

26

Zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen trägt zunächst der Beklagte vor: Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung lägen nicht vor. Durch die Erteilung der Abweichungsgenehmigung werde die Nutzbarkeit des Flurstücks Nr. 265 eingeschränkt. Umgekehrt könnten die Kläger einen Vertrauensschutz nicht beanspruchen. Ob die Kläger ursprünglich bloße Renovierungsabsichten hatten, sei unerheblich. Mit Feststellung der fehlenden Tragfähigkeit der Fachwerkskonstruktion habe sich den Klägern die Notwendigkeit einer Neubeurteilung gestellt. Die Umstellung auf tragende Holzelemente verlange Planung und Entscheidung, es handele sich nicht um einen bloßen Automatismus. Dass die Beigeladene nicht zu einem Verkauf des Flurstücks Nr. 265 an die Kläger bereit sei, stelle keinen Rechtsmissbrauch dar. Dass die Kläger das Bauvorhaben bereits ohne Baugenehmigung bzw. ohne bauordnungsrechtliche Zulassungen verwirklicht hätten, dürfe kein Grund für die nachträgliche Erteilung einer Abweichungsentscheidung sein.

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Der Beklagte beantragt,

28

unter teilweiser Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 20. Dezember 2017 die Klage auch hinsichtlich des Verpflichtungsbegehrens abzuweisen und die Anschlussberufung der Kläger zurückzuweisen.

29

Die Beigeladene beantragt,

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unter teilweiser Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 20. Dezember 2017 die Klage auch hinsichtlich des Verpflichtungsbegehrens abzuweisen.

31

Zur Begründung führt sie aus: Den Klägern sei bereits vor Stellung ihres Bauantrags vom 1. September 2014 aufgrund der am 13. August 2014 erstellten Statik klar gewesen, dass sie das zur Genehmigung gestellte Vorhaben nicht würden realisieren können. Die in einer Blitzaktion erfolgte Errichtung des Neubaus aus Holzfertigbauelementen sei trotz des Hinweises der Bauaufsichtsbehörde vom 24. September 2014 auf den Verlust des Bestandsschutzes bei Abriss des Altgebäudes erfolgt. Der Bauantrag vom 1. September 2014 habe nur zur Argumentation gedient, die Genehmigung vom Oktober 2014 decke auch den Neubau ab. Es sei unglaubhaft, dass den Klägern der marode Zustand der tragenden Wände erst bei Errichtung des neuen Dachaufbaus bekanntgeworden sei. Ihr Nutzungsinteresse an dem Flurstück Nr. 265 sei nicht untergeordnet. Beim Erfolg des Verpflichtungsbegehrens der Kläger werde die Ausnutzbarkeit ihres Grundstücks eingeschränkt, der Verlust belaufe sich auf ca. 8 m² Geschossfläche.

32

Die Kläger beantragen,

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die Berufungen zurückzuweisen

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sowie im Wege der Anschlussberufung,

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unter teilweiser Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 20. Dezember 2017 die bauaufsichtliche Verfügung des Beklagten vom 22. Dezember 2016 nebst Zwangsmittelandrohung aufzuheben.

