Urteil vom Sozialgericht Magdeburg (14. Kammer) - S 14 VE 18/11

Tenor

Die Klage wird abgewiesen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand

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Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

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Die Klägerin wurde am ... 2005 als Kind einer alkoholkranken Mutter geboren. Ausweislich des Befundberichtes des sozialpädiatrischen Zentrums der Kinderzentrum M. GmbH vom 28.02.2008 leidet sie an einer globalen Entwicklungsverzögerung, an einer Wahrnehmungsverarbeitungsstörung mit Schwerpunkt Körperwahrnehmung und an einem Mikrocephalus. Sie sei durch ihre Mutter freiwillig in Pflege gegeben worden, da deren gesundheitliche und erzieherische Kompetenz überschritten sei. Die Klägerin habe bereits unmittelbar nach der Geburt an Entzugssymptomen gelitten. Sie sei in allen Bereichen entwicklungsretardiert. Mit Bescheid vom 10.3.2009 stellte der Beklagte bei ihr wegen einer globalen Entwicklungsverzögerung bei Alkoholembryopathie ab dem 07.10.2008 ein Grad der Behinderung von 50 fest.

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Im Rahmen der Amtspflegschaft für die Klägerin beantragte das Jugendamt des Landkreises B. am 18.02.2009 die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem OEG beim Beklagten. Dieser lehnte den Antrag mit Bescheid vom 30.04.2009 ab. Die Konsumtion des Alkohols durch die Mutter während der Schwangerschaft erfolgte infolge eines krankhaften Suchtverhaltens in fahrlässiger bzw. leichtfertiger Weise, ohne damit den Vorsatz eines tätlichen Angriffs i.S.v. des OEG verwirklichen zu wollen. Darüber hinaus erfülle das ungeborene Leben im Mutterleib noch nicht die Voraussetzungen einer rechtsfähigen natürlichen Person. Hiergegen erhob die Klägerin am 22.05.2009 Widerspruch. Der Anspruch scheitere nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht daran, dass das Kind erst nach dem schädigenden Ereignis auf die Welt gekommen sei. Die Kindesmutter habe gewusst, was für ein gesundheitlicher Schaden für das ungeborene Kind entstehe, wenn sie Alkohol trinke. Zwei ältere Kinder seien bereits verstorben. Mindestens das letztere verstorbene Kind sei mit hoher Wahrscheinlichkeit an den Folgen des Alkoholmissbrauchs der Mutter verstorben. Leistungen nach dem OEG seien auch dann zu gewähren, wenn der Täter schuldunfähig sei. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.06.2011 als unbegründet zurück. Die Klägerin sei kein Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Der Alkoholmissbrauch der Mutter stelle zweifellos kein strafrechtlich relevantes Verhalten dar. Ein vorsätzliches Verhalten der Mutter sei ebenfalls nicht anzunehmen.

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Hiergegen hat die Klägerin am 29.06.2011 Klage erhoben. Auch die ungeborene Leibesfrucht sei leistungsberechtigt nach dem OEG. Nach § 1 Abs. 2 OEG stehe einem tätlichen Angriff i.S.d. des Abs. 1 auch die vorsätzliche Beibringung von Gift gleich. Der Mutter der Klägerin sei klar gewesen, dass durch den Alkohol das ungeborene Kind geschädigt worden sei. Es könne keinen Unterschied machen, ob das ungeborene Kind durch einen Dritten oder die Mutter selbst geschädigt werde.

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Die Klägerin beantragt sinngemäß,

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den Bescheid des Beklagten vom 30.04.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.06.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr unter Anerkennung einer globalen Entwicklungsverzögerung bei Alkoholembryopathie als Schädigungsfolge eine Beschädigtenversorgung nachdem OEG nach einem GdS von mindestens 50 zu gewähren.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG komme in dem vorliegenden Fall allenfalls eine analoge Anwendung von § 1 OEG in Betracht. Eine planwidrige Gesetzeslücke sei allerdings nicht zu erkennen. Bei den so genannten Inzestfällen sei die Analogie damit gerechtfertigt worden, dass ein Verstoß gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Mutter vorliege. Eine solche Verletzung des Selbstbestimmungsrechts sei hier aber nicht gegeben. In dem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft sei auch kein Verstoß gegen die Rechtsordnung zu sehen. Die Klägerin sei innerhalb der sozialen Sicherungssysteme auch nicht schutzlos gestellt. Darüber hinaus sei fraglich, ob überhaupt ein vorsätzliches Handeln der Mutter der Klägerin gegeben gewesen sei. Hierbei komme allenfalls ein bedingter Vorsatz in Betracht. Ob ein solcher tatsächlich vorgelegen habe, sei im Hinblick auf die Alkoholerkrankung der leiblichen Mutter zweifelhaft. Soweit man von einem vorsätzlichen Handeln ausgehe, sei dies jedenfalls nicht rechtswidrig gewesen.

