Beschluss vom Sächsisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 L 115/18

Gründe

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Der auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sowie Verfahrensmängel (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung bestehen nicht. Solche sind nur dann anzunehmen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 06.06.2018 – 2 BvR 350/18 –, juris, Rn. 16, sowie Beschl. v. 23.06.2000 – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458). Schlüssige Gegenargumente liegen vor, wenn mit dem Zulassungsantrag substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (so BVerfG, Beschl. v. 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 -, juris, Rn. 19; OVG LSA, Beschl. v. 02.02.2016 – 4 L 217/15 –, juris, Rn. 3). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

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a. Soweit der Beklagte mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2018 ausführt, die im erstinstanzlichen Verfahren durch das Verwaltungsgericht beanstandete Satzung über die Erhebung von Herstellungsbeiträgen für die zentrale Entwässerung im Gebiet des ehemaligen Abwasserzweckverbandes Obere Saalegemeinde vom 19. April 2018 (BS 2018-04) sei mit Blick auf die "satzungsrechtliche Grundlage einschließlich des Beitrags" nach Erlass des verwaltungsgerichtlichen Urteils durch die 1. Änderungssatzung vom 4. Oktober 2018 (Änderungssatzung) geändert worden, vermag dies eine Zulassung der Berufung nicht zu begründen.

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Zur Relevanz nachträglicher Rechtsänderungen hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 15. Dezember 2003 (7 AV 2/03, juris) ausgeführt:

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"Ob die Berufung nach der Sach- und Rechtslage im hierfür maßgeblichen Zeitpunkt zuzulassen ist, hat das Oberverwaltungsgericht allerdings stets nur im Rahmen der rechtzeitig dargelegten Gründe zu beurteilen. Ist erst nach Ablauf der hierfür geltenden Frist eine Rechtsänderung eingetreten, kann der Antragsteller nicht mit Blick auf diese erstmals neue Zulassungsgründe geltend machen; die Rechtsänderung muss aus diesem Grund unberücksichtigt bleiben. Hat der Antragsteller hingegen mit Blick auf eine bevorstehende Änderung der Rechtslage vor Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils dargelegt, steht der Berücksichtigung der späteren Rechtsänderung nicht entgegen, dass sie erst nach Ablauf der Frist, aber vor der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag eingetreten ist."

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(BVerwG, a.a.O., Rn. 11).

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Hieraus ergibt sich, dass nur solche Rechtsänderungen für die Begründung ernstlicher Zweifel herangezogen werden können, die binnen der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt wurden. Das war vorliegend mit Blick auf die Änderungssatzung vom 4. Oktober 2018 nicht der Fall, da die Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO aufgrund der am 8. Mai 2018 erfolgten Urteilszustellung bereits am 9. Juli 2018, einem Montag, abgelaufen war.

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b. Auch die vom Beklagten in seinem Zulassungsantrag vom 9. Juli 2018 gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts dargelegten Gründe, welche sich allein mit der für das verwaltungsgerichtliche Urteil (noch) maßgeblichen BS 2018-04 befassen, sind im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats über den Zulassungsantrag nicht (mehr) geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zu begründen. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

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Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Richtigkeit im Einzelfall gewährleisten; die maßgebliche Frage geht also dahin, ob die Rechtssache richtig entschieden worden ist. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO will demgemäß den Zugang zu einer inhaltlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils in einem Berufungsverfahren in den Fällen eröffnen, in denen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist. Das gilt für die Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ebenso wie für die darauf bezogene Rechtsanwendung. Es kommt nicht darauf an, ob das Verwaltungsgericht angesichts der Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung richtig entschieden hat. Entscheidend ist vielmehr, wie das Berufungsgericht über den Streitgegenstand zu befinden hätte (so BVerwG, a.a.O., Rn. 9).