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Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor. Das Verwaltungsgericht habe zu Recht entschieden, dass sie einen Anspruch auf die begehrte Abweichung nach § 69 LBauO hätten. Hierfür sprächen die besonderen Umstände des vorliegenden Falles. Trotz fachkundiger Beratung hätten sie keine Kenntnis davon gehabt, dass ihr ursprünglicher Bauantrag den tatsächlich erforderlichen Umfang der Baumaßnahmen nicht vollständig abgedeckt habe. Ausweislich der vorgelegten Bescheinigungen und Bestätigungen der Fachleute habe die mangelhafte Tragfähigkeit des Dachstuhls nicht durch bloßen Augenschein im Vorfeld der Gebäudesanierung erkannt werden können. Erst nach Beginn der Renovierungs- und Sanierungsarbeiten habe sich herausgestellt, dass sie mit der beantragten Baugenehmigung „zu kurz gesprungen“ seien. Vor Erteilung der Baugenehmigung vom Oktober 2014 hätten die Beigeladenen keinerlei Bedenken gegen das Vorhaben geäußert. Die Beigeladene habe bis heute nicht erklären können, warum der Abstandsflächenverstoß ursprünglich kein Problem gewesen, dann aber mit dem Nachtragsbauantrag zum Problem geworden sei. Deren Behauptung, sie habe gegen die bloße Umnutzung keine Abwehrmöglichkeiten gehabt, sei falsch. Denn einen fortwirkenden Bestandsschutz habe es spätestens seit dem Bauantrag im Jahr 2014 nicht mehr gegeben. Bei der Baugenehmigung von 2014 handele es sich um ein Aliud und nicht um die Perpetuierung eines Bestandsschutzes der ehemaligen Schreinerei. Der Erteilung der Abweichung stünden auch keine nachbarlichen Interessen der Beigeladenen entgegen. Deren Eigentumsrecht sei nicht schutzwürdig, weil deren Grundstück nicht selbstständig baulich nutzbar sei und eine ernstzunehmende Nutzungsabsicht auch nicht bestehe.

37

Die Anschlussberufung sei zulässig und begründet. Die Baueinstellungsverfügung vom 22. Dezember 2016 sei rechtswidrig. Insofern sei zunächst auf die ursprüngliche Verfügung abzustellen, weil die schriftsätzlichen Ausführungen des Beklagten im Eilrechtsschutzverfahren keine Änderung des ursprünglichen Bescheids bewirkt hätten. Aber auch in der modifizierten Form (Einstellung der Bauarbeiten lediglich im Bereich des Bauwichs) sei die Verfügung rechtswidrig, weil eine solche Teilbarkeit der Bauarbeiten tatsächlich nicht möglich sei und der mit der Einstellung zu unterbindende Rechtsverstoß sich bereits manifestiert habe.

38

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

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Die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen haben Erfolg. Die Anschlussberufung der Kläger ist unbegründet.

I.

40

Die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen sind zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Verpflichtungsklage der Kläger, ihnen für ihr Bauvorhaben eine Abweichung von den bauordnungsrechtlichen Anforderungen der §§ 8 und 30 LBauO zu bewilligen, abweisen müssen. Denn ihnen steht ein Anspruch hierauf nicht zu.

