Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (2. Senat) - 2 M 79/19
Gründe
I.
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Der Antragsteller begehrt die Erteilung einer Ausbildungsduldung und einer Beschäftigungserlaubnis für eine Berufsausbildung zum Bauten- und Objektbeschichter.
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Der aus B. stammende Antragsteller reiste im Jahr 2015 in das Bundesgebiet ein und durchlief erfolglos ein Asylverfahren.
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Mit Schreiben vom 19.01.2017 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller auf, sich unverzüglich bei der Auslandsvertretung (Botschaft) seines Heimatlandes um ein Rückreisedokument (Pass oder Passersatz) zu bemühen. Mit Schreiben vom 07.02.2017 beantragte die Antragsgegnerin bei dem Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt – Referat Zentrales Rückkehrmanagement – die Beschaffung von Passersatzpapieren für den Antragsteller sowie die Einleitung der Abschiebung nach B.. Mit Schreiben vom 06.08.2018 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller erneut zur Vorlage bzw. Beschaffung eines Reisepasses bzw. Passersatzes sowie zusätzlich zur Beschaffung von Identitätsdokumenten auf. Mit weiterem Schreiben vom 17.09.2018 forderte sie den Antragsteller auf, sich über seine Eltern oder Geschwister, die noch in B. lebten, die in seinem Heimatland verbliebenen Dokumente (Reisepass, ID-Card, Geburtsurkunde) übersenden zu lassen.
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Mit Antrag vom 07.02.2019 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Erteilung einer Ausbildungsduldung. Er absolviere gerade eine Ausbildung zum Maler und Lackierer. Bereits am 29.08.2018 hatte er einen Berufsausbildungsvertrag mit dem Ausbildungsbetrieb M., M-Straße, M-Stadt, über eine Ausbildung zum Bauten- und Objektbeschichter abgeschossen. Die Ausbildung sollte vom 03.09.2018 bis zum 02.09.2020 dauern. Die Ausbildungsvergütung sollte im 1. Lehrjahr monatlich 620,00 € brutto und im 2. Lehrjahr monatlich 685,00 € brutto betragen. Am 17.09.2018 war der Vertrag in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse bei der Handwerkskammer Halle (Saale) eingetragen worden. Mit anwaltlichem Schreiben vom 05.06.2019 stellte der Antragsteller klar, dass der Antrag vom 07.02.2019 auch als Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis zu werten sei.
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Bereits im August 2018 hatte der Antragsteller bei der Botschaft von B. in Berlin vorgesprochen, um einen Reisepass zu beantragen. Dies blieb ohne Erfolg, da er keine Urkunden vorlegen konnte, die seine B.-Staatsangehörigkeit belegten. Im Oktober 2018 hatte er mit einem Schreiben an das Ministerium für Gesundheit in C./B. um die Ausstellung eines Reisepasses bzw. Passersatzpapieres gebeten. Mit Schreiben vom 04.06.2019 bevollmächtigte er seine Schwester, Dokumente wie Geburtsurkunde, Reisepass oder Ähnliches für ihn zu beantragen und sich aushändigen zu lassen.
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Mit Schreiben vom 14.06.2019 bestätigte Herr N., der Ausbilder des Antragstellers, dass das seit dem 03.09.2018 bestehende Ausbildungsverhältnis wegen der ungeklärten Ausbildungsduldung mit sofortiger Wirkung ruhe. Nach vollständiger Klärung könne das Ausbildungsverhältnis jederzeit fortgesetzt werden. Mit Schreiben vom 17.06.2019 bestätigte die Handwerkskammer Halle (Saale) das Ruhen des Ausbildungsverhältnisses in der Zeit vom 14.06.2019 bis zum 02.09.2020.
