Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (1. Senat) - 1 M 159/15

Gründe

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Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 114 Abs. 1 Satz 1, 119 Abs. 1 Satz 1, 121 Abs. 1 ZPO.

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Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtes Halle - 4. Kammer - vom 7. August 2015, mit dem sein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. Mai 2015 abgelehnt wurde, ist zulässig und wurde insbesondere fristgemäß eingelegt.

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Die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO einmonatige Beschwerdebegründungsfrist endete im Hinblick auf den dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers laut Empfangsbekenntnis am 17. August 2015 zugestellten Beschluss des Verwaltungsgerichtes Halle vom 7. August 2015 am Donnerstag, den 17. September 2015. Die zu dem vorliegend maßgeblichen Aktenzeichen 1 M 159/15 übersandte Beschwerdebegründung ging zwar erst am 18. September 2015 per Telefax beim Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt ein, betraf aber - wie Inhalt und Antrag der Beschwerdebegründung zweifelsfrei und offenkundig erkennen lassen - den ebenfalls vom 7. August 2015 datierenden, mit identischem erstinstanzlichen Aktenzeichen versehenen Beschluss des Verwaltungsgerichtes über die Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrages für die erste Instanz, der vom Antragsteller ebenfalls angefochten wurde und hier das Aktenzeichen 1 O 160/15 erhalten hat. Bereits am 17. September 2015 ging dem Oberverwaltungsgericht per Telefax eine Beschwerdebegründung zu dem Aktenzeichen 1 O 160/15 zu, deren Anträge und Inhalt sich ebenso offenkundig und zweifelsfrei auf das vorläufige Rechtsschutzverfahren 1 M 159/15 beziehen. Bei dieser Sachlage ist die Verwechselung des Aktenzeichens bei der Beschwerdebegründung unschädlich. Der Fehler ist offensichtlich und erlaubte innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist eine zweifelsfreie Zuordnung, zu welchem Beschluss die Beschwerdebegründung ergangen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 1999 - XII ZB 140/98 -, juris; Urteil vom 11. Januar 2001 - III ZR 113/00 -, juris).

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Die Beschwerde ist auch begründet. Auf der Grundlage der mit der Beschwerdebegründung vorgebrachten Einwände, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 1 und 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt sich die begehrte Abänderung des angefochtenen Beschlusses.

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Hinsichtlich des Widerrufs der dem Antragsteller erteilten Reisegewerbekarte (Nr. 164/93) zum Feilbieten von Textilien, Lederwaren, Modeschmuck, Geschenkartikeln gemäß Ziff. 1 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 18. Mai 2015 erscheint nach derzeitigem Erkenntnisstand zweifelhaft, ob der für die strafrechtliche Verurteilung des Antragstellers maßgebliche Sachverhalt sowie seine Beitragsrückstände bei der Deutschen Rentenversicherung (K.), Minijob-Zentrale angesichts der noch ausstehenden Widerspruchsentscheidung hinreichend Anlass für die Prognose bieten werden, der Antragsteller werde sich auch in Zukunft als unzuverlässig im gewerberechtlichen Sinne erweisen. Sein Vorbringen in der Beschwerdebegründungsschrift, er beschäftige keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer mehr, ließe jedenfalls mögliche Verstöße des Antragstellers gegen sozialversicherungsrechtliche Verpflichtungen - wie sie in der Vergangenheit aufgetreten sind - künftig nicht erwarten. An der Glaubhaftigkeit der Angaben des Antragstellers zu zweifeln, besteht bislang auch kein Anlass. Seine jahrzehntelang unbeanstandet gebliebene gewerbliche Tätigkeit, die von ihm angegebenen persönlichen Gründe für die Vernachlässigung seiner Arbeitgeberpflichten, die sich in dieser Form nicht wiederholen dürften, der Umstand, dass die für den Rückstand maßgeblichen Arbeitnehmer laut Schreiben der Minijob-Zentrale vom 12. März 2015 bereits zum 31. Januar 2014 abgemeldet wurden sowie Art und Umfang seiner gewerblichen Tätigkeit, die nicht erkennen lassen, dass er diese nicht allein ausüben kann, machen einen künftigen Verzicht auf die Beschäftigung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern durchaus plausibel.

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Soweit der Antragsteller mittlerweile eine Ratenzahlungsvereinbarung mit der Minijob-Zentrale abgeschlossen und zwei Ratenzahlungen belegt hat, erscheint auch durchaus möglich, dass der Beitragsrückstand - wie vereinbart - bis Mitte nächsten Jahres zurückgeführt werden kann. Allerdings lässt sich bislang die Schlüssigkeit des Sanierungskonzeptes nicht zuverlässig beurteilen, weil der Antragsteller keine Angaben dazu macht, ob und zu welchen Bedingungen er weiterhin mit der finanziellen Unterstützung der Frau (F.) rechnen kann, von deren Konto die vorgenannten zwei Ratenzahlungen erfolgt sind. Ob er seinerseits bei Fortsetzung seiner gewerblichen Tätigkeit in der Lage sein wird, die vereinbarte monatliche Rate von 100,00 € selbst zu erbringen, erscheint offen.

