Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (2. Senat) - 2 M 49/15

Gründe

1

Die Antragstellerin begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen eine bauordnungsrechtliche Nutzungsuntersagung des Antragsgegners.

2

Mit Antrag vom 26.06.2012 beantragte die (...) GbR als Bauherrin bei dem Antragsgegner die Erteilung einer Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung einer Lagerhalle auf dem Grundstück "An der Hauptstraße" in L-Stadt, Ortsteil (...). In die Lagerhalle sollte ein Sortierbereich für Schuhe und Bekleidung eingerichtet werden. Mieter dieser Halle war seit dem 01.03.2012 die Antragstellerin. Diese führte in der Halle – jedenfalls bis zum 31.05.2015 – einen Betrieb, in dem Alttextilien und Schuhe sortiert und zum Export vorbereitet wurden.

3

Mit Bescheid vom 18.10.2012 erteilte der Antragsgegner der (...) GbR die beantragte Genehmigung für die Umnutzung der Lagerhalle in ein Gewerbeunternehmen mit Sortierbereichen für Schuhe und Bekleidung unter Beifügung zahlreicher, insbesondere abfallrechtlicher Nebenbestimmungen. Unter anderem sollte ein Input- und Output-Register für die angenommenen und abgegebenen Abfälle geführt werden.

4

Im Jahr 2013 stellte der Antragsgegner fest, dass die Auflagen aus der Genehmigung vom 18.10.2012 nicht bzw. nicht vollständig erfüllt wurden. Mit Schreiben vom 23.07.2013 forderte der Antragsgegner u.a. die Antragstellerin auf, die Nebenbestimmungen aus dem Bescheid vom 18.10.2012 bis zum 19.08.2013 zu erfüllen. Mit Schreiben vom 16.08.2013 legte die Antragstellerin daraufhin gegen den Bescheid vom 18.10.2012 – beschränkt auf einzelne näher bezeichnete Nebenbestimmungen – Widerspruch ein, über den bislang noch nicht entschieden ist.

5

Mit Bescheid vom 30.08.2013 untersagte der Antragsgegner der (...) GbR unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Nutzung der Lagerhalle auf deren Grundstück in L-Stadt. Diese legte hiergegen mit Schreiben vom 17.09.2013 Widerspruch ein, über den – soweit ersichtlich – noch nicht entschieden ist.

6

Am 16.09.2013 erhob die Antragstellerin Klage zum Verwaltungsgericht in dem Verfahren 2 A 213/13 HAL mit dem Antrag, festzustellen, dass die durch den Bescheid vom 30.08.2013 gegenüber der (...) GbR verfügte Nutzungsuntersagung nicht vollzogen werden dürfe. Das Verfahren endete mit einem in der mündlichen Verhandlung vom 02.06.2014 geschlossenen Vergleich, wonach der Antragsgegner die gegenwärtige Geschäftspraxis der Antragstellerin bis zum 31.12.2014 dulden sollte. Hintergrund war eine mit Schreiben vom 28.05.2014 erklärte Kündigung des Mietverhältnisses über die Lagerhalle durch die Antragstellerin zum 30.11.2014.

7

Mit Schreiben vom 15.12.2014 wies der Antragsgegner die Antragstellerin darauf hin, dass die Nutzung der Lagerhalle zum 31.12.2014 einzustellen sei. Ferner hieß es, der Antragsgegner werde eine Fortführung der formell illegalen Nutzung zum 01.01.2015 untersagen.

8

Mit Schreiben vom 22.12.2014 regte die Antragstellerin an, ihre gegenwärtige Geschäftspraxis weiterhin bis einschließlich 31.05.2015 zu dulden, da sie bislang keine anderweitige geeignete Lager-/Sortierhalle habe finden können. Der betreffende Mietvertrag sei mit der (...) GbR bis zum 31.05.2015 verlängert worden.

9

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 04.02.2015 untersagte der Antragsgegner der Antragstellerin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Nutzung der Lagerhalle für ihr Gewerbeunternehmen (Altkleidersammlung mit Sortierbereichen für Schuhe und Bekleidung). Zur Begründung führte er aus, die Nutzung der Halle sei formell illegal. Es sei zwar eine entsprechende Baugenehmigung erteilt worden, jedoch würden die darin aufgegebenen Nebenbestimmungen (Auflagen) bei der Ausführung der Nutzung nicht eingehalten. Grundsätzlich könne er nach pflichtgemäßem Ermessen die notwendigen Maßnahmen treffen. Hier habe er jedoch keinen Ermessensspielraum, da eine weitere Verschleppung der illegalen Nutzung nicht unterstützt werden könne. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei wegen der von einer Nutzung entgegen den Nebenbestimmungen der rechtsgültigen Baugenehmigung ausgehenden negativen Vorbildwirkung geboten.