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Im Erörterungstermin am 12.02.2015 sind leiblichen Eltern der Klägerin als Zeugen vernommen worden. Hinsichtlich der Einzelheiten der Angaben der Zeugen wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls verwiesen.

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Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage zulässig, aber unbegründet.

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Der Bescheid des Beklagten vom 30.04.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2011 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach § 1 OEG. Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus einer analogen Anwendung dieser Vorschrift.

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Wer nach § 1 Abs. 1 Satz 1 des OEG im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug in Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitlichen Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Nach § 31 Abs. 1 i.V.m. § 30 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erhalten Beschädigte eine monatliche Grundrente bei einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 25. Der GdS ist nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wurde nach § 31 Abs. 17 BVG ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des GdS im Sinne des § 31 Abs. 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln. In Anwendung dieser Ermächtigungsnorm wurde die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung) mit Wirkung zum 01. 01. 2009 erlassen. Nach § 1 der Versorgungsmedizin-Verordnung regelt die Verordnung die Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des GdS. Maßgeblich ist hierbei insbesondere die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze").

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Eine direkte Anwendung von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG scheidet in dem vorliegenden Fall aus. Der Wortlaut dieser Vorschrift ("wer ... infolge eines Angriffs gegen seine oder eine andere Person") setzt offensichtlich voraus, dass der Geschädigte im Zeitpunkt des Angriffs bereits gelebt hat. Diese Voraussetzung wird weder im Fall der Leibesfrucht (nasciturus) noch im Fall des gleichzeitig mit der Gewalttat gezeugten Kindes erfüllt. Insofern besteht eine Regelungslücke (Urteil des BSG vom 16.04.2002,- B 9 VG 1/01 R -, juris). Die Klägerin war im Zeitpunkt der Schädigung durch den Alkoholkonsum ihrer Mutter noch nicht geboren, so dass allenfalls eine analoge Anwendung von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Betracht kommt. Die Voraussetzungen hierfür liegen allerdings nicht vor. Der Richter ist zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke im Wege der Rechtsfortbildung nur berufen, wo das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es die Regelung der Rechtsprechung überlassen wollte oder das Schweigen auf einem Versehen oder darauf beruht, dass sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach Erlass des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat. Grundsätzlich spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber die Leibesfrucht und auch das noch nicht gezeugte Kind bewusst von der Entschädigungsregelung ausnehmen wollte. Allerdings muss eine zu den geregelten Fällen gleichgelagerte Interessenlage bestehen. Es muss mithin ein rechtswidriger vorsätzlicher tätlicher Angriff gegen eine Person vorliegen und dadurch muss ein Gesundheitsschaden verursacht worden sein (Urteil des BSG vom 16.04.2002, a.a.O.). Zu den so genannten Inzestfällen hat das BSG in der zitierten Entscheidung eine gleichlautende Interessenlage bejaht, wenn es sich bei dem Geschlechtsverkehr im Rahmen der Inzestbeziehung um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gehandelt hat. Der Unterschied dieser Fälle zu den geregelten Tatbeständen besteht im Wesentlichen darin, dass sich die Gewalttat auf einen gleichzeitig mit ihr gezeugten oder nur wenig später werdenden Menschen auswirkt, indem sie ihn mit Gesundheitsschäden entstehen lässt. Dieser Unterschied hat aber im Vergleich zu den von § 1 OEG erfassten Fällen und angesichts des Zwecks der gesetzlichen Regelung untergeordnete Bedeutung und rechtfertigt gegenüber den gesund gezeugten, aber vorgeburtlich geschädigten Opfern keine unterschiedliche Behandlung (Urteil des BSG vom 16.04.2002, a.a.O.).

