Urteil vom Sozialgericht Mainz (14. Kammer) - S 14 KR 536/12
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.282,86 Euro nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 15. Mai 2012 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Klägerin hat 80 Prozent und die Beklagte 20 Prozent der Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 6.305,62 Euro festgesetzt.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über die weitere Vergütung einer stationären Krankenhausbehandlung in Höhe von 6.305,62 Euro nebst Zinsen seit dem 10. Mai 2012.
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Die Klägerin ist Trägerin der U. (nachfolgend: Klinik). Die Beklagte ist die gesetzliche Krankenversicherung des Patienten N.W. (geb. 1947) (nachfolgend: Versicherter W.). Der damals 61-jährige Kläger wurde krankheitsbedingt ambulant mit dem Gerinnungshemmer Clexane behandelt. Der Versicherte wurde vom 1. bis 10. Oktober 2008 stationär in der Klinik behandelt. Die Aufnahme erfolgte wegen einer Schwellung am Oberschenkel notfallmäßig. Aufnahmediagnose war eine Einblutung in den Oberschenkel unter NMH (niedermolekulares Heparin). Ein am 2. Oktober 2012 durchgeführtes MRT zeigte ein deutlich raumforderndes Hämatom rechts und ein kleineres Hämatom links. Am 2. Oktober 2008 wurde das rechte Hämatom operativ ausgeräumt. Aus dem OP-Bericht ist zu entnehmen, dass sich das unter Druck stehende Hämatom nach Eröffnen der Faszie entlastete, ohne weitere Blutung. Es waren vier Elektrozythenkonzentratgaben und wegen einer dialysepflichtigen Niereninsuffizienz mehrere Dialysen notwendig. Der Versicherte wurde am 8. Oktober 2008 nach Hause entlassen.
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Am 31. Dezember 2008 stellte die Klägerin der Beklagten aufgrund der DRG Q02A (Verschiedene OR-Prozeduren bei Krankheiten des Blutes, der blutbildenden Organe und des Immunsystems mit äußerst schweren CC) 8.864,95 Euro in Rechnung. Als Hauptdiagnose hatte die Klägerin ICD-10-GM 2008 D68.3 „Sonstige Koagulopathien: Hämorrhagische Diathese durch Antikoagulanzien und Antikörper“ kodiert. Als Nebendiagnosen hatte die Klägerin ICD-10-GM 2008 D62 „Aplastische und sonstige Anämien: Akute Blutungsanämie – Anämie nach intra- und postoperativer Blutung“, ICD-10-GM 2008 N18.0 „Chronische Niereninsuffizienz: Terminale Niereninsuffizienz“, ICD-10- GM 2008 T81.0 „Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen: Komplikationen bei Eingriffen, anderenorts nicht klassifiziert: Blutung und Hämatom als Komplikation eines Eingriffes, anderenorts nicht klassifiziert“, ICD-10- GM 2008 Z92. „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen: Medizinische Behandlung in der Eigenanamnese: Dauertherapie (gegenwärtig) mit Antikoagulanzien in der Eigenanamnese“ sowie ICD-10- GM 2008 Z95.88 „Vorhandensein von sonstigen kardialen oder vaskulären Implantaten oder Transplantaten: Vorhandensein von sonstigen kardialen oder vaskulären Implantaten oder Transplantaten: Vorhandensein einer Gefäßprothese, anderenorts nicht klassifiziert - Zustand nach peripherer Gefäßplastik o.n.A.“ kodiert. Als Prozedur wurde OPS 2008 5-850.08 „Operationen an Muskeln, Sehnen, Faszien und Schleimbeuteln: Inzision eines Muskels, längs: Oberschenkel und Knie“ angegeben. Die Rechnung wurde zunächst bezahlt.