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Am 21.06.2019 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
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Mit Beschluss vom 03.07.2019 – 1 B 134/19 HAL – hat das Verwaltungsgericht die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache eine Ausbildungsduldung sowie eine Beschäftigungserlaubnis für seine Ausbildung zum Bauten- und Objektbeschichter bei der Firma M. zu erteilen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dem Antragsteller stehe der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung zu. Die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG lägen vor. Der seit dem 14.12.2016 vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller befinde sich seit dem 03.09.2018 in einem Ausbildungsverhältnis als Bauten- und Objektbeschichter, mithin in einer qualifizierten Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf. Ein Beschäftigungsverbot nach § 60a Abs. 6 AufenthG bestehe nicht. Insbesondere liege kein Fall des § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 AufenthG vor. Ein solcher Versagungsgrund folge nicht bereits daraus, dass der Antragsteller weder einen Pass der Republik B. noch eine Geburtsurkunde vorlegen könne. Der Nichtbesitz von Ausweisdokumenten sei nicht Tatbestandsmerkmal des § 60 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 AufenthG. Der Antragsteller habe nicht zu vertreten, dass sein Aufenthalt derzeit nicht beendet werden könne. Zwar könne grundsätzlich auch in der unzureichenden Mitwirkung bei der Passbeschaffung ein Versagungsgrund nach § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu sehen sein. Der Antragsteller habe jedoch – wie von der Antragsgegnerin gefordert – bei der Botschaft B.s die Ausstellung eines Reisepasses beantragt. Darüber hinaus habe er sich an das Gesundheitsministerium gewandt und seine Schwester in B. gebeten, ihm bei der Beschaffung von Identitätspapieren – hierzu gehöre auch eine Geburtsurkunde – behilflich zu sein. Dass die genannten Mitwirkungshandlungen nicht innerhalb der ihm gesetzten Frist vorgenommen worden seien, sei ohne Belang. Die Erteilung einer Ausbildungsduldung sei auch nicht wegen des Bevorstehens konkreter Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung ausgeschlossen. Abzustellen sei auf den Zeitpunkt des Antrags auf Erteilung einer Ausbildungsduldung am 07.02.2019. Zu diesem Zeitpunkt hätten keine konkreten Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung vorgelegen. Die bereits am 07.02.2017 erfolgte Übermittlung der einschlägigen Abschiebungsunterlagen an das Rückkehrmanagement Sachsen-Anhalt mit der Bitte um Beschaffung von Passersatzdokumenten reiche insoweit nicht aus. Das Zentrale Rückkehrmanagement habe bislang noch keine Passersatzpapiere beantragt. Voraussetzung hierfür sei, dass der Antragsteller zuvor in einer Sammelanhörung Vertretern der Republik B. vorgestellt worden sei. Dies sei bislang nicht geschehen, die letzte Sammelanhörung mit Beteiligung des Staates B. habe im Dezember 2016 stattgefunden. Dem Antragsteller stehe darüber hinaus ein Anspruch auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG i.V.m. § 32 Abs. 2 Nr. 2 BeschV zu. Der Antragsteller habe auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Dies folge bereits aus der Tatsache, dass der Antragsteller seine Ausbildung zum Bauten- und Objektbeschichter bei der Firma M. bereits am 03.09.2018 begonnen habe und diese unter dem 14.06.2019 aufgrund des ungeklärten Aufenthaltstitels ruhend gestellt worden sei. Ein weiteres Zuwarten hätte zur Folge, dass der Antragsteller möglicherweise seinen Berufsausbildungsplatz verliere bzw. die Ausbildung nicht mehr mit Erfolg beenden könne. Ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung würde mithin dazu führen. dass der Antragsteller seine Ausbildungsstelle verlieren würde. Die sei ihm nicht zumutbar. In Anbetracht der zeitlichen Befristung des Ausbildungsvertrages auf zwei Jahre sei im vorliegenden Fall von einer zulässigen Vorwegnahme der Hauptsache auszugehen, die aufgrund der ansonsten drohenden, nicht zumutbaren Nachteile für den Antragsteller (Verlust des Ausbildungsplatzes) und der hohen Wahrscheinlichkeit seines Obsiegens in der Hauptsache notwendig sei.
II.
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Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung.
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1. Zu Unrecht macht die Antragsgegnerin geltend, es fehle bereits an einem Anordnungsgrund.
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a) Die Antragsgegnerin trägt vor, es erschließe sich nicht, weshalb die unerlaubt eigenmächtig begonnene Ausbildung des Antragstellers schutzwürdig sein soll, obwohl dieser nach eigenen Angaben bereits zuvor eine Ausbildung als Buchhalter erfolgreich abgeschlossen habe und damit höher qualifiziert ausgebildet worden sei. Hiermit wird der vom Verwaltungsgericht angenommene Anordnungsgrund nicht in Frage gestellt.