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Eine vergleichbare Interessenlage ist nicht für die Fälle gegeben, in denen die Mutter durch den Konsum von Alkohol oder Drogen die Leibesfrucht während der Schwangerschaft schädigt. Ein rechtswidriger, vorsätzlicher tätlicher Angriff kann in diesem Zusammenhang allerdings nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden. Der Begriff des "vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs" i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch (StGB) geregelt worden; gleichwohl orientiert sich die Auslegung an der im Strafrecht gewonnene Bedeutung des auch dort verwendeten rechtstechnischen Begriffs "tätlichen Angriffs". Mit Rücksicht auf den das OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes ist eine kämpferische, feindselige Absicht des Täters nicht erforderlich (Urteil des BSG vom 07.04.2011,- B 9 VG 2/10 R -, juris). Der vorsätzlichen Beibringung von Gift nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG kommt in diesem Zusammenhang kaum noch eigenständige Bedeutung zu. Die vorsätzliche Beibringung von gesundheitsschädlichen Stoffen (zum Beispiel Alkohol) dürfte nach heutigem Verständnis grundsätzlich als tätlicher Angriff anzusehen sein (Rademacker in Knickrehm, Kommentar zum Gesamten sozialen Entschädigungsrecht, § 1 OEG RdNr. 73). Im Gegensatz zu einer gewaltsamen Zeugung eines Kindes im Rahmen einer Inzestbeziehung liegt selbst bei einer bedingt vorsätzlichen Schädigung des Kindes durch den Alkoholkonsum der Mutter keine Straftat vor. Nach der herrschenden Meinung werden pränatale Handlungen nach § 223 StGB nicht erfasst, wenn diese sich noch vor dem Geburtsbeginn auswirken. Soweit diese Handlungen nach § 218 StGB nicht erfassbar sind, bleiben sie strafrechtlich sanktionslos (Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 29. Auflage, § 223 RdNr. 1b). Nach der Rechtsprechung des BSG ist es allerdings nicht erforderlich, dass ein Straftatbestand verwirklicht wird. Es kommt lediglich darauf an, dass das Verhalten des Täters auf Rechtsbruch gerichtet ist und dadurch der Täter seine Rechtsfeindlichkeit erkennen lässt. Rechtsfeindlich handelt, wer vorsätzlich und rechtswidrig einen Angriff gegen die körperliche Integrität eines anderen richtet. Dieses Verhalten darf nicht als sozialüblich und damit als rechtmäßig angesehen werden (Urteil des BSG vom 18. 05 1997,- 9 RVg 1/95 - juris zum zünden eines Feuerwerkskörpers in unmittelbarer Nähe einer Telefonzelle). Bei der Annahme eines Vorsatzes reicht es aus, dass der Angreifer mit bedingtem Vorsatz (dolus eventualis) gehandelt hat. Ein bedingter Vorsatz liegt vor, wenn der Täter eine körperliche Beeinträchtigung des Opfers zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat. D.h. der Täter muss sich im Augenblick der Tathandlung zumindest über die Möglichkeit des Erfolgseintritts (z.B. einer Körperverletzung) im Klaren gewesen und diese Kauf genommen haben. Im Gegensatz zum Strafrecht ist es jedoch nicht erforderlich, dass sich der Täter weiterer Folgen der unmittelbaren körperlichen Einwirkung bewusst ist, er sich zum Beispiel einen entsprechenden Kausalverlauf und bestimmte Verletzungen oder sonstige Folgen vorgestellt bzw. solche für möglich gehalten hat. Der Vorsatz muss sich danach nur auf den Angriff als solchen, also auf die unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Opfers, nicht aber auf die entstandenen Körperschäden gerichtet haben (Urteil des BSG vom 03.02.1999, - B 9 VG 7/97 R -, juris). Hierbei kommt es auch nicht darauf an, ob Schuldfähigkeit vorgelegen hat. Das OEG verlangt nur einen natürlichen Vorsatz, nicht Verantwortlichkeit im strafrechtlichen Sinne. Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff kann auch durch einen Schuldunfähigen begangen werden (Urteil des BSG vom 03 02.1919 a.a.O.). Die leibliche Mutter der Klägerin hat im Termin am 12.02.2015 geschildert, dass sie während der Schwangerschaft mit der Klägerin in nicht unerheblichem Maße Alkohol konsumiert habe (Wein und Schnaps). Ihr sei klar gewesen, dass hierdurch das Kind geschädigt werde. Sie habe auch immer zu sich selbst gesagt, dass sie nicht mehr weitermachen dürfe. Sie habe wegen ihres Alkoholkonsums bereits einen Sohn verloren, der vor der Klägerin geboren worden sei. Auch der Vater der Klägerin hat bestätigt, dass nach seiner Einschätzung der Mutter klar gewesen ist, dass der Alkoholkonsum nicht gut für die Klägerin sei. Es sei auch darüber gesprochen worden. Sie habe gesagt, dass sie weniger trinken wolle, es aber letztendlich nicht geschafft. Der Straftatbestand nach § 218 StGB im Versuch wurde demnach nicht verwirklicht, da nicht ersichtlich ist, dass es der Mutter der Klägerin darum ging, die Schwangerschaft abzubrechen. Es kann in dem vorliegenden Fall aber durchaus argumentiert werden, dass die leibliche Mutter der Klägerin mit bedingtem Vorsatz hinsichtlich der Verletzung der körperlichen Integrität der Klägerin gehandelt hat, da es ihr bewusst war, dass der Alkoholkonsum schädlich für die Klägerin war und sie dies billigend in Kauf genommen hat, um das Ziel der Suchtbefriedigung zu erreichen. Für die Annahme eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs wäre es dann auch unbeachtlich, dass sie wegen einer Alkoholerkrankung nicht schuldfähig gewesen ist.