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Die im Rahmen des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO anzustellende Prognoseentscheidung über den voraussichtlichen Erfolg des eingelegten Rechtsmittels ist vorliegend aufgrund der vom Beklagten vorgenommenen rückwirkenden Satzungsänderung nicht mehr möglich. Denn während die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts maßgebliche Satzungsregelung des § 4 Abs. 4 lit. c) BS 2018-04 für die Ermittlung der Zahl der (Voll)Geschosse noch festlegte:

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"Sollte der Bebauungsplan die höchstzulässige Zahl der Geschosse nicht festsetzen, so ist die maximal zulässige Höhe der baulichen Anlage gemäß den §§ 16 ff. BauNVO (in der Rangfolge: Traufhöhe, dann Firsthöhe und danach Gebäudeoberkante, mit den jeweiligen Bezugspunkten gemäß Ziff. 2.8 PlanzV) im Zusammenhang mit den Angaben des B-Planes zu ermitteln. Die so ermittelte maximal zulässige Höhe ist zur Feststellung der Anzahl der Geschosse bei Gewerbe-, Industrie- und Sondergebieten im Sinne von §§ 8, 9 und 11 Abs. 3 BauNVO durch 3,5 und in allen anderen Baugebieten durch 2,3 zu teilen. […]"

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heißt es in § 4 Abs. 4 (3) aufgrund der Änderungssatzung vom 4. Oktober 2018 nunmehr:

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"Soweit der Bebauungsplan statt der Zahl der Vollgeschosse die Höhe der baulichen Anlagen festsetzt, ist in Gewerbe-, Industrie- und Sondergebieten i. S. der §§ 8, 9 und 11 Abs. 3 BauNVO die höchstzulässige Gebäudehöhe durch 3,5 und in allen anderen Baugebieten durch 2,3 zu teilen. […]".

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Durch die rückwirkende Satzungsänderung hat der Beklagte die vom Verwaltungsgericht allein monierte Rangfolgenregelung vollständig aufgehoben. Damit sind die vom Verwaltungsgericht aufgestellten Rechtssätze in einem Berufungsverfahren nicht mehr entscheidungserheblich. Aus diesem Grund können die hierauf bezogenen Argumente des Beklagten auch keinen Aufschluss mehr über die Erfolgsmöglichkeit des eingelegten Rechtsmittels geben. Letztlich hat sich der Beklagte durch die – nach Ablauf der Darlegungsfrist erfolgte – Satzungsänderung die Grundlage seines Zulassungsantrags selbst genommen.

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Der Senat vermag die eingetretene Änderung der Rechtslage durch die Änderungssatzung vom 4. Oktober 2018 auch nicht dergestalt unberücksichtigt zu lassen, dass er im Zulassungsverfahren lediglich prüft, ob die vom Beklagten (ursprünglich) mit Antragsschrift vom 9. Juli 2018 gegen die verwaltungsgerichtliche Entscheidung betreffend § 4 Abs. 4 lit. c) BS 2018-04 angeführten Argumente jedenfalls bis zum Erlass der Änderungssatzung geeignet waren, Richtigkeitszweifel zu begründen. Denn § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO eröffnet nach seinem Zweck – wie bereits ausgeführt – den Zugang zur Rechtsmittelinstanz mit Blick auf das prognostizierte Ergebnis des angestrebten Rechtsmittels (BVerwG, Beschl. v. 11.11.2002 – 7 AV 3/02 –, Rn. 11, juris). Es entspricht demnach auch nicht dem Zweck der Regelung, den möglichen Erfolg eines Rechtsmittels auf Grundlage einer Rechtslage sowie rechtlicher und tatsächlicher Darlegungen zu prüfen, die aufgrund einer erfolgten Satzungsänderung von vornherein nicht mehr maßgeblich für das Berufungsverfahren sein können.

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2. Die Berufung ist überdies nicht wegen eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör des Beklagten, § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG, zuzulassen.

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Hierzu trägt der Beklagte vor, das Verwaltungsgericht habe in der mündlichen Verhandlung zwar kurz darauf hingewiesen, dass sich seiner Auffassung nach angeblich Ungleichmäßigkeiten aufgrund der Berechnung von Geschossen nach Trauf- und Firsthöhe ergeben würden. Diese Ausführungen seien für den Beklagten wegen der vorangegangenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts aber völlig überraschend gewesen. Nach diesen habe er davon ausgehen müssen, dass das Gericht nur Satzungen akzeptieren werde, in denen "sowohl First- als auch Traufhöhe enthalten" seien. Zudem sei in der mündlichen Verhandlung nicht angesprochen worden, dass das Verwaltungsgericht neben der Verwendung dieser Begriffe auch einen möglichen Teiler problematisieren werde. Zu dieser Rechtsauffassung hätte rechtliches Gehör gewährt werden müssen.