- 12
Ein Anordnungsgrund für den Erlass einer Regelungsanordnung erfordert das Vorliegen besonderer Gründe, die es unzumutbar erscheinen lassen, den Antragsteller auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Der Anordnungsgrund ist folglich gleichzusetzen mit der Dringlichkeit bzw. Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 30.08.2018 – 13 ME 325/18 –, juris RdNr. 4; Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl., RdNr. 129). Ein Anordnungsgrund ist insbesondere dann anzunehmen, wenn ein weiteres Zuwarten zu unumkehrbaren Rechtsnachteilen für den Antragsteller führen würde. Mit Blick auf eine Ausbildungsduldung ist dies insbesondere dann der Fall, wenn der Antragsteller seine Ausbildung nicht beginnen oder fortsetzen kann und dadurch seinen Ausbildungsplatz und damit auch seinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung für die Zeit der Ausbildung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG verliert (vgl. HessVGH, Beschl. v. 15.02.2018 – 3 B 2137/17 –, juris RdNr. 3; offen gelassen von BayVGH, Beschl. v. 30.01.2019 – 19 CE 18.1725 –, juris RdNr. 14). Hiernach läge ein Anordnungsgrund vor, wenn der Antragsteller – wie das Verwaltungsgericht ausgeführt hat – einen Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung hat und durch weiteres Zuwarten seine Ausbildungsstelle verlieren würde, denn in diesem Fall würde ihm ohne die einstweilige Anordnung ein Rechtsverlust entstehen. Eine frühere Ausbildung des Antragstellers als Buchhalter schließt die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung nicht aus.
- 13
b) Darüber hinaus wendet die Antragsgegnerin gegen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes und die Zulässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache ein, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts würde ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung nicht dazu führen, dass der Antragsteller seine Ausbildungsstelle verlieren würde. Der Inhaber des Ausbildungsbetriebes habe mit Schreiben vom 14.06.2019 gegenüber dem Antragsteller ausdrücklich erklärt, dass das Ausbildungsverhältnis nach vollständiger Klärung jederzeit fortgesetzt werden könne. Es sei somit nicht so, dass ein Zuwarten bis zur Beendigung des Hauptsacheverfahrens für den Antragsteller mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre und der Antragsteller seinen Ausbildungsplatz verlieren würde. An die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes und des Anordnungsanspruches seien erhöhte Anforderungen zu stellen, wenn der Antrag – wie hier – auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet sei. Das Verwaltungsgericht gehe selbst davon aus, dass im vorliegenden Fall eine Vorwegnahme der Hauptsache vorliege. Den erhöhten Anforderungen an die Glaubhaftmachung schon eines Anordnungsgrundes könne der Vortrag des Antragstellers aus den vorgenannten Gründen aber nicht gerecht werden.
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Auch diese Einwände der Antragsgegnerin greifen nicht durch. Zwar macht sie zu Recht geltend, dass – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts – im vorliegenden Fall nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann, dass ein weiteres Zuwarten für den Antragsteller den Verlust seines Ausbildungsplatzes zur Folge habe. Hiergegen spricht, dass sein Ausbilder mit Schreiben vom 14.06.2019 ausdrücklich erklärt hat, das Ausbildungsverhältnis könne nach vollständiger Klärung jederzeit fortgesetzt werden. Gleichwohl hat das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes und die Zulässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache angenommen.
