Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (2. Senat) - 2 L 206/12
Gründe
I.
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Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und Vater eines am (…) 2007 geborenen deutschen Kindes. Die Stadt B. erteilte ihm am 24.07.2007 eine Aufenthaltserlaubnis, die sie später bis zum 25.07.2010 verlängerte. Anschließend verzog der Kläger in das Stadtgebiet der Beklagten.
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Mit Strafbefehl vom 02.09.2009 verhängte das Amtsgericht Halle gegen den Kläger eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen, weil er ohne behördliche Erlaubnis als Inhaber eines Internetcafés bewusst öffentliches Glücksspiel veranstaltet und die Einrichtung hierzu bereit gehalten habe, indem er auf vier Computerterminals das erlaubnispflichtige Online-Wettangebot einer britischen Firma angeboten habe.
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Seinen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25.02.2011 ab, weil in der Person des Klägers ein Ausweisungsgrund vorliege. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg.
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Mit dem angefochtenen Urteil vom 20.11.2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die begehrte Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, entgegen der Auffassung der Beklagten liege kein Ausweisungsgrund im Sinne von § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG vor. Der mit dem Strafbefehl geahndete Rechtsverstoß sei als geringfügig zu bewerten, auch wenn das verhängte Strafmaß etwas über den in der Verwaltungsvorschrift zu § 55 AufenthG und in § 104a Abs. 1 Nr. 6 AufenthG festgelegten Grenzen von 30 bzw. 50 Tagessätzen liege, bis zu denen strafrechtliche Verurteilungen noch unschädlich seien. Von besonderer Bedeutung sei hier der konkrete Tatvorwurf. Es sei für den Kläger nicht erkennbar gewesen, dass das ihm zur Last gelegte Verhalten einen Straftatbestand erfülle. Ihm gegenüber sei zu keinem Zeitpunkt eine Ordnungs- bzw. Untersagungsverfügung ergangen. Aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28.03.2006 sei die Rechtslage hinsichtlich des Angebots von Sportwetten im Internet unklar gewesen. Das Gericht habe zwar ausdrücklich darauf verwiesen, dass das gewerbliche Veranstalten von Wetten durch private Wettunternehmen und die Vermittlung von Wetten ordnungsrechtlich unterbunden werden dürfe, dabei aber offen gelassen, ob eine Straftat nach § 284 StGB vorliege. Der Bundesgerichtshof habe später entschieden, dass eine Strafbarkeit der „Altfälle“ vor dem 28.03.2006 nicht gegeben sei. Hinzu komme, dass das Bundesverfassungsgericht den strafbewehrten Ausschluss als für den an entsprechender beruflicher Tätigkeit Interessierten „unzumutbar“ bezeichnet habe. Dem entsprechend habe das Hanseatische Oberlandesgericht eine Bestrafung von in der Übergangszeit bis zum 31.12.2007 begangenen Verstößen für unzulässig gehalten. Auch wenn im Fall des Klägers der Tatzeitraum zeitlich nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und dem Glücksspielvertrag von 2007 liege, habe diese Entscheidung nachgewirkt mit der Folge, dass auch danach nicht eindeutig geklärt gewesen sei, ob eine strafrechtliche Ahndung in Betracht komme. Vielmehr habe das Oberlandesgericht München in einer Entscheidung vom 17.06.2008 ausgeführt, der Anwendbarkeit des § 284 StGB stünden verfassungsrechtliche Gründe entgegen. Zwar sei durch den am 22.01.2008 bekannt gemachten Staatsvertrag zum Glückspielwesen und das Glücksspielgesetz des Landes Sachsen-Anhalt eine Neuregelung des Rechtsgebietes erfolgt. Dies habe aber – zumindest im Jahr 2008 – keine hinreichende Klärung der anstehenden Rechtsfragen bewirkt.
II
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Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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Die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen nicht. Solche Zweifel liegen nur dann vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt worden sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 –, NVwZ-RR 2011, 546, m.w.N.). Dies ist hier nicht der Fall.
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Die Beklagte rügt zunächst, die Vorschrift des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG sei nur dann einschlägig, wenn der Ausländer – anders als hier – tatsächlich ausgewiesen werden solle, nicht aber wenn es um die Frage gehe, ob dem Ausländer eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden könne. Allein das abstrakte Vorliegen eines Ausweisungsgrundes verbiete es, dem Kläger eine Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen. Es komme nicht darauf an, ob der Rechtsverstoß als geringfügig oder nicht geringfügig zu qualifizieren sei. Damit verkennt die Beklagte die Anforderungen, die § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG an das Nichtvorliegen eines Ausweisungsgrundes stellt.