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Dieser Vortrag begründet die Annahme einer Gehörsverletzung nicht. Denn aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt ebenso wie aus dem Gebot eines fairen Verfahrens weder eine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters, noch ist dieser zu einem Rechtsgespräch oder einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 29.01.2014 – 13 A 1347/13.A –, juris, Rn. 9 m.w.N.).

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Soweit der Beklagte meint, von den Ausführungen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung überrascht worden zu sein, liegt eine Gehörsverletzung ebenfalls nicht vor. Denn einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann nicht geltend machen, wer es selbst versäumt hat, sich vor Gericht durch die zumutbare Ausschöpfung der vom einschlägigen Prozessrecht eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten Gehör zu verschaffen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.08.2010 – 1 BvR 3268/07 –, juris, Rn. 28). Insoweit hätte es dem Beklagten nach Kenntnisnahme von den Ausführungen des Gerichts im Rahmen der mündlichen Verhandlung oblegen, einen Antrag auf Vertagung nach § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO in Verbindung mit § 173 Satz 1 VwGO oder auf Einräumung einer Schriftsatzfrist zu stellen (vgl. hierzu BVerfG, a.a.O., Rn. 29, juris). Beides hat er nicht getan. Dass der Beklagte sich im Übrigen in der mündlichen Verhandlung nicht habe äußern können bzw. seine Ausführungen vom Gericht nicht berücksichtigt worden wären, trägt er nicht vor.

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3. Auch soweit der Beklagte meint, das Verwaltungsgericht habe den Untersuchungsgrundsatz, § 86 VwGO, überschritten, indem es "quasi ungefragt auf Fehlersuche gegangen" sei, wird ein Zulassungsgrund nicht dargelegt.

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Zur Frage, welche rechtlichen Folgen eine "ungefragte Fehlersuche" zeitigen kann, hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 4. Oktober 2006 (– 4 BN 26/06 –, juris) ausgeführt:

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"Die Beschwerde sieht darin, dass das Normenkontrollgericht den Bebauungsplan allein aus einem Grund für unwirksam erklärt hat, den der Antragsteller selbst nicht geltend gemacht hat, eine Abweichung von den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2002 - BVerwG 7 B 11.02 - (Buchholz 406.25 § 31 BImSchG Nr. 2) und vom 17. April 2002 - BVerwG 9 CN 1.01 - (BVerwGE 116, 188 <196 f.>), in denen die "Mahnung" ausgesprochen wird, die Tatsachengerichte sollten sich nicht "gleichsam ungefragt" auf Fehlersuche begeben. Die Rüge greift schon deshalb nicht durch, weil diese "Mahnung" keinen Rechtssatz darstellt, sondern eine Maxime richterlichen Handelns umschreibt, die die Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) nicht in Frage stellt (vgl. Urteil vom 17. April 2002 a.a.O. S. 197)."

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(BVerwG, a.a.O., Rn. 7).

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Hieraus ergibt sich, dass sich das richterliche Handeln bei der Sachverhaltsaufklärung zwar an den Grundsätzen der "ungefragten Fehlersuche" zu orientieren hat. Eine überobligatorische Ermittlung führt allein aber noch nicht zu der Annahme eines Verfahrensfehlers. Für dieses Ergebnis spricht auch, dass der Untersuchungsgrundsatz es dem Gericht – im Gegensatz zu dem vom Beibringungsgrundsatz geprägten Zivilprozess – erlaubt, Umstände für die Entscheidung heranzuziehen, die von keinem der Beteiligten vorgebracht wurden (vgl. Rixen in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 86 Rn. 2 m.w.N.). Im Ergebnis wird im Falle einer "ungefragten Fehlersuche" ein Verfahrensfehler allenfalls dann angenommen werden können, wenn das Gericht unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG seiner Entscheidung selbständig ermittelte Umstände zugrunde legt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können, weil das Gericht sie hierauf nicht bzw. zu spät hingewiesen hat (vgl. hierzu etwa VGH BW, Urt. v. 25.02.1993 – 8 S 287/92 –, juris, Rn. 25/29). Ein entsprechender Gehörsverstoß ist aus den unter 2. benannten Gründen indes nicht anzunehmen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

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Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 52 Abs. 3 GKG.

27

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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