- 15
Eine Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Anordnungsverfahren ist zwar grundsätzlich unzulässig. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG gilt das Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung jedoch nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d. h. wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht (vgl. HessVGH, Beschl. v. 15.02.2018 – 3 B 2137/17 –, a.a.O. RdNr. 2; Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O., RdNr. 193; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl., § 123 RdNr. 14). Hierbei wird zwar davon auszugehen sein, dass allein "Zeitgründe", d.h. der Zeitablauf bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren über den Anspruch auf Erteilung einer Erlaubnis – einschließlich einer ausländerrechtlichen Beschäftigungserlaubnis – und die damit verbundenen finanziellen Einbußen regelmäßig noch keinen ausreichenden Grund für die Notwendigkeit einer die Hauptsache vorwegnehmenden einstweiligen Anordnung bilden (vgl. VGH BW, Beschl. v. 12.10.2005 – 11 S 1011/05 –, juris RdNr. 12). Etwas anderes gilt jedoch im Hinblick auf den durch das Integrationsgesetz vom 31.07.2016 (BGBl. I S. 1939) mit Wirkung vom 06.08.2016 in das Gesetz eingefügten Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 4 ff. AufenthG sowie den hiermit verknüpften Anspruch auf Erteilung einer entsprechenden Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG i.V.m. § 32 Abs. 2 Nr. 2 BeschV (vgl. Beschl. d. Senats v. 23.10.2018 – 2 M 112/18 –, juris RdNr. 29). Diese dienen der Förderung der Integration von geduldeten Ausländern und gleichzeitig dazu, dem Interesse der Wirtschaft an zusätzlichen Fachkräften Rechnung zu tragen (vgl. Kluth/Breidenbach, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 21. Edition, Stand: 01.11.2018, § 60a AufenthG RdNr. 26). Der Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis für qualifizierte Geduldete zum Zweck der Beschäftigung gemäß § 18a Abs. 1a AufenthG baut auf einem erfolgreichen Abschluss einer Berufsausbildung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG auf. Zugleich dient die Neufassung von § 60a Abs. 2 Satz 4 ff. AufenthG dazu, sowohl den Geduldeten als auch den ausbildenden Betrieben für die Zeit der Ausbildung und für einen begrenzten Zeitraum danach mehr Rechtsicherheit zu verschaffen und diese nicht weiter der Gefahr einer Sanktionierung auszusetzen (vgl. BT-Drs. 18/8615, S. 48). Die mit der Ausbildungsduldung bezweckte Integration des Ausländers und Herstellung von Rechtssicherheit gebieten insoweit eine zügige Entscheidung und stehen einem Verweis auf ein u.U. mehrere Jahre dauerndes Hauptsacheverfahren, während dessen das Ausbildungsverhältnis zum "Ruhen" gebracht wird, entgegen (vgl. VG München, Beschl. v. 07.03.2019 – M 25 E 19.520 –, juris RdNr. 21 und RdNr. 23).
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2. Ebenfalls zu Unrecht wendet sich die Antragsgegnerin gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
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a) Die Antragsgegnerin macht insoweit geltend, der Erteilung der Ausbildungsduldung stehe der Versagungsgrund des § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG entgegen, weil aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei dem Antragsteller aus Gründen, die er selbst zu vertreten habe, nicht vollzogen werden könnten. Der Antragsteller habe nicht alles Zumutbare getan, um sich wieder in den Besitz von Reisedokumenten zu bringen. Die Botschaft der Republik B. verlange für die Ausstellung eines Reisepasses ein ausgefülltes Formular, das über das Internet abrufbar sei. Der Antragsteller habe nicht dargetan, dass er ein solches Formular ausgefüllt und übersandt habe. Nicht ausreichend sei es auch, dass er sich an seine Schwester mit der Bitte gewandt habe, ihm bei der Beschaffung einer Geburtsurkunde behilflich zu sein. Der Antragsteller habe selbst eingeräumt, im Besitz einer Geburtsurkunde gewesen zu sein, so dass es nicht nachvollziehbar sei, weshalb er seine Schwester nicht gebeten habe, diese zu übersenden. Selbst wenn eine Neuausstellung einer Geburtsurkunde oder anderer Identitätspapiere erforderlich sein sollte, hätte sich der Antragsteller an eine andere Person, ggf. auch einen Rechtsanwalt, in seinem Heimatland wenden können. Der Antragsteller habe in keiner Weise dargelegt, dass er dies zumindest versucht hätte, obwohl ihm dies zumutbar gewesen wäre.
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Diese Einwände der Antragsgegnerin greifen nicht durch. Der Antragsteller hat sein Ausreisehindernis nicht i.S.d. § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG selbst zu vertreten.