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Bei dem Vorliegen eines Ausweisungsgrundes kommt es – ähnlich wie bei der allgemeineren Vorschrift des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – allein darauf an, ob ein Ausweisungstatbestand abstrakt, d.h. nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen verwirklicht ist, nicht jedoch darauf, ob der Ausländer im konkreten Fall rechtsfehlerfrei ausgewiesen werden kann (vgl. VGH BW, Beschl. v. 30.05.2007 – 13 S 1020/07 –, InfAuslR 2007, 346 [347], RdNr. 7 in juris, unter Bezugnahme auf BVerwG, Urt. v. 28.09.2004 – 1 C 10.03 –, NVwZ 2005, 460, RdNr. 13 in juris, zu der vergleichbaren Regelung in § 7 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1990). Die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes sind in den §§ 53 bis 55 AufenthG normiert. Die Beklagte hat im streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid vom 25.02.2011 den Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG als erfüllt angesehen. Danach kann ein Ausländer insbesondere ausgewiesen werden, wenn er einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen hat. Diese Vorschrift ist so zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, andererseits aber immer dann beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig oder geringfügig aber nicht vereinzelt ist (BVerwG, Urt. v. 24.09.1996 – 1 C 9.94 –, BVerwGE 102, 63 [66]). Dem entsprechend kommt es für das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes sehr wohl darauf an, ob der festgestellte Rechtsverstoß geringfügig oder nicht geringfügig ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.11.2004 – 1 C 23.03 –, BVerwGE 122, 193 [198], RdNr. 19 in juris; Beschl. d. Senats v. 22.06.2009 – 2 M 86/09 –, juris, RdNr. 28 f.).
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Der Senat folgt auch nicht der Einschätzung der Beklagten, eine Geringfügigkeit des Rechtsverstoßes scheide hier bereits wegen der Höhe der verhängten Geldstrafe von 60 Tagessätzen aus.
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Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, kann eine vorsätzlich begangene Straftat zwar grundsätzlich nicht als geringfügig im Sinne von § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG angesehen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.09.1996, a.a.O.). Allerdings kann es auch bei vorsätzlich begangenen Straftaten unter engen Voraussetzungen Ausnahmefälle geben, in denen der Rechtsverstoß des Ausländers als geringfügig zu bewerten ist (BVerwG, Urt. v. 18.11.2004, a.a.O.). Das kann trotz der gebotenen ordnungsrechtlichen Beurteilung etwa dann der Fall sein, wenn ein strafrechtliches Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.09.1996, a.a.O.). Eine Ausnahme ist aber nicht nur auf Fälle der Verfahrenseinstellung wegen Geringfügigkeit beschränkt. Sie kommt vielmehr auch im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung in Betracht, wenn besondere Umstände des Einzelfalles zu der Bewertung führen, dass es sich um einen geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften handelt, etwa wenn es sich offenbar um eine erstmalige strafrechtliche Verfehlung handelt, das Strafmaß gering ist und Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr nicht erkennbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.11.2004, a.a.O.) bzw. wenn die Straftat lediglich zu einer Verurteilung bis zu 30 Tagessätzen geführt hat (vgl. Nr. 55.2.2.3.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG vom 26.10.2009; Beschl. d. Senats v. 22.06.2009, a.a.O., m.w.N.).
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Zwar hat der Senat angenommen, dass eine mit einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen geahndete Urkundenfälschung nicht mehr als geringfügig anzusehen sein dürfte (vgl. Beschl. v. 22.06.2009, a.a.O., RdNr. 30). Wurde die vorgenannte Grenze von 30 Tagessätzen überschritten, hat dies allerdings nicht ausnahmslos zur Folge, dass eine Geringfügigkeit des Rechtsverstoßes ausgeschlossen ist. Auch Nr. 55.2.2.3.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG spricht lediglich davon, dass eine Straftat, die zu einer Verurteilung bis zu 30 Tagessätzen geführt hat, geringfügig sei.