41

1. Das Bauvorhaben der Kläger weicht von bauordnungsrechtlichen Anforderungen der Landesbauordnung ab. Dies gilt zunächst für das Abstandsflächenrecht. Denn nach § 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 LBauO müssen die Abstandsflächen von Gebäuden auf dem Baugrundstück selbst liegen und mindestens 3 m tief sein (§ 8 Abs. 6 Satz 3 LBauO). Diesen Anforderungen genügt das Vorhaben der Kläger nicht, denn die nördliche Gebäudewand befindet sich in einem Abstand von weniger als 2 m zum angrenzenden Flurstück Nr. 265. Der Privilegierungstatbestand in § 8 Abs. 12 LBauO findet auf das Vorhaben der Kläger keine Anwendung, da der Raum für die Wohnnutzung nicht durch den Ausbau oder die Nutzungsänderung eines vorhandenen Bestandes mit erhaltenswerter Bausubstanz geschaffen wird, sondern durch eine Neuerrichtung des Gebäudes, lediglich unter Ausnutzung der vorhandenen Bodenplatte unter Einbeziehung des gemauerten Anbaus („Bankraum“). Das Abstandsflächenrecht findet nach § 8 Abs. 12 LBauO in einem Fall, in dem in einem zulässigerweise errichteten, aber gegen das aktuelle Abstandsflächenrecht verstoßenden Gebäude Raum für die Wohnnutzung oder die Entwicklung ansässiger, ortsüblicher Betriebe durch Ausbau oder Nutzungsänderung geschaffen wird, nur dann keine Anwendung, wenn das Gebäude über „eine erhaltenswerte Bausubstanz“ verfügt (§ 8 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 LBauO). Dies setzt voraus, dass das Gebäude nach seiner inneren und äußeren Beschaffenheit einen Erhaltungszustand hat, der nur geringe Missstände und Mängel aufweist, die sich durch einfache Instandhaltungsmaßnahmen ohne größere Sanierungseingriffe beheben lassen (vgl. Jeromin, LBauO, 4. Aufl. 2016, § 8, Rn. 159). Maßgeblich für die Erhaltungswürdigkeit eines Gebäudes ist neben dem Erhaltungszustand des Fundamentes und der Außenwände auch der Zustand des Daches (vgl. OVG RP, Beschluss vom 17. Mai 2001 – 8 B 10576/01.OVG –, juris, Rn. 4; Beschluss vom 26. Juni 2013 – 8 A 10484/13.OVG – [S. 5 d.U., vollständiger Austausch des Dachstuhls keine bloße Instandsetzungsmaßnahme]). Hiernach haben die Kläger das Regime der nach § 8 Abs. 12 LBauO privilegierten Umbaumaßnahmen und Nutzungsänderungen nicht erst mit der Beseitigung der Fachwerkaußenwände des alten Werkstattgebäudes verlassen, sondern bereits mit ihrer Absicht, den Dachstuhl des vorhandenen Gebäudes vollständig zu erneuern. Dass sie diese Absicht von Anfang an hatten, haben die Kläger in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Darüber hinaus verstößt das Bauvorhaben auch gegen die Brandwandpflicht nach § 30 LBauO. Danach sind Brandwände zum Abschluss von Gebäuden herzustellen, soweit die Abschlusswand in einem Abstand bis zu 2,50 m von der Nachbargrenze errichtet wird (§ 30 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 LBauO). Nach § 30 Abs. 8 Satz 1 LBauO sind Öffnungen in Brandwänden unzulässig; Abweichungen können allerdings zugelassen werden, wenn der Brandschutz gewährleistet ist (§ 30 Abs. 8 Satz 3 Halbsatz 2 LBauO).

42

2. Die Voraussetzungen für eine Abweichung von diesen bauordnungsrechtlichen Anforderungen liegen nicht vor.

43

Rechtsgrundlage für die begehrte Abweichung ist § 69 Abs. 1 LBauO. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind.

44

In der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts ist anerkannt, dass diese Abweichungsermächtigung auch bei Bauvorhaben Anwendung findet, bei denen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Privilegierungsregelung in § 8 Abs. 12 LBauO nicht bejaht werden konnten. § 8 Abs. 12 LBauO enthält insofern keine abschließende Regelung hinsichtlich der Vereinbarkeit eines Vorhabens mit den Anforderungen des Bauordnungsrechts (vgl. OVG RP, Beschluss vom 20. September 1999 – 1 A 11285/99.OVG –, ESOVGRP; Beschluss vom 9. Januar 2009 – 8 A 11159/08.OVG –; Jeromin, a.a.O., § 8, Rn. 153c).

45

Ferner ist in der Rechtsprechung zu § 69 LBauO geklärt, dass im Hinblick auf den Zweck der bauordnungsrechtlichen Norm eine Abweichung nur dann zulässig ist, wenn im konkreten Einzelfall eine besondere Situation vorliegt, die die Nichtberücksichtigung des festgelegten Standards rechtfertigt. Die betroffenen nachbarlichen Interessen sind zu gewichten und angemessen zu würdigen. Die Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften – wie hier – kommt nur in Betracht, wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls der Nachbar nicht schutzwürdig ist oder die Gründe für die Abweichung übergewichtig sind (vgl. zum Vorstehenden insgesamt das Urteil des Senats vom 3. November 1999 – 8 A 10951/99.OVG –, AS 28, 65 [67]). Entgegen dem Verwaltungsgericht liegen diese Voraussetzungen nach Auffassung des Senats hier nicht vor.

46

a) Zunächst kann dem Interesse der Beigeladenen an der Beachtung des Abstandsflächen- und Brandwandrechts die Schutzwürdigkeit nicht abgesprochen werden.