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Zwar kann grundsätzlich auch eine unzureichende Mitwirkung bei der Passbeschaffung einen Versagungsgrund nach § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG darstellen (vgl. Beschl. d. Senats v. 23.10.2018 – 2 M 112/18 –, a.a.O. RdNr. 18 m.w.N.). Ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer ist im Rahmen der ihm obliegenden Mitwirkungspflichten gefordert, bezüglich seiner Identität und Staatsangehörigkeit zutreffende Angaben zu machen, an allen zumutbaren Handlungen mitzuwirken, die die Behörden von ihm verlangen, und darüber hinaus eigeninitiativ ihm mögliche und bekannte Schritte in die Wege zu leiten, die geeignet sind, seine Identität und Staatsangehörigkeit zu klären und die Passlosigkeit zu beseitigen. Die zuständige Ausländerbehörde ist dabei auch gehalten, in Erfüllung ihr selbst obliegender behördlicher Mitwirkungspflichten konkret zu bezeichnen, was genau in welchem Umfang vom Ausländer erwartet wird, wenn sich ein bestimmtes Verhalten nicht bereits aufdrängen muss. Die Behörde ist regelmäßig angesichts ihrer organisatorischen Überlegenheit und Sachnähe besser in der Lage, die bestehenden Möglichkeiten zu erkennen und die erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten. Die Ausländerbehörde muss gesetzliche Mitwirkungspflichten beispielsweise zur Beschaffung von Identitätspapieren konkret gegenüber dem Betroffenen aktualisiert haben, um aus der mangelnden Mitwirkung negative aufenthaltsrechtliche Folgen ziehen zu können. Unter Berücksichtigung der Regelbeispiele in § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG muss eine mangelnde Mitwirkung ein gewisses Gewicht erreichen, so dass es gerechtfertigt erscheint, sie aktivem Handeln gleichzustellen (vgl. BayVGH, Beschl. v. 09.05.2018 – 10 CE 18.738 –, juris RdNr. 6; Beschl. d. Senats v. 23.10.2018 – 2 M 112/18 –, a.a.O. RdNr. 19). Der Erteilung einer Ausbildungsduldung bzw. Beschäftigungserlaubnis können dabei nur solche Gründe entgegengehalten werden, die derzeit den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen hindern. Gründe, die den Vollzug ausschließlich in der Vergangenheit verzögert oder behindert haben, sind unbeachtlich (vgl. BayVGH, Beschl. v. 09.05.2018 – 10 CE 18.738 –, a.a.O. RdNr. 5; Kluth/Breidenbach, in: Kluth/Heusch, a.a.O., § 60a AufenthG RdNr. 54).
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Nach diesen Grundsätzen ist es vorliegend – entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin – ohne Belang, ob in der Vergangenheit durch ein Verschulden des Antragstellers Verzögerungen bei der Beschaffung seiner Geburtsurkunde eingetreten sind, denn nach seinen Angaben in seinem Schriftsatz vom 28.08.2019, denen die Antragsgegnerin nicht entgegengetreten ist, liegt ihm diese inzwischen vor. Zudem hat er angekündigt, in Absprache mit der Antragsgegnerin einen Antrag auf Ausstellung eines Nationalpasses bei seiner Heimatbotschaft in Berlin stellen zu wollen. Damit kann ihm eine unzureichende Mitwirkung bei der Passbeschaffung nicht (mehr) entgegengehalten werden.
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Darüber hinaus dürfte sich aus einer Verletzung der Mitwirkungspflicht des Antragstellers auch deshalb kein Versagungsgrund i.S.d. § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ergeben, weil diese für ein Abschiebungshindernis nicht kausal gewesen sein dürfte. Die Verletzung einer Mitwirkungspflicht wirkt nur dann aus Ausschlussgrund, wenn sie für die Unmöglichkeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ursächlich ist. Soweit aufenthaltsbeendende Maßnahmen derzeit auch dann nicht vollzogen werden könnten, wenn der Ausländer seine Mitwirkungspflichten vollumfänglich erfüllt hätte, z.B. weil das Herkunftsland aus von dem Ausländer nicht zu vertretenden Gründen eine Rücknahme verweigert, begründet der Pflichtverstoß keinen Ausschlussgrund (vgl. OVG BBg, Beschl. v. 22.11.2016 – OVG 12 S 61.16 –, juris RdNr. 4; Beschl. d. Senats v. 23.10.2018 – 2 M 112/18 –, a.a.O. RdNr. 19; Kluth/Breidenbach, in: Kluth/Heusch, a.a.O., § 60a AufenthG RdNr. 55; siehe auch den Erlass des Ministeriums für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt vom 19.12.2017, Zeichen 34.2, Ausländerrecht, Praktische Umsetzung der Anspruchsduldung zu Ausbildungszwecken – § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG, S. 7). An der Kausalität einer etwaigen Verletzung der Mitwirkungspflicht des Antragstellers für ein Abschiebehindernis dürfte es hier fehlen. Nach einer telefonischen