10

Mit Beschluss vom 16. April 2015 – 2 B 52/15 HAL – hat das Verwaltungsgericht den Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 17.02.2015 gegen die Nutzungsuntersagungsverfügung des Antragsgegners vom 04.02.2015 wiederherzustellen, abgelehnt. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die Begründung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung genüge den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Dieses überwiege auch das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin, da der von ihr erhobene Widerspruch voraussichtlich keinen Erfolg haben werde. Die angefochtene Verfügung erweise sich nach summarischer Prüfung als rechtmäßig. Die Antragstellerin sei mit Schreiben vom 15.12.2014 zu der beabsichtigten Verfügung angehört worden. Die Nutzungsuntersagung finde ihre Rechtsgrundlage in § 79 Satz 2 BauO LSA. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien erfüllt, da die der Antragstellerin untersagte Nutzung formell illegal sei. Sie sei von der Nutzungsänderungsgenehmigung des Antragsgegners vom 18.10.2012 nicht gedeckt. Die hierin enthaltenen Auflagen seien bestandskräftig und darüber hinaus auch rechtmäßig. Da insbesondere mehrere abfallrechtliche Auflagen nicht befolgt würden, sei die Nutzung der Halle formell illegal. Die angefochtene Nutzungsuntersagung sei auch ermessensfehlerfrei. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 79 Satz 2 BauO LSA – wie hier – handele es sich um einen Fall des sog. intendierten Ermessens. In diesem Sinne seien die Ausführungen des Antragsgegners zu verstehen, soweit er eine Ermessensreduzierung auf Null annehme. Er habe erkannt, dass die einschlägigen Vorschriften ihm grundsätzlich Ermessen einräumten. Er sehe sich aber aufgrund der besonderen Umstände gehalten, die Nutzung zu untersagen. Die Nutzungsuntersagung sei auch weder unverhältnismäßig noch habe der Antragsgegner seine Befugnis zum Einschreiten verwirkt. Auch die Störerauswahl sei rechtlich nicht zu beanstanden. Es bestehe auch ein besondere öffentliches Interesse an der Vollziehung, das über das allgemeine Interesse an dem Verwaltungsakt hinausgehe.

II.

11

Die Beschwerde der Antragstellerin hat Erfolg.

12

Der Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Nutzungsuntersagungsverfügung des Antragsgegners vom 04.02.2015 wiederherzustellen, ist nach wie vor zulässig. Der Antragstellerin fehlt nicht das hierfür erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, obwohl sie die Lagerhalle nach den Angaben des Antragsgegners in dessen Schriftsatz vom 23.06.2015, denen die Antragstellerin bislang nicht entgegengetreten ist, seit dem 01.06.2015 nicht mehr nutzt. Zwar ist ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gemäß § 80 Abs. 5 VwGO mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abzulehnen, wenn der Antragsteller an seinem Antrag festhält, obwohl sich der angefochtene Verwaltungsakt erledigt hat (HessVGH, Beschl. v. 10.06.1988 – 1 TH 2568/87 –, juris RdNr. 8; Külpmann, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl. 2011, RdNr. 930). Eine Erledigung der Nutzungsuntersagungsverfügung vom 04.02.2015 im Sinne des § 43 Abs. 2 VwVfG ist jedoch bislang nicht eingetreten. Von einer Erledigung im Sinne dieser Regelung ist auszugehen, wenn der Verwaltungsakt nicht mehr geeignet ist, rechtliche Wirkungen zu erzeugen, oder wenn die Steuerungsfunktion, die ihm ursprünglich innewohnte, nachträglich entfällt (BVerwG, Beschl. v. 17.11.1998 – BVerwG 4 B 100.98 –, juris RdNr. 9). Hiervon kann jedenfalls solange keine Rede sein, wie der mit einer behördlichen Maßnahme erstrebte Erfolg noch nicht endgültig eingetreten ist (BVerwG, Beschl. v. 17.11.1998 – BVerwG 4 B 100.98 – a.a.O.). Von einer Erledigung kann auch dann keine Rede sein, wenn der Adressat einer Nutzungsuntersagung dieser freiwillig nachkommt, dies aber jederzeit wieder rückgängig machen kann. So liegt es hier. Die Antragstellerin hat zwar – soweit derzeit ersichtlich – die Nutzung der Lagerhalle zum 01.06.2015 eingestellt und damit die Nutzungsuntersagung des Antragsgegners vom 04.02.2015 befolgt. Dies kann jedoch ohne weiteres jederzeit wieder rückgängig gemacht werden.

13

Der Antrag ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag zu Unrecht abgelehnt. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs ist vielmehr wiederherzustellen (§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO); denn das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiegt das öffentliche Interesse am Vollzug des angefochtenen Bescheides. Der Bescheid erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig.

14

Rechtsgrundlage des Bescheides ist § 79 Satz 2 der Bauordnung des Landes Sachsen-Anhalt (BauO LSA) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10.09.2013 (GVBl. S. 440). Nach dieser Vorschrift kann, wenn bauliche Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt werden, diese Nutzung untersagt werden. Eine bauliche Anlage wird im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt, wenn sie formell illegal – also ohne die erforderliche Genehmigung – genutzt wird oder mit dem materiellen Baurecht bei fehlender Baugenehmigung nicht übereinstimmt (vgl. Urt. d. Senats v. 25.07.2013 – 2 L 73/11 –, juris RdNr. 36; OVG MV, Beschl. v. 27.03.2015 – 3 M 38/15 –, juris RdNr. 12). Diese Voraussetzungen eines Einschreitenns nach § 79 Satz 2 BauO LSA liegen nicht vor.