47

Zwar hat der Senat im Beschluss vom 12. Dezember 2016 – 8 A 10877/16.OVG – (im Zusammenhang mit der – verneinten – Frage, ob die Zulassung einer Abweichung offensichtlich ausgeschlossen sei) ausgeführt, dass das Gewicht der Belange der Beigeladenen noch nicht hinlänglich geklärt und das behauptete Nutzungsinteresse an dem Grundstück noch nicht hinreichend plausibel gemacht worden sei; insbesondere fehle es an der Darlegung konkreter Bauabsichten. Auch nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung vermisst der Senat eine einleuchtende Begründung dafür, warum die Beigeladene sich den Angeboten der Kläger zur Bereinigung des entstandenen Konflikts so strikt verschließt.

48

Dies genügt indes nicht, der Beigeladenen die Schutzwürdigkeit ihrer Eigentümerbelange gänzlich abzusprechen. Denn für das Gewicht der Eigentümerbelange kommt es grundsätzlich weder auf die Umstände des Grunderwerbs (hier im Rahmen der Flurbereinigung unter Akzeptanz der Grenzziehung zum alten Werkstattgebäude) noch auf sonstige Begleitumstände an (hier: langjährige Hinnahme der Nichtnutzung des Flurstücks Nr. 265 im Interesse der Schreinerei). Vielmehr genügt die formale Eigentümerstellung, die dem Eigentümer alle mit dem Eigentum verbundenen privaten und öffentlichen Rechte eröffnet (vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2013 – 1 BvR 3139/08 – u.a. [Garzweiler], NVwZ 2014, 211, Rn. 157 zum Rechtsschutzinteresse in sog. „Sperrgrundstückfällen“).

49

Der von der Beigeladenen geäußerten Absicht zur Bebauung des Flurstücks Nr. 265 stehen auch keine zwingenden rechtlichen Hindernisse entgegen. Insbesondere ist eine Bebaubarkeit nicht aus wasserrechtlichen Gründen strikt ausgeschlossen. Das Flurstück liegt nicht im Bereich des festgesetzten Überschwemmungsgebiets, so dass die Errichtung baulicher Anlagen nicht gemäß § 78 Abs. 4 WHG untersagt ist. Zudem stünde selbst in diesem Fall die Erteilung einer Abweichungsgenehmigung nach § 78 Abs. 5 WHG im Raum, die von den Klägern für ihr Bauvorhaben erreicht worden ist. Die Lage in einem Risikogebiet außerhalb von Überschwemmungsgebieten (vgl. die Karte auf Bl. 245 der Behördeakte) verpflichtet gemäß § 78b Abs. 1 WHG lediglich zu einer angepassten Bauweise.

50

Der Beigeladenen könnte die Schutzwürdigkeit ihrer Eigentümerbelange danach allenfalls dann abgesprochen werden, wenn ihr Verhalten als rechtsmissbräuchlich oder schikanös zu bewerten wäre. Dies wird man im Hinblick auf die unbestreitbaren Verstöße der Kläger gegen die Anforderungen nach §§ 8 und 30 LBauO nicht annehmen können. Die ursprünglich wohlwollende Haltung der Beigeladenen gegenüber dem Vorhaben eines bloßen Umbaus im Inneren des nach außen hin unveränderten Baukörpers ist angesichts der Privilegierungsregelung in § 8 Abs. 12 LBauO ebenso erklärlich, wie die spätere Weigerung zur Bewilligung einer Abstandsflächenbaulast nach Neuerrichtung des Wohnhauses. Dass die Beigeladene auf der Einhaltung des geltenden Abstandsflächenrechts besteht, wird man auch angesichts der beim endgültigen Scheitern einer vergleichsweisen Regelung auf die Kläger zukommenden Kosten nicht als gänzlich unbillig werten können. Zum einen sind die Kläger dieses Risiko durch das Abweichen vom geltenden Recht selbst eingegangen. Zum anderen hat der 1. Senat des erkennenden Gerichts in seinem Urteil vom 4. April 2017 – 1 A 10865/16.OVG – zu dem Rückbauverlangen der Klägerin gegenüber der Beigeladenen wegen des bei Errichtung des Wasser- und Geröllrückhaltebeckens entstandenen Überbaus festgestellt, dass sich dieses Verlangen nicht deshalb als für die Beigeladene unzumutbar erweise, dass der Wert der in Anspruch genommenen Flächen der Klägerin weitaus geringer sei als der Aufwand von ca. 14.000,00 € für die Rückbaumaßnahme (vgl. OVG RP, Urteil vom 4. April 2017 – 1 A 10865/16.OVG –, NVwZ-RR 2017, 605 und juris, Rn. 34).