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Die Beklagte leitete ein Prüfverfahren bei ihrem Medizinischen Dienst BEV (nachfolgend: MDK) zu den Kodierungen der Hauptdiagnose, der Nebendiagnosen und der Prozedur ein. Dieser forderte am 5. Februar 2009 die Patientenakte bei der Klinik an, die er erhielt. Der MDK kam in einem Gutachten vom 4. April 2011 zum Ergebnis, dass zutreffende Hauptdiagnose ICD-10- GM 2008 R58 „Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind: Blutung, anderenorts nicht klassifiziert“ sei. Die bisherige Hauptdiagnose werde zur Nebendiagnose. Die Nebendiagnosen ICD-10- GM 2008 D62 und ICD-10- GM 2008 N18.0 seien korrekt. Der Kode T81.0 sei nicht belegt und entfalle. Die Prozedur OPS 2008 5-850.08 (Operationen an Muskeln, Sehnen, Faszien und Schleimbeuteln: Inzision eines Muskels, längs: Oberschenkel und Knie) sei durch die OPS 2008 5-892.1e (Operationen an Haut und Unterhaut: Andere Inzision an Haut und Unterhaut: Drainage: Oberschenkel und Knie) zu ersetzen. Die Beklagte kam beim Grouping dieser Diagnosen zur DRG F75D auf einem Rechnungsbetrag von 2.491,52 Euro. Die Differenz zum Rechnungsbetrag in Höhe von 6.305,62 Euro entspricht dem streitgegenständlichen Betrag.
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Die Klägerin wandte mit Schreiben vom 3. Mai 2011 gegen das MDK-Gutachten ein, das Hämatom am rechten Oberschenkel sei infolge der Überdosierung von Clexane mit dem Kode D68.3 zutreffend kodiert. Diagnosen aus dem Katalog „R“ würden ausschließlich genutzt, wenn die genaue Diagnose unbekannt sei, da hier nur Symptome beschrieben würden. Dies sei hier nicht der Fall. Die kodierte Prozedur sei ebenfalls korrekt, da eine Inzision der Faszien durchgeführt worden sei. Der vom MDK vorgeschlagene Kode beschreibe keine Faszienspaltung. Der Streichung des Kodes T81.0 stimme man zu.
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Der MDK nahm dazu am 27. Februar 2012 Stellung. Die Kodierempfehlung SEG 4 Nr. 114/274 sehe den Kode R58 für ein Spontanhämatom nach Clexane-Spritzen vor. Der von ihm vorgeschlagene OPS sei zutreffend.
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Die Beklagte teilte am 10. Mai 2012 mit, dass sie 6.305,62 Euro mit einer unstreitigen Forderung aus der Krankenhausbehandlung ihres Versicherten H.B. (nachfolgend: Versicherter B.) verrechne. Hier hat die Klägerin mit Rechnung vom 30. April 2012 eine Forderung in Höhe von 15.429,19 Euro geltend gemacht.
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Am 21. Dezember 2012 erhob die Klägerin Klage. Sie vertieft ihren Vortrag aus dem vorgerichtlichen Verfahren.
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Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
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die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 6.305,62 Euro nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 10. Mai 2012 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf das Ergebnis der MDK-Gutachten.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch ein Sachverständigengutachten des Prof. Dr. S. (U. S.H.). Dieser kommt nach Auswertung der vorliegenden Krankenhausunterlagen zum Ergebnis, das Hämatom gehe auf eine spontane Blutung bei erhöhter Blutungsneigung unter Clexane-Therapie zurück. Der Aufenthalt von sieben Tagen sei erforderlich gewesen, da weitere Hämatome zu beobachten gewesen seien. Daher sei als Hauptdiagnose der Kode D68.3 zu kodieren gewesen. Der Kode R58 bilde die Diagnose nicht korrekt ab. Sie sei allgemeiner als D68.3. Die Kodierempfehlung beziehe sich außerdem allein auf Marcumar. Der R-Kode dürfe nach den Kodierrichtlinien auch deswegen nicht verwendet werden, da mit einem R-Kode allein Symptome unbekannter Ursache zu kodieren seien. Die Nebendiagnosen (ohne T81.0) seien um den Kode Y57.9! zu ergänzen.