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Dies kann aber offen bleiben, da es jedenfalls nicht mit dem Sinn und Zweck des OEG zu vereinbaren wäre, diese Fälle in dessen Anwendungsbereich mit einzubeziehen. In der zivilrechtlichen Literatur wird durchaus kontrovers diskutiert, ob ein Kind einen Schadensersatzanspruch gegen die Mutter geltend machen kann, wenn es einen Gesundheitsschaden durch den Alkoholkonsum der Mutter erlitten hat. Teilweise wird hier die Auffassung vertreten, dass die Mutter kein unumschränktes Dispositionsrecht über Leben und Gesundheit des Embryos hat (Wagner in Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2013, § 823 RdNr. 156 mwN). Es sind allerdings Diskrepanzen zwischen einem Anspruch nach dem OEG und dem Zivilrecht durchaus in Kauf zu nehmen. Maßgeblich ist hierbei, abgesehen von den strukturellen Unterschieden zwischen dem zivilrechtlichen Deliktsrecht und dem sozialen Entschädigungsrecht, dass im Anwendungsbereich des OEG die Nichtverhinderung einer Gewalttat, die ursächlich für einen gesundheitlichen Defekt gewesen ist, maßgeblich ist (Urteil des BSG vom 16.04.2002, - B 9 VG 1/01 R -, juris). Das OEG dient nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nur der Entschädigung von Körperschäden nach Gewaltkriminalität. Dabei ist nicht jede körperliche Folge einer strafbaren Handlung in die Entschädigungsverpflichtung einbezogen worden, und das Gesetz dient nicht jeglichem Individualrechtsgüterschutz. Die Begrenzung der Entschädigung auf Opfer von Gewalttaten orientiert sich daran, dass die Opferrolle nach einer Gewalttat eine wesentlich andere ist, als die nach einem beliebigen schweren Unglücksfall. Bei Letzterem mangelt es an einem willentlichen Bruch der Rechtsordnung durch körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person; es fehlt die Enttäuschung der Erwartung der Unverbrüchlichkeit des wesentlichen Kerns der Friedensordnung innerhalb der Gesellschaft. Deswegen ist auch davon abgesehen worden, Unfallschäden in die Entschädigung nach dem OEG einzubeziehen, und zwar selbst dann, wenn bei der Entstehung des Unfalls leichtere strafbarer Handlungen mitgewirkt haben. Dieses ist auch konsequent, wenn bedacht wird, dass die Gewährung von Opferentschädigung mit einem Versagen des staatlichen Gewaltmonopols begründet wird; also mit ein Versagen des Staates, die Bürger vor Gewaltkriminalität zu schützen (Urteil des BSG vom 12.06.2003, - B 9 VG 11/02 B -, juris). Hierin liegt auch der wesentliche Unterschied zwischen den Fällen, dass ein ungeborenes Kind durch eine Gewalttat von einem Dritten oder durch die Mutter selbst geschädigt wird. In dem ersten Fall ist eine Anknüpfung an das OEG durch die strafrechtlich relevante Gewalthandlung eines Dritten gerechtfertigt. In diesem Fall ist ein Versagen des Gewaltmonopols des Staates gegeben, welches Grundlage der Regelungen des OEG ist. Bei der Schädigung eines ungeborenen Kindes durch den Alkohol oder Drogenkonsum der Mutter liegt ein solches Versagen aber gerade nicht vor. Selbst bei Bekanntwerden einer solchen Verhaltensweise hätte der Staat keine Möglichkeit einzugreifen, da dieses Verhalten zwar sicherlich ethisch verwerflich ist, aber durch die Rechtsordnung nicht sanktioniert wird (so auch im Ergebnis Sozialgericht Regensburg, Urteil vom 05.04.2013, - S 13 VB 2/09 -). Die Entscheidung des Gesetzgebers, dieses Verhalten grundsätzlich nicht zu sanktionieren, sondern vielmehr über Aufklärung dem embryonalen Alkoholsyndrom gegenüberzutreten (siehe hierzu Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung vom 15. Januar 2015) kann bei der Prüfung der Ausweitung des Anwendungsbereiches von § 1 Absatz 1 Satz 1 OEG auf diese Fälle nicht unberücksichtigt bleiben.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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Die Sprungrevision war nach § 161 SGG i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da die Rechtssache eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung aufweist. Bislang ist noch nicht höchstrichterlich geklärt, ob ein durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft geschädigtes Kind einen Anspruch in analoger Anwendung von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG hat, wenn die Mutter die Schädigung des Kindes durch den Alkoholkonsum billigend in Kauf genommen hat.


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