51

b) Ferner erweisen sich die von den Klägern für die Abweichung angeführten Gründe im Verhältnis zu den Belangen der Beigeladenen nicht als übergewichtig.

52

Ein solches Übergewicht könnte hier dann anzunehmen sein, wenn die Kläger mit einer Bebauung innerhalb der Abstandsfläche zunächst redlich im berechtigten Vertrauen auf deren Realisierbarkeit – etwa als Bestandsumnutzung i.S.v. § 8 Abs. 12 LBauO – begonnen hätten, sie zum Zeitpunkt der Feststellung der Hindernisse für eine rechtmäßige Vollendung des Projekts bereits erhebliche, sich nunmehr als nutzlos erweisende Aufwendungen getätigt hätten und die Interessen der auf der Beachtung des Abstandsflächenrechts bestehenden Beigeladenen nicht höherwertig sind. Diese Voraussetzungen liegen hier nach Auffassung des Senats jedoch nicht vor.

53

Ein dahingehender Vertrauensschutz wegen des redlichen Beginns von – sich letztlich als bauordnungsrechtswidrig erweisenden – Bauarbeiten dürfte zwar noch nicht deshalb entfallen sein, weil mit den Arbeiten bereits vor Erteilung der Baugenehmigung (27. Oktober 2014) begonnen wurde. Denn der insofern maßgebliche Genehmigungsvorbehalt bezieht sich lediglich auf die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens (vgl. § 66 Abs. 4 Satz 1 LBauO zum vereinfachten Genehmigungsverfahren), die hier außer Streit steht und auch bei Beginn der Bauarbeiten außer Streit stand.

54

Übergewichtige Gründe für eine Abweichungszulassung entfallen aber deshalb, weil die Kläger bei Beginn der wesentlichen und kostenintensiven Umbauarbeiten nicht darauf vertrauen durften, dass ihr Vorhaben legal, das heißt auch in Einklang mit den Anforderungen des Bauordnungsrechts realisierbar war. Insofern entlastet die Kläger nicht, dass sie nach ihren Einlassungen in der mündlichen Verhandlung zu Beginn ihres Bauprojekts der Frage der Vereinbarkeit mit dem Abstandsflächenrecht keine besondere Bedeutung beigemessen haben. Ist die präventive Kontrolle eines Bauvorhabens durch ein Genehmigungsverfahren eingeschränkt – wie hier im vereinfachten Genehmigungsverfahren –, so obliegt es der Verantwortung der Bauherren für die Beachtung der im Genehmigungsverfahren nicht kontrollierten Vorschriften Sorge zu tragen. Sie und die von ihnen zur Realisierung ihres Vorhabens herangezogenen Berater müssen darüber wachen, dass neben den vielfältigen Anforderungen an die Bauausführung gem. §§ 13 ff. LBauO auch die sonstigen Vorschriften des Bauordnungsrechts eingehalten werden.

55

(1) Die Kläger durften von Beginn ihrer Baumaßnahme an nicht auf deren Realisierbarkeit im Rahmen des Abstandsflächenrechts, hier also im Rahmen der Privilegierungsregel in § 8 Abs. 12 LBauO vertrauen.