15

Die Nutzung der Lagerhalle durch die Antragstellerin ist nicht formell illegal, denn sie entspricht der Nutzungsänderungsgenehmigung des Antragsgegners vom 18.10.2012. Hiermit wurde die Nutzung der Lagerhalle durch ein "Gewerbeunternehmen mit Sortierbereichen (Schuhe und Bekleidung)" genehmigt. Die tatsächliche Nutzung der Lagerhalle durch die Antragstellerin entspricht – soweit derzeit ersichtlich – dieser Genehmigung. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die hierin enthaltenen abfallrechtlichen Auflagen nicht (vollständig) eingehalten werden. Die Antragstellerin ist an diese Auflagen nicht gebunden. Adressatin der Genehmigung ist vielmehr die (...) GbR. Eine Geltung der Nebenbestimmungen für die Antragstellerin ergibt sich auch nicht aus § 57 Abs. 3 BauO LSA, wonach bauaufsichtliche Genehmigungen und sonstige Maßnahmen auch für und gegen Rechtsnachfolger gelten. Die Antragstellerin ist nicht Rechtsnachfolgerin der (...) GbR, denn ein Bauherrenwechsel hat nicht stattgefunden. Zudem führt ein Verstoß gegen eine der Baugenehmigung beigefügte Auflage, soweit diese die Baugenehmigung nicht inhaltlich ändert, sondern lediglich zusätzliche Handlungspflichten begründet, nicht dazu, dass die Nutzung ohne die erforderliche Genehmigung erfolgt (vgl. Beschl. d. Senats v. 30.11.2006 – 2 M 264/06 –, juris RdNr. 2). Eine Auflage im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG oder § 71 Abs. 3 Satz 1 BauO LSA ist eine zusätzlich mit einem Verwaltungsakt verbundene, selbständig erzwingbare hoheitliche Anordnung. Sie ist nicht integrierter Bestandteil des Verwaltungsakts, sondern tritt selbständig zum Hauptinhalt eines Verwaltungsakts hinzu und ist für dessen Bestand und Wirksamkeit ohne unmittelbare Bedeutung (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.05.1974 – BVerwG 4 C 42.72 –, juris RdNr. 11; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 15. Aufl. 2014, § 36 RdNr. 29). Daraus folgt, dass die Nutzung einer baulichen Anlage auch dann nicht formell illegal ist, wenn gegen eine der Baugenehmigung beigefügte Auflage in diesem Sinne verstoßen wird. Das Mittel zur Durchsetzung derartiger Auflage ist nicht die Nutzungsuntersagung, sondern deren Vollstreckung (§§ 53 ff. SOG LSA). Im vorliegenden Fall betreffen die maßgeblichen Auflagen Nr. 21.1.1 und 21.1.2 (Input- und Output-Register), 21.2 (Mitteilungspflicht), 22.3 (Betriebstagebuch) und 24 (Gewährung des Zutritts zur Anlage) nicht den Inhalt der Baugenehmigung. Vielmehr begründen sie lediglich zusätzlich Handlungspflichten des Inhabers der Baugenehmigung. Daraus folgt, dass die Nutzung der Lagerhalle durch die Antragstellerin selbst dann noch mit der erforderlichen Genehmigung erfolgt, wenn die der Genehmigung vom 18.10.2012 beigefügten Auflagen nicht (vollständig) befolgt werden. Da die erforderliche Genehmigung für die Nutzung der Halle durch die Antragstellerin vorliegt, stellt sich die Frage, ob die Nutzung materiell baurechtswidrig ist, nicht.

16

Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Vertiefung, ob die Nutzungsuntersagung vom 04.02.2015 frei von Ermessensfehlern ist. Hierfür bestehen Anhaltspunkte, weil der Antragsgegner in dem Bescheid ausgeführt hat, er habe bei der Entscheidung nach § 79 Satz 2 BauO LSA "keinen Ermessensspielraum". Noch in der Stellungnahme zu der Beschwerde vom 23.06.2015 trägt er vor, infolge der Auslegung des § 79 Satz 2 BauO LSA, wonach die Nutzung zu untersagen sei, wenn die Nutzung den öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht entspreche, ergebe sich "keine Möglichkeit der Ermessensausübung". Diese Ausführungen sind zumindest missverständlich.

17

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

18

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Der Senat schließt sich der Auffassung der Vorinstanz an, dass aufgrund fehlender Anhaltspunkte zur Höhe des der Antragstellerin durch die Nutzungsuntersagung entstehenden Schadens oder der Aufwendungen (vgl. Nr. 9.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31.05./01.06.2012 und am 18.07.2013 beschlossenen Änderungen) auf den Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG zurückzugreifen ist, der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu halbieren ist.


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