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Beide Beteiligten haben nach Fristsetzung keine Einwände gegen das Ergebnis des Gutachtens formuliert. Die Beklagte ging davon aus, dass das Gutachten ergeben habe, als Hauptdiagnose sei der Kode R58 zu kodieren.
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Mit Schriftsätzen vom 2. Februar 2016 und 10. Februar 2016 haben die Beteiligten jeweils ihr Einverständnis zur Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.
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Wegen der übrigen Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, die Krankenhausakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
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Die Klage hatte teilweise Erfolg.
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Die Klage ist als (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig, da wegen des Gleichordnungsverhältnisses der Beteiligten die Verurteilung zu einer Geldleistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht, ohne dass ein Verwaltungsakt zu ergehen hatte (vgl. für Krankenhausvergütungsstreitigkeiten BSG, Urteil vom 23. Juli 2002 – B 3 KR 64/01 R - juris Rn. 13 m.w.N.).
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Die Klage ist im Umfang des Tenors begründet.
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Es ist zunächst zwischen den Beteiligten im Ausgangspunkt unstreitig, dass die Behandlung des Versicherten B. im Krankenhaus der Klägerin medizinisch notwendig war und dafür 15.429,19 Euro zu zahlen waren. Es bedarf insoweit keiner weiteren Feststellung der erkennenden Kammer (vgl. auch BSG, Urteil vom 19. April 2016 – B 1 KR 28/15 R – juris Rn. 8).
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Mit dieser Hauptforderung hat die Beklagte jedoch 6.306.62 Euro aufgerechnet. Diese Aufrechnung ist im Umfang von 5.023,76 Euro wirksam und in Höhe von 1.282,86 Euro unwirksam.
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Gemäß dem nach § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V in dem streitigen Rechtsverhältnis zwischen Klägerin und Beklagter anwendbaren § 389 BGB bewirkt die Aufrechnung, dass die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind. Nach § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. § 387 BGB kann eine Forderung gegen eine andere Forderung aufgerechnet werden, wenn zwei Personen einander Leistungen schulden, die ihrem Gegenstand nach gleichartig sind. Nach § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. § 388 BGB muss die Aufrechnung ausdrücklich und unbedingt erklärt werden.
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Eine Aufrechnungserklärung liegt vor. Die Beklagte hat mit Schreiben vom 30. März 2002 an die Klägerin angekündigt und mit Schreiben vom 10. Mai 2012 erklärt, eine Überzahlung auf die Krankenhausvergütung für die Behandlung des Versicherten W in Höhe von 6.305,62 mit der Forderung der Klägerin aus der Behandlung des Versicherten B zu verrechnen. Beide Forderungen sind als Geldschulden gleichartig und stehen sich gegenüber.
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Die Aufrechnung ist in Höhe von 5.023,77 Euro wirksam. Die Beklagte hat diesen Betrag ohne Rechtsgrund als Krankenhausvergütung für die Behandlung des Versicherten W. im Krankenhaus geleistet. Insoweit steht ihr ein Herausgabeanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung nach § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB zu. Nach § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB ist derjenige zur Herausgabe verpflichtet, der etwas von einem anderen durch Leistung ohne Rechtsgrund erhält. Diese Anspruchsgrundlage ist über die Verweisung des § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V anwendbar. Diesbezüglich bedarf es keines Rückgriffes auf das Rechtsinstitut des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs (ebenso SG Mainz, Urteil vom 04.06.2014 - S 3 KR 645/13 - Rn. 38f; a.A. BSG, Urteil vom 08.11.2011 - B 1 KR 8/11 R - Rn. 9ff.), wobei auch die andere Auffassung in der Sache zu keinem anderen Ergebnis kommt.
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Die Krankenhausvergütung des Versicherten W. beträgt nicht 8.864,95 Euro sondern 3.842,19 Euro.