56

Für das Vorliegen eines solchen Vertrauens könnte die Zeugenaussage des Architekten der Kläger, Dipl.-Ing. L., sprechen, man habe damals über das Problem des Abstandsflächenrechts nicht gesprochen, was ihm deshalb erklärlich gewesen sei, weil es ja um eine Nutzungsänderung gegangen sei (vgl. S. 4 des Protokolls vom 24. Oktober 2018). Diese Einlassung des Architekten könnte dahin verstanden werden, er sei damals von einer bloßen Nutzungsänderungsmaßnahme im Rahmen des Privilegierungstatbestandes in § 8 Abs. 12 LBauO ausgegangen. Dem steht indes entgegen, dass nach den Einlassungen sowohl der Kläger als auch des Zeugen L. in der mündlichen Verhandlung von Anfang an nicht bloß einfache Instandhaltungsmaßnahmen geplant waren, sondern vielmehr ein größerer Sanierungseingriff in Form der Neuerrichtung des ganzen Dachstuhls (vgl. die Aussage von Dipl.-Ing. L.: S.2 im Sitzungsprotokoll). Bereits in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 6. September 2018 hat Dipl.-Ing. L. mitgeteilt, dass er nach seinen Feststellungen bei der Ortsbegehung am 21. Mai 2014 die vorhandene Dachkonstruktion für unterdimensioniert gehalten und die Hinzuziehung eines Statikers empfohlen habe (vgl. S. 2 der Stellungnahme, Bl. 277 GA). Danach war für die Kläger bereits im Mai 2014 klar, dass sie ihr Umbauvorhaben nur nach vorheriger statischer Begutachtung würden ausführen können. Nichts Anderes ergab sich aufgrund der Feststellungen des Statikers Dipl.-Ing. P. Nach dessen Stellungnahme vom 12. September 2018 (Bl. 284 GA) hätten sich bei dem Ortstermin am 5. März 2014 die sichtbaren Bauteile zwar in einem „relativ guten Zustand“ befunden. Es folgt indes der Zusatz, dass die durch Verkleidungen oder Putz verdeckten Anschlüsse und Verbindungen von Sparren oder Deckenbalken nicht hätten beurteilt werden können. Die von Dipl.-Ing. A. am 13. August 2014 erstellte statische Beurteilung hatte schließlich bestätigt, dass die Dachpfetten stark unterdimensioniert waren (so das E-Mail-Schreiben vom 23. September 2014 von Dipl.-Ing. A. an die Bauaufsichtsbehörde [Bl. 125 der Behördenakte]).

57

Vor diesem Hintergrund kann nicht davon ausgegangen werden, die Kläger hätten zu Beginn ihres Projekts berechtigterweise darauf vertrauen dürfen, dass sich die geplante Umbaumaßnahme durch kleinere Instandsetzungsarbeiten im Rahmen einer im Ganzen erhaltenswürdigen Bausubstanz realisieren ließe. Selbst wenn sie davon ausgegangen wären, dass ihnen die Erneuerung allein des Dachstuhls unter Beibehaltung der Außenwände des Gebäudes – im Wege der Abweichung – zugestanden würde, hätte es der Redlichkeit entsprochen, diese Baumaßnahme in den eingereichten Bauplänen mitzuteilen. Dies ist indes mit den am 1./8. September 2014 eingereichten Bauplänen nicht geschehen. Im Unterschied zu den später mit dem Nachtragsbauantrag vom 8. Dezember 2014 eingereichten Plänen (vgl. Bl. 329 der Behördenakte) ist in dem Plan zum Baugesuch vom 1. September 2014 der Dachstuhl als „Bestand“ (graue Schraffur) dargestellt. Die Einlassung von Dipl.-Ing. Leonhardt hierzu, dass man den Dachstuhl als Neubaumaßnahme hätte kennzeichnen können, man den Plan aber habe übersichtlich halten wollen, überzeugt angesichts der Planzeichnung zum Nachtragsbaugesuch vom 8. Dezember 2014 nicht. Entgegen der Einlassung von Dipl.-Ing. Leonhardt (vgl. S. 3 des Protokolls vom 24. Oktober 2018) ergibt sich ein Hinweis auf die Erneuerung des Dachstuhls auch nicht aus der Baubeschreibung zum Bauantrag vom 1. September 2014. Denn in dieser Baubeschreibung finden sich lediglich Erklärungen zur „Dacheindeckung (Baustoff, Farbe)“ mit den Angaben: „Metall-Stehfalzdeckung, Anthrazitfarben“.