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Zweifel an seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit begründet nicht nur der Umstand, dass mit Beschluss des Amtsgerichtes Dessau-Roßlau vom 25. April 2014 der Antrag der Minijob-Zentrale auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Verfahrenskosten deckender Masse abgelehnt wurde und bislang nicht nachvollziehbar dargelegt wurde, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers danach bis zur Untersagung und angeordneten Einstellung seiner gewerblichen Tätigkeit im Mai 2015 wesentlich verbessert haben. Soweit die Beschwerdebegründungsschrift darauf verweist, der Antragsteller sei in diesem Zeitraum allen seinen Zahlungsverpflichtungen in unternehmerischer Hinsicht nachgekommen, insbesondere seien keine Rückstände bei der Gesamtsozialversicherung entstanden, erscheint bereits zweifelhaft, ob in diesem Zeitraum überhaupt Verpflichtungen im Rahmen der Gesamtsozialversicherung bestanden haben und zu erfüllen waren. Zudem soll der Antragsteller laut Angaben der Gewerbekartei seine Betriebsaufgabe zum 31. März 2014 angezeigt haben (vgl Beiakte A, Bl. 59). Auch macht das Beschwerdevorbringen noch nicht hinreichend plausibel, dass die Einnahmen des Antragstellers aus gewerblicher Tätigkeit die Zahlung der vereinbarten Raten erlaubt hätten bzw. hiervon künftig auszugehen ist. Zu Recht verweist die Antragsgegnerin auf den Umstand, dass dem Antragsteller ausweislich des Bescheides des Jobcenters – Kommunale Anstalt des öffentlichen Rechts für Beschäftigung und Arbeit des Landkreises Anhalt-Bitterfeld (KomBA-ABl) vom 15. April 2015 (Beiakte A, Bl. 82 ff.) unter „Berücksichtigung von Einkommen aus selbständiger Tätigkeit … vorläufig basierend auf den prognostizierten Angaben vom 17.03.2015“ laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bewilligt wurden und ausweislich einer Auskunft der ARGE der Antragsteller schon vor Mai/2015 Leistungsempfänger war.

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Andererseits kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Antragsteller sein Gewerbe jahrzehntelang beanstandungsfrei ausgeübt hat und außer dem streitgegenständlichen Rückstand bei der Minijob-Zentrale - soweit ersichtlich - keine anderen Verbindlichkeiten bei öffentlichen Gläubigern entstanden sind. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller bei Wiederaufnahme seiner gewerblichen Tätigkeit, die vereinbarte Ratenzahlung nicht zu erwirtschaften vermag oder nicht willens sein könnte, die Zahlungsvereinbarung einzuhalten, ergeben sich bislang nicht. Im Hinblick auf die noch ausstehende Widerspruchsentscheidung ist dem Antragsteller daher Gelegenheit zu geben, seine Behauptung hinsichtlich der Erfüllung der Ratenzahlungsvereinbarung zu belegen.

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Selbst wenn im Übrigen künftig noch ein Restschuldbetrag bei der Minijob-Zentrale bestehen sollte und/oder sich die Annahme einer gewerberechtlichen Unzuverlässigkeit auch wegen fehlender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit rechtfertigen sollte, machen beide Umstände noch nicht ohne Weiteres plausibel, dass ohne den Widerruf der Reisegewerbekarte das öffentliche Interesse im Sinne des vorliegend maßgeblichen Widerrufsgrundes gemäß § 1 Abs. 1 VwVfG LSA i. V. m. § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG gefährdet würde.