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Das Verwaltungsgericht hat die Geringfügigkeit des Verstoßes gegen die strafrechtliche Norm des § 284 aus dem (besonderen) Umstand hergeleitet, dass der Kläger die Strafbarkeit der von ihm ausgeübten Vermittlung von Sportwetten angesichts der dazu ergangenen Rechtsprechung nicht habe erkennen können. Damit ist die Frage angesprochen, ob sich der Kläger in einem Verbotsirrtum befand und ob ein solcher Irrtum für ihn vermeidbar war (vgl. BGH, Urt. v. 16.08.2007 – 4 StR 62/07 –, NJW 2007, 3078). Ist ein Verbotsirrtum unvermeidbar, entfällt die für eine strafrechtliche Verurteilung erforderliche Schuld (§ 17 Satz 1 StGB); ist er vermeidbar, kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden (§ 17 Satz 2 StGB). Das Amtsgericht Halle hat zwar für den von ihm betrachteten Zeitraum vom 01.03.2008 bis zum 23.10.2008 einen (unvermeidbaren) Verbotsirrtum nicht angenommen. Auch kann die Ausländerbehörde, wenn ein Ausländer wegen einer Straftat verurteilt ist, – auch im Strafbefehlsverfahren – grundsätzlich von der Richtigkeit der Verurteilung ausgehen; das ist namentlich dann der Fall, wenn nichts dafür ersichtlich ist, dass die Behörde den Vorfall besser aufklären kann als die Kriminalpolizei, die Staatsanwaltschaft oder das Strafgericht (BVerwG, Urt. v. 18.11.2004, a.a.O., S. 197, RdNr. 18, m.w.N.). Es ist nicht Aufgabe der Ausländerbehörde, das Strafverfahren gewissermaßen zu wiederholen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.01.1981 – 1 B 857.80 –, BayVBl 1981, 186 [187], RdNr. 3 in juris). Der Beklagten ist dem entsprechend darin beizupflichten, dass die Ausländerbehörde, wenn sie über die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels zu entscheiden hat, bei der Frage, ob ein Ausweisungstatbestand nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt ist, bei Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung grundsätzlich nicht verpflichtet ist, das Strafmaß und die Schwere der Schuld zu überprüfen oder gar Strafvorschriften rechtspolitisch zu bewerten. Sie darf die strafgerichtliche Verurteilung aber dann nicht ohne weiteres für die Beurteilung der Geringfügigkeit des Rechtsverstoßes als verbindlich zugrunde legen, wenn im Zeitpunkt ihrer Entscheidung ernstliche Zweifel daran bestehen, dass der Ausländer schuldhaft gehandelt hat. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG benennt – anders als etwa §§ 53, 54 Nr. 1 und 2 AufenthG oder § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG – nicht die strafgerichtliche Verurteilung, sondern den nicht nur geringfügigen Rechtsverstoß als Ausweisungstatbestand. Sind Personen, die dieselben Rechtsverstöße begangen haben wie der Ausländer, von anderen Gerichten, insbesondere Obergerichten, vom strafrechtlichen Schuldvorwurf wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen worden, ist dies für die Frage der Geringfügigkeit des Rechtsverstoßes des Ausländers nicht ohne Bedeutung. Liegt ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vor, wird in der Regel von der Geringfügigkeit des Rechtsverstoßes auszugehen sein (vgl. Discher, in: GK AufenthG II - § 55 RdNr. 490), insbesondere wenn weitere Rechtsverstöße nicht zu besorgen sind.
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Eine solche Fallkonstellation hat das Verwaltungsgericht hier angenommen. Es hat maßgeblich darauf abgestellt, dass nach der vorliegenden Rechtsprechung § 284 StGB auf die Vermittlung von Sportwetten aus verfassungsrechtlichen Gründen bis zum 31.12.2007 nicht anwendbar sei und auch für die Zeit danach keine hinreichende Klärung der Rechtslage erfolgt sei. Diese Einschätzung hat die Beklagte in ihrer Zulassungsschrift nicht in Zweifel gezogen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das Kammergericht Berlin in einem Urteil vom 02.02.2012 ([4] 1 Ss 552/11 [327/11] –, juris) die Rechtsauffassung des Landgerichts Berlin, ein Vermittler von Sportwetten habe sich auch noch im Jahr 2010 aufgrund der unklaren Rechtslage in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum nach § 17 Satz 1 StGB befunden, bestätigt hat.
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II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertentscheidung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2 GKG.
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Referenzen
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- §§ 53, 54 Nr. 1 und 2 AufenthG 3x (nicht zugeordnet)
- §§ 47, 52 Abs. 2 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- § 55 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- StGB § 284 Unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels 3x
- § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG 3x (nicht zugeordnet)
- § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG 6x (nicht zugeordnet)
- § 104a Abs. 1 Nr. 6 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 124 1x
- § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
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- StGB § 17 Verbotsirrtum 3x
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