58

(2) Dass der Beklagte am 27. Oktober 2014 auf den Bauantrag vom 1. September 2014 die Baugenehmigung für „Umbau/Sanierung einer ehemaligen Werkstatt in Wohnraum“ erteilt hat, obwohl der Behörde aufgrund des Ortstermins am 30. September 2014 bekannt war, dass der Dachstuhl des Werkstattgebäudes vollständig abgetragen war (vgl. Bl. 130 der Behördenakte), konnte bei den Klägern berechtigterweise kein Vertrauen darauf wecken, dass die Behörde auch in bauordnungsrechtlicher Hinsicht ihre Zustimmung zu dem Bauvorhaben erteilt hatte. Denn auch diese Genehmigung ist im vereinfachten Verfahren erteilt worden. Ihre Feststellungswirkung verhält sich daher nur zur bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Bauvorhabens. Im Übrigen wäre ein darauf gestütztes Vertrauen auch nicht schutzwürdig. Denn die Kläger hatten nach ihren eigenen Einlassungen bereits zuvor, nämlich am 15. September 2014, den Auftrag zur Neuerrichtung des Dachstuhls erteilt, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die - von den Klägern als solche gewertete - „Zustimmung“ zu dem, den Privilegierungstatbestand in § 8 Abs. 12 LBauO verlassenden Sanierungseingriff noch offen war.

59

(3) Jedenfalls durften die Kläger ab Ende September 2014 nicht mehr darauf vertrauen, dass es sich bei ihrem Projekt um eine zulässige, den bestehenden Abstandsflächenverstoß perpetuierende Umbaumaßnahme im Rahmen der Privilegierung von § 8 Abs. 12 LBauO handelte.

60

Denn nach ihrem eigenen Vorbringen in der „zeitlichen Abfolge BV Fritz Werkstatt“ (Bl. 479 der Behördenakte) hatte Zimmermeister B. bei den Arbeiten zur Demontage des alten Dachstuhls am 29. September 2014 festgestellt, dass die Tragfähigkeit der Fachwerkkonstruktion des Hauses nicht gegeben war. Zu diesem Zeitpunkt und nicht erst – wie geschehen – mit Schreiben vom 19. November 2014 (vgl. Bl. 172 der Behördenakte) wären die Kläger gehalten gewesen, die „Konzeptänderung“ (Errichtung eines Neubaus unter bloß optischer Erhaltung der alten Balken- und Fachwerkkonstruktion) der Bauaufsichtsbehörde zu offenbaren und deren bauaufsichtsbehördliche Zulassung abzuwarten.

61

Selbst bezogen auf dieses späte Datum der Kenntnis von der Nichtrealisierbarkeit des Umbauprojekts im Rahmen der geltenden Vorschriften haben die Kläger nicht dargetan, bereits erhebliche Aufwendungen getätigt zu haben, die ohne die Zulassung der Abweichung nutzlos wären. Die wesentliche Investition erfolgte erst mit der Errichtung des Neubaus durch die Fa. D. Davor sei das Objekt lediglich leergeräumt und gesäubert worden. Aus der von den Klägern zum Termin der mündlichen Verhandlung vorgelegten PowerPoint-Präsentation ergibt sich, dass im September der Estrich inklusive Fußbodenheizung eingebaut wurde. Hinzu kommen die Arbeiten für den bereits Mitte September 2014 in Auftrag gegebenen Dachstuhl. All diese Maßnahmen erweisen sich - ungeachtet der Frage ihrer Redlichkeit - nicht als gänzlich nutzlos und fallen von ihrem Umfang her auch nicht übermäßig ins Gewicht. Die deutlich aufwendigste Maßnahme erfolgte mit der Holzkonstruktion der Fa. D. Sie wurde jedoch zu einem Zeitpunkt in Auftrag gegeben, zu dem letzte Zweifel an der Vereinbarkeit der Umbaumaßnahme mit den geltenden Rechtsvorschriften entfallen waren.