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Soweit der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichtes insoweit eine konkrete Gefährdung des öffentlichen Interesses verlangt, sind - mangels Beschäftigung von Arbeitnehmern - keine weiteren Verstöße des Antragstellers gegen sozialversicherungsrechtliche Pflichten zu erwarten, und es ist nicht ersichtlich, dass sich der Antragsteller gegenüber anderen, sich rechtstreu verhaltenden Gewerbetreibenden insoweit wettbewerbsrechtliche Vorteile verschaffen würde. Fraglich erscheint auch, ob ein möglicher Restschuldbetrag bei der Minijob-Zentrale sowohl der Höhe nach, wie auch aufgrund des Umstandes, dass ein mögliches Ansteigen nicht auf neue Verbindlichkeiten, sondern auf Säumniszuschläge, Mahngebühren etc. zurückzuführen wäre, eine konkrete Gefährdung im Sinne des § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG begründen könnte. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller bei wirtschaftlicher Leistungsunfähigkeit künftig, d. h. abgesehen von dem bisherigen Rückstand, öffentliche oder private Gläubiger nicht termingerecht bedienen wird, liegen bisher nicht vor. Die Art des Gewerbes zwingt den Antragsteller auch nicht zum Eingehen langfristiger Verbindlichkeiten. Er kann entsprechend seiner Finanzlage im Rahmen des Wareneinkaufs, bei Standgebühren etc. flexibel auf seine wirtschaftliche Lage reagieren. Seine Vertragspartner können sich im Rahmen des Wareneinkaufs, wegen Standgebühren, Kfz-Kosten etc. durch Vorauszahlungen des Antragstellers oder andere Sicherheiten hinreichend schützen. Steuern oder sonstige öffentliche Abgaben ist der Antragsteller - soweit ersichtlich und diese überhaupt anfallen - bislang nicht schuldig geblieben. Für einen besonderen Kunden- oder Verbraucherschutz bietet sein Gewerbe, das im Verkauf von durch den Kunden am Verkaufsstand zu besichtigender Ware gegen Barzahlung bestehen dürfte, bislang ebenfalls keinen Anhalt.

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Angesichts dieser Sachlage bestehen an der Rechtmäßigkeit des Widerrufs der Reisegewerbekarte gemäß Ziff. 1 des Bescheides vom 18. Mai 2015 hinreichende rechtliche Bedenken, sodass die nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderliche Interessenabwägung zu Gunsten des Aussetzungsinteresses des Antragstellers ausfällt.

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Die Beschwerdebegründungsschrift macht auch zu Recht geltend, dass sich die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches bezüglich des Widerrufes der Reisegewerbekarte auch auf die weiteren Regelungen in Ziff. 2 bis 5 des angefochtenen Bescheides auswirkt.

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Die Einstellung der mit der Reisegewerbekarte verbundenen Tätigkeit gemäß § 60d GewO (Ziff. 2 des Bescheides) ist jedenfalls zur Zeit nicht gerechtfertigt. Aufgrund des Suspensiveffektes des Widerspruches gegen den Widerruf der Reisegewerbekarte betreibt der Antragsteller sein Gewerbe während der Dauer der aufschiebenden Wirkung mit der erforderlichen Erlaubnis. Folgerungen tatsächlicher oder rechtlicher Art aus dem verfügten Widerruf der Reisegewerbekarte lassen sich während der aufschiebenden Wirkung des vom Antragsteller eingelegten Widerspruches nicht ziehen. Dies gilt auch für den Antragsteller belastende Folgemaßnahmen, die - wie hier in engem rechtlichen Zusammenhang - an die Rechtswirksamkeit des Widerrufs der Reisegewerbekarte anknüpfen. Diese Rechtswirksamkeit ist mit Ergehen des Senatsbeschlusses suspendiert.

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Auch die unter Ziff. 4 des angefochtenen Bescheides verfügte Rückgabe der Reisegewerbekarte ist gemäß § 1 Abs. 1 VwVfG LSA i. V. m. § 52 Satz 1 VwVfG derzeit nicht gerechtfertigt, weil die Reisegewerbekarte weder unanfechtbar widerrufen oder zurückgenommen oder ihre Wirksamkeit aus einem anderen Grunde nicht oder nicht mehr gegeben ist, wobei an dieser Stelle dahinstehen kann, ob eine sofortige Vollziehbarkeit des Widerrufes der Reisegewerbekarte seiner Unanfechtbarkeit gleichstünde. Hinsichtlich der Regelungen in Ziff. 2 und 4 des angefochtenen Bescheides überwiegt daher das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, da den beiden Folgeregelungen, auch aufgrund ihrer engen rechtlichen Verknüpfung mit dem Widerruf der Reisegewerbekarte, das Verwirklichungs- und Aussetzungsverbot der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches gemäß § 80 Abs. 1 VwGO gegen den Widerruf der Reisegewerbekarte entgegensteht.

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In Bezug auf die von Gesetzes wegen gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 9 AG VwGO LSA sofort vollziehbare Zwangsmittelandrohung in Ziff. 3 und 5 des angefochtenen Bescheides ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruches des Antragstellers gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO anzuordnen, weil es mangels Vollziehbarkeit der jeweils zu vollstreckenden Grundverfügung an der Voraussetzung für die Anwendung von Verwaltungszwang fehlt. Ziff. 2 und 4 des angefochtenen Bescheides, auf die sich die Zwangsmittelandrohungen beziehen, sind mit Ergehen der Senatsentscheidung weder unanfechtbar noch sofort vollziehbar im Sinne des § 71 Abs. 1 VwVG LSA i. V. m. § 53 Abs. 1 SOG LSA.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

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Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 47 GKG.

18

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG i. V. m. 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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