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Rechtsgrundlage für die Höhe der Krankenhausvergütung für die Behandlung des Versicherten W. ist § 109 Abs. 4 Satz 2, 3 SGB V i.V.m. §§ 7 Abs. 1 Nr. 1, 8 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen (Krankenhausentgeltgesetz - KHEntgG) und § 17b KHG sowie der durch Schiedsspruch am 01.01.2000 in Kraft getretene Vertrag nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V zwischen der Krankenhausgesellschaft Rheinland-Pfalz e.V. und den Landesverbänden der Krankenkassen über die allgemeinem Bedingungen der Krankenhausbehandlung (KBV). Soweit gemäß § 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V zugelassene Krankenhäuser im Rahmen ihres Versorgungsauftrages zur Krankenhausbehandlung der Versicherten verpflichtet sind, setzt Satz 3 der Vorschrift, der die Krankenkassen und die Krankenhausträger zu Pflegesatzverhandlungen nach Maßgabe des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, des Krankenhausentgeltgesetzes und der Bundespflegesatzverordnung verpflichtet, die Vergütungspflicht voraus (BSG, Urteil vom 11. April 2002 - B 3 KR 24/01 R - juris Rn. 22). Ob und inwieweit einem Versicherten vollstationäre Krankenhausbehandlung zu gewähren ist, richtet sich allein nach den medizinischen Erfordernissen und ist vom Gericht im Streitfall grundsätzlich uneingeschränkt zu überprüfen. Die Vergütungspflicht setzt weiterhin voraus, dass aufgrund der Kodierung der Behandlung und der Verweildauer die zutreffende Fallpauschale (DRG) der Rechnung zu Grunde liegt (vgl. BSG, Urteil vom 19. April 2016 – B 1 KR 34/15 R – juris Rn. 11) sowie alle Zusatzentgelte und Zuzahlungen zutreffend angegeben sind. Die Vergütung für Krankenhausbehandlung der Versicherten bemisst sich bei zugelassenen Krankenhäusern nach vertraglichen Fallpauschalen, die nach § 8 Absatz 1 Satz 1 KHEntgG einheitlich zu berechnen sind. Die Ermittlung der zutreffenden Fallpauschale und ihrer Höhe im Einzelfall ergibt sich aus einer multifaktoriellen Berechnung mittels eines zertifizierten Softwareprogramms, das Grouper genannt wird. Der zertifizierte Grouper wendet nach Eingabe der Daten das Abrechnungsrecht in Form einer Berechnung an. Die einzugebenden Daten sind in strikter Anwendung von standardisierten Regelwerken einzugeben. Die relevanten Regelwerke waren im Jahr 2008 für die Verweildauer die Fallpauschalenvereinbarung 2008, für die Haupt- und Nebendiagnose sowie die Prozeduren die Deutschen Kodierrichtlinien Version 2008 und die von der Bundesanstalt Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) festgelegten Verzeichnisse ICD-10-GM Version 2008 (ICD-10) und Operations- und Prozedurenschlüssel (OPS) Version 2008. Es liegt auf der Hand, das ein solches System, das von einer großen Anzahl von Krankenhausbediensteten angewendet wird, auf eine hohe Genauigkeit der Kodierrichtlinien und eine ausgesprochen exakte Anwendungspraxis angewiesen ist. Es entspricht aber auch der Erfahrung, dass in komplexen Systemen, an denen eine Vielzahl mit Intelligenz und Findigkeit ausgestatteten Menschen beteiligt sind, immer wieder bei der Gestaltung des Normtextes unvorhersehbare Gestaltungsmöglichkeiten auftun, die für eine Seite vorteilhafter sind als für die andere Seite. Daher ist die Kodierung und die eventuell vorgenommenen Wertungen durch das Gericht voll überprüfbar. Allein die Verwendung der zertifizierten Grouper mit ihrem jeweiligen Rechenprogramm ist verbindlich vereinbart und entfaltet normative Wirkung (vgl. hierzu und den nachfolgenden Ausführungen grundlegend: BSG, Urteil vom 08. November 2011 – B 1 KR 8/11 R, juris). Die einzugebenden Daten sind als Tatsachen einem gerichtlichen Beweis zugänglich. Die automatisierte Subsumtion ist eine rechtliche Bewertung des Sachverhalts und damit Rechtsfrage. Die erkennende Kammer prüft die zutreffende Kodierung auf vier Stufen (vgl. für Nebendiagnosen: SG Mainz, Urteil vom 08. September 2015 – S 14 KR 548/12 – juris Rn. 25ff). Auf der ersten Stufe hat das Gericht festzustellen, ob ein Kode im ICD-10 alternativlos ist. Dabei ist das Augenmerk zuerst darauf zu richten, welche Krankheiten oder Leiden tatsächlich abzubilden sind und ob diese dem Wortlaut nach die Voraussetzungen des Kodes erfüllen. Ergeben sich im ICD-10 Alternativen, hat das Gericht über die nächsten drei Stufen zu versuchen, eine sachgerechte Auslegung vorzunehmen. Das Gericht hat auf der zweiten Stufe zu prüfen, ob eine Lösung durch striktere Beachtung der Systematik des ICD-10 und der Kodierrichtlinien zu erreichen ist. Hier sind die klassischen juristischen Auslegungsmethoden zur Anwendung zu bringen. Ergibt dies kein Auslegungsergebnis, erfolgt die Prüfung auf der dritten Stufe. Auf der dritten Stufe, ist die Alternative zu wählen, die die kodierte Erkrankung am genausten abbildet, d.h. den höheren Informationswert für den Leser des Kodes erbringt. Das Streben nach Kodiergenauigkeit entnimmt die erkennende Kammer den Deutschen Kodierrichtlinien 2008, insb. D002f (Anmerkung 1), D003 (dritter Absatz und Unterpunkt „Reihenfolge der Nebendiagnosen), D005d. Die hier enthaltenen Regeln steuern den kodierenden Arzt hin zu einer für den Rechnungsempfänger aussagekräftigen Kodierung. Erbringt auch diese Regel kein eindeutiges Ergebnis, gilt nach fester Überzeugung der erkennenden Kammer auf der vierten Stufe der erste Satz der Allgemeinen Kodierrichtlinien für Krankheiten 2008, wonach die Auflistung der Diagnosen bzw. Prozeduren in der alleinigen Verantwortung des behandelnden Arztes liegt (Punkt D001a). Dies ist dann auch vom Gericht und von der Krankenkasse zu akzeptieren, selbst wenn das Ergebnis unbillig erscheinen mag. Die Vertragspartner bzw. das DIMDI haben nämlich für das Folgejahr immer die Möglichkeit, bei Neuerlass des Regelwerks diese Zweifelsfragen im Sinne eines lernenden Systems zu entscheiden (vgl. dazu. BSG, Urteil vom 08. November 2011 – B 1 KR 8/11 R, juris Rn. 27).
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Nachdem die zutreffende Kodierung feststeht, hat das Gericht sodann den sachlichen Entscheidungsprozess nachzuvollziehen, der im Rechnerprogramm abläuft, um zu einer Fallpauschale zu gelangen. Für das Gericht muss überprüfbar gemacht werden, welche Eingabe zu welchem Ergebnis führt. In diesem Sinne muss es in den Entscheidungsgründen verdeutlichen, welche Gabelungen mit welchem Ergebnis der Grouper in dem Entscheidungsbaum "ansteuert", der dem Programm zugrunde liegt (BSG, Urteil vom 08. November 2011 – B 1 KR 8/11 R, juris n. 22). Es kann sich zu diesem Zweck eines zertifizierten Groupers bedienen und solange ein solcher vom Land den Gerichten nicht zur Verfügung gestellt wird, die Beteiligten um Berechnung bitten oder auch den im Internet aufrufbaren Webgrouper der DRG-Research-Group am Universitätsklinikum Münster nutzen.
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Nach diesem Maßstab und Verfahren ergibt sich im hier zu entscheidenden Fall nach Überzeugung der erkennenden Kammer Folgendes:
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Die Behandlung des Versicherten W. war nach Auffassung der erkennenden Kammer stationär im gesamten zeitlichen Umfang notwendig. Die Kammer stützt sich insoweit auf das Gutachten dem MDK vom 4. April 2011, dessen Ergebnis auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist.
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Die erkennende Kammer ist davon überzeugt, dass in den Grouper als Hauptdiagnose die IDC-10-GM 2008 D68.3 einzugeben ist. Hauptdiagnose ist die Diagnose, die nach Analyse als diejenige festgestellt wurde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes des Patienten verantwortlich ist (D002f Kodierrichtlinien 2008).
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Auf der ersten Stufe ist festzustellen, dass der von der Klägerin und dem Sachverständigen präferierte Kode ICD-10-GM 2008 D68.3 „Sonstige Koagulopathien: Hämorrhagische Diathese durch Antikoagulanzien und Antikörper“ in Betracht kommt. Das vom Versicherten W. eingenommene Medikament Clexane gehört als Mittel zur Hemmung der Blutgerinnung zu den Antikoagulanzien. Der Sachverständige hat überzeugend dargestellt, dass das im Oberschenkel aufgetretene Hämatom Ergebnis einer spontanen Blutung bei erhöhter Blutungsneigung (Hämorrhagische Diathese) ist. Diese Blutung und nicht das Symptom Hämatom war die Diagnose, die für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthalts hauptsächlich verantwortlich ist.
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Der von der Beklagten und dem MDK präferierte Kode ICD-10-GM 2008 R58 „Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind: Blutung, anderenorts nicht klassifiziert“ kann keine Anwendung finden, weil die Blutung die Erkrankung und das Hämatom nur Symptom ist. Für die Anwendung des R58 müsste aber die Blutung Symptom sein. Darüber hinaus ist die Blutung in D68.3 präzise klassifiziert, so dass R58 subsidiär ist. Die Beklagte kann mit ihrem Hinweis auf die SEG-4 Kodierempfehlung 114 nicht durchdringen, da diese ohnehin nicht rechtsverbindliche Empfehlung der MDK Sozialmedizinischen Expertengruppe 4 (Vergütung und Abrechnung) auf Marcumar bezogen ist.
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Auch der Kode ICD-10-GM 2008 M62.95 (Muskelkrankheit, nicht näher bezeichnet, Beckenregion und Oberschenkel), den der Sachverständige diskutiert hat, bildet die Blutung nicht ab.
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Der Kode ICD-10-GM 2008 Y57.9! (Komplikationen durch Arzneimittel oder Drogen) kommt in Betracht, ist aber Sekundär-Diagnoseschlüssel, der nicht als Hauptdiagnose verwendet werden kann (vgl. D012 Kodierrichtlinien 2008).
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Die erkennende Kammer ist der Auffassung, dass in den Grouper als Nebendiagnosen die Kodes ICD-10-GM 2008 D62 „Aplastische und sonstige Anämien: Akute Blutungsanämie – Anämie nach intra- und postoperativer Blutung“, N18.0 „Chronische Niereninsuffizienz: Terminale Niereninsuffizienz“, Z92.1 „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen : Medizinische Behandlung in der Eigenanamnese: Dauertherapie (gegenwärtig) mit Antikoagulanzien in der Eigenanamnese“ und Z95.88 „Vorhandensein von sonstigen kardialen oder vaskulären Implantaten oder Transplantaten: Vorhandensein von sonstigen kardialen oder vaskulären Implantaten oder Transplantaten: Vorhandensein einer Gefäßprothese, anderenorts nicht klassifiziert - Zustand nach peripherer Gefäßplastik o.n.A.“ einzugeben sind.
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Für Nebendiagnosen gilt D003d der Kodierrichtlinien Version 2008. Danach ist eine Nebendiagnose eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt und das Patientenmanagement in der Weise beeinflusst, dass therapeutische Maßnahmen, diagnostische Maßnahmen oder ein erhöhter Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand notwendig ist.
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Die genannten Nebendiagnosen sind - wie genannt - zwischen den Beteiligten unstreitig und vom Sachverständigen bestätigt. Eine Alternativität besteht bei den Nebendiagnosen nicht, so dass es keiner Prüfung ab Stufe 2 bedarf.
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Der Kode ICD-10- GM 2008 T81.0 „Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen: Komplikationen bei Eingriffen, anderenorts nicht klassifiziert: Blutung und Hämatom als Komplikation eines Eingriffes, anderenorts nicht klassifiziert“ ist, da unzutreffend, nach dem Gutachten des MDK von den Beteiligten zu Recht übereinstimmend gestrichen worden.
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Ob die vom Sachverständigen nachvollziehbar vorgeschlagene Ergänzung des Kodes ICD-10-GM 2008 Y59.9! „Komplikationen durch Arzneimittel oder Drogen“ zwingend notwendig ist, muss die Kammer nicht entschieden, da dieser Kode sich bei Eingabe in den Grouper als nicht erlösrelevant zeigt.
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Bei den Prozeduren ist in den Grouper neben den unstreitigen OPS 2008 3-205 „Native Computertomographie des Muskel-Skelettsystems“, OPS 2008 8-800.7f „Transfusion von Vollblut, Erythrozytenkonzentrat und Thrombozytenkonzentrat: Erythrozytenkonzentrat: 1 TE bis unter 6 TE“ und zweimal OPS 2008 8-854.2 „Hämodialyse: Intermittierend, Antikoagulation mit Heparin oder ohne Antikoagulation“ nach Überzeugung der Kammer die umstrittene OPS 2008 5-850.08 „Operationen an Muskeln, Sehnen, Faszien und Schleimbeuteln: Inzision eines Muskels, längs: Oberschenkel und Knie“ einzugeben.
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Nach P001f Allgemeine Kodierrichtlinien für Prozeduren, die Teil der Kodierrichtlinien 2008 sind, sind alle signifikanten Prozeduren, die vom Zeitpunkt der Aufnahme bis zum Zeitpunkt der Entlassung vorgenommen wurden und im OPS abbildbar sind, zu kodieren. Dieses schließt diagnostische, therapeutische und pflegerische Prozeduren ein. Die Definition einer signifikanten Prozedur ist, dass sie entweder chirurgischer Natur ist, ein Eingriffsrisiko birgt, ein Anästhesierisiko birgt bzw. Spezialeinrichtungen oder Geräte oder spezielle Ausbildung erfordert.
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Auf der ersten Stufe sind neben den unstreitigen Prozeduren auch die streitigen Prozeduren OPS 2008 5-850.08 „Operationen an Muskeln, Sehnen, Faszien und Schleimbeuteln: Inzision eines Muskels, längs: Oberschenkel und Knie“ sowie OPS 2008 5-892.1e (Operationen an Haut und Unterhaut: Andere Inzision an Haut und Unterhaut: Drainage: Oberschenkel und Knie) dem Wortlaut nach zutreffend. Der beim Versicherten vorgenommene Eingriff beinhaltet sowohl die Inzision der Haut als auch von Faszien.
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Auf der zweiten Stufe erweist sich der OPS 2008 5-850.08 als spezifischer. Der Einschnitt in die Haut ist lediglich Vorbereitungshandlung für die Inzision der Faszie, die im OP-Bericht beschrieben wurde.
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Übernimmt man diese Kodes in den Grouper, wobei das Gericht den im Internet aufrufbaren Webgrouper der DRG-Research-Group am Universitätsklinikum Münster benutzt, ergibt sich bei Eingabe der Kodes, einem Landesbasisfallwert von 2.873,51 Euro und einer Verweildauer von 7 Tagen der Preis für die DRG Q02A in Höhe von 3.238,45 Euro.
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Bei einer Kontrollberechnung mit gleichen Parametern ergänzt um den einvernehmlich gestrichenen Kode T81.0 ergibt sich die von der Klägerin in der Rechnung vom 31. Dezember 2008 geltend gemachte Krankenhausvergütung für die DRG Q02A in Höhe von 8.155,02 Euro.
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Die 3.238,45 Euro sind um die zwei Zusatzentgelte für die Hämodialyse Z8-ZE0101E in Höhe von je 222,12 Euro zu erhöhen. Damit beträgt das Entgelt 3.682,69 Euro.
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Sodann sind die Entgeltzuschläge in der Rechnung zu ergänzen. Dies sind, wie in der Rechnung zutreffend ausgewiesen, als feste Entgeltzuschläge 0,90 Euro Systemzuschlag gemäß § 5 Abs. 3 Vereinbarung nach § 17b Abs. 5 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) zur Umsetzung des DRG-Systemzuschlags, 1,48 Euro Zuschlag Qualitätssicherung gemäß § 17 Vereinbarung zur Qualitätssicherung des Gemeinsamen Bundesausschusses über Maßnahmen der Qualitätssicherung für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser (Übersicht für die Länder im Internet aufgerufen unter https://www.vdek.com/vertragspartner/Krankenhaeuser/Qualitaetssicherung/zuschlaege_qs/_jcr_content/par/download_6/file.res/80zuschlag_drg_200826712.pdf), 0,64 Euro Systemzuschlag Bundesausschuss gemäß Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Höhe des Systemzuschlags vom 22. November 2007, 76,93 Euro gemäß § 6 Vereinbarung über die Errichtung und Verwaltung des Ausgleichsfonds sowie Festlegung des Ausbildungszuschlags für Ausbildungsstätten der in § 2 Nr. 1 a KHG genannten Berufe (Vereinbarung nach § 17 a Absatz 5 KHG). Hinzu kommen als variable Entgeltzuschläge, der 2008 noch bestehende AIP-Zuschlag wegen Mehrkosten aufgrund der Abschaffung des AIP (0,49 Prozent = 18,05 Euro) und der ebenfalls in 2008 noch bestehende Zuschlag zur Verbesserung der Qualität der Arbeitsbedingungen (2,17 Prozent = 79,91 Euro). Abzuziehen ist der GKV-WSG-Abschlag nach Art. 19 Nr. 2 GKV-WSG, d.h. minus 0,5 Prozent der Fallpauschale, also 18,41 Euro. Dies ergeben sich als zutreffende Krankenhausvergütung für die Behandlung des Versicherten W 3.842,19 Euro.
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Die Beklagte hat somit 1.282,86 Euro zuviel aufgerechnet und hat diesen Teil der Krankenhausvergütung für die Behandlung des Versicherten B an die Klägerin nachzuzahlen. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
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Der Zinsanspruch besteht seit dem 15. Mai 2012. Er beruht auf § 9 Abs. 7 KBV. Danach kann das Krankenhaus bei Überschreitung des Zahlungsziels Verzugszinsen i.H.v. 2 Prozent über den Basiszinssatz bzw. dem jeweils geltenden Referenzzinssatz ab Fälligkeitstag (Abs. 6 Satz 1) berechnen, ohne dass es einer Mahnung bedarf (Zinstage jährlich 360, monatlich 30 Tage). Nach § 9 Abs. 6 KBV-RLP hat die Krankenkasse die Rechnung innerhalb von 14 Kalendertagen nach Rechnungseingang zu bezahlen. Nach Satz 2 gilt als Tag der Zahlung der Tag der Übergabe des Überweisungsauftrages an ein Geldinstitut oder der Übersendung von Zahlungsmitteln an das Krankenhaus. Ist der Fälligkeitstag ein Samstag, Sonntag oder gesetzlicher Feiertag, so verschiebt er sich auf den nächstfolgenden Arbeitstag. Beanstandungen rechnerischer oder sachlicher Art können auch nach Bezahlung