II.

62

Die Anschlussberufung der Kläger hat keinen Erfolg.

63

1. Die mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2018 erklärte Anschlussberufung, mit der das in erster Instanz von den Klägern verfolgte Anfechtungsbegehren gegen die Baueinstellungsverfügung vom 22. Dezember 2016 weiterverfolgt wird, ist zulässig.

64

Sie ist gemäß § 127 Abs. 1 VwGO statthaft. Die Anschlussberufung lockert die mit Ablauf der Rechtsmittelfrist nach § 124a Abs. 4 VwGO hinsichtlich des Anfechtungsbegehrens eingetretene Rechtskraft des Urteils und erweitert den Gegenstand des Berufungsverfahrens (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 127, Rn. 2).

65

Die Anschlussberufung ist auch nicht wegen Fristablaufs unzulässig. Zwar ist ein solcher Anschluss gemäß § 127 Abs. 2 Satz 2 VwGO nur bis zum Ablauf eines Monats nach der Zustellung der Berufungsbegründungsschrift zulässig. Diese Frist ist hier indes nicht in Lauf gesetzt worden, weil die Berufungsbegründungsschriften des Beklagten und der Beigeladenen den Klägern nicht förmlich zugestellt, sondern nur formlos übermittelt wurden. Bei fehlendem Zustellungswillen greift auch die Zustellungsfiktion des § 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 189 ZPO nicht ein (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 – 7 C 20.09 –, DVBl. 2010, 1508 und juris, Rn. 18).

66

2. Die Anschlussberufung ist jedoch nicht begründet.

67

Das Verwaltungsgericht hat die gegen die Einstellungsverfügung vom 22. Dezember 2016 gerichtete Anfechtungsklage zu Recht zurückgewiesen. Zur Begründung kann auf die zutreffenden Gründe im Urteil des Verwaltungsgerichts verwiesen werden (§ 130b VwGO).

68

Im Hinblick auf das Berufungsvorbringen ist lediglich ergänzend auszuführen, dass die Einstellung der Bauarbeiten auch nach Errichtung der äußeren Hülle des Gebäudes (Außenwände nebst Dachstuhl) gerechtfertigt war. Auch durch die Fortsetzung der Arbeiten zum Innenausbau, deren Ausführung die Kläger mit ihrer Anfechtung ersichtlich erreichen wollten, wäre die mangels Abweichungsentscheidung bestehende Bauordnungsrechtswidrigkeit des Bauvorhabens weiter intensiviert worden. Dies zu verhindern, war der Zweck der Baueinstellungsverfügung. Insofern war der Beklagte den Klägern im Rahmen des Eilrechtsschutzverfahrens gegen die Einstellungsverfügung entgegengekommen und hatte die Verfügung vom 22. Dezember 2016 im Schriftsatz an das Oberverwaltungsgericht vom 10. Februar 2017 „modifiziert“. Durch Zustellung dieses Schriftsatzes an die Verfahrensbevollmächtigten der Kläger ist ihnen diese Beschränkung der Baueinstellung auf den Bereich des Bauwichs auch zugegangen (vergleichbar den Änderungen von Genehmigungsbescheiden durch Protokollerklärungen in der mündlichen Verhandlung, hierzu: BVerwG, Urteil vom 3. März 2011 – 9 A 8.10 –, BVerwGE 139, 150 und juris, Rn. 16).

69

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen waren nur insofern nach § 162 Abs. 3 VwGO den Klägern aufzuerlegen, als die Beigeladene ihrerseits durch ihre Antragstellung ein Kostenrisiko eingegangen ist (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO). Dies ist hier nur hinsichtlich des Verpflichtungsbegehrens (Streitwert: 20.000 €), nicht aber hinsichtlich des Anfechtungsbegehrens (Streitwert: 5. 000 €) geschehen.

70

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

71

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.

Beschluss

72

Der Wert des Streitgegenstandes für das Berufungsverfahren wird im Anschluss an den Streitwertbeschluss zum Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 20. Dezember 2017 auf 25.000,00 € festgesetzt.

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