Auskunft der Referatsleiterin des Zentralen Rückkehrmanagements bei dem Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt vom 02.07.2019, welche die Berichterstatterin des Verwaltungsgerichts in einem Vermerk festgehalten hat, verhalte sich B. sehr unkooperativ und habe über Jahre hinweg keine Landsleute zurückgenommen. Das Verfahren hinsichtlich B.s laufe in mehreren Schritten ab. Zuerst finde in jedem Fall eine Sammelanhörung vor Vertretern des Staates B. statt, um die Identität zu klären. Danach werde – wenn ein positives Ergebnis des Staates B. vorliege – das Verfahren an die Bundespolizei weitergeleitet, welche dann Passersatzpapiere beantrage. Auch wenn die Identität geklärt sei, dauere es in der Regel noch mehrere Jahre bis zu einer Abschiebung. Zurzeit gebe es zu viele geklärte Identitäten, sie kämen mit den Abschiebungen nicht hinterher. Die letzte Sammelanhörung hinsichtlich B.s sei im Dezember 2016 gewesen. Danach habe keine Anhörung mehr stattgefunden. Vor diesem Hintergrund dürfe davon auszugehen sein, dass eine Abschiebung des Antragstellers (bislang) selbst dann nicht möglich gewesen wäre, wenn dieser seinen Mitwirkungspflichten vollständig nachgekommen wäre.
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b) Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin scheitert der Anordnungsanspruch auch nicht aus anderen Gründen.
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Die Antragsgegnerin wendet ein, der Rechtsanspruch auf eine Duldung bestehe nur, wenn der Ausländer erstmalig eine qualifizierte Berufsausbildung aufnehme. Habe er durch eine langjährige, einschlägige Berufserfahrung auch im Ausland eine entsprechende Berufsqualifikation erworben, stelle sich die Aufnahme einer lediglich formalen Berufsausbildung als rechtsmissbräuchlich das. So liege der Fall hier, da der Antragssteller als Buchhalter ausgebildet worden sei.
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Auch dieser Einwand verfängt nicht. Es kann dahinstehen, ob der von der Antragsgegnerin zitierten Rechtsprechung zu folgen ist, nach der die Aufnahme einer Berufsausbildung durch einen Ausländer, der eine entsprechende Berufsqualifikation bereits durch langjährige, einschlägige Berufserfahrung erworben hat, rechtsmissbräuchlich und deshalb nicht geeignet ist, dringende persönliche Gründe im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu belegen, die ansonsten bereits durch die Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung in gesetzlich typisierter Weise als vorhanden gelten (vgl. OVG RP, Beschl. v. 31.07.2017 – 7 B 11276/17 –, juris RdNr. 7), denn ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Der Antragsteller hat vorliegend keine Berufsausbildung in einem Beruf aufgenommen, in dem er bereits über eine langjährige Berufserfahrung verfügt. Vielmehr hat er in seinem Heimatland eine Ausbildung als Buchhalter erhalten, während er im Bundesgebiet eine Berufsausbildung zum Bauten- und Objektbeschichter absolvieren möchte. Zudem dürfte eine Ausbildungsduldung auch für eine Zweitausbildung erteilt werden können, wenn der Ausbildungsbewerber über eine (im Herkunftsstaat erworbene) qualifizierte Berufsausbildung verfügt, er aber eine weitere selbstständige Ausbildung anstrebt, die ihm eine berufliche Qualifikation außerhalb seines bisherigen Ausbildungsbereichs oder über seine bisherige berufliche Tätigkeit hinaus vermittelt (Zweitausbildung) (vgl. Berlit, NVwZ-Extra 4/2019, S. 15 m.w.N.).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
- 26
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Weil mit der beantragten Erteilung der Ausbildungsduldung im Wege der einstweiligen Anordnung die Hauptsache vorweggenommen wird, legt auch der Senat den vollen Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG zugrunde.
- 27
Dem Antragsteller ist auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens zu bewilligen. Aus der als Anlage 2 zu dem Schriftsatz vom 28.08.2019 eingereichten Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen ergibt sich, dass er nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO). Die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung bleiben gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 119 Satz 2 ZPO im zweiten Rechtszug ungeprüft, da der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat. Die Entscheidung über die Beiordnung folgt aus § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 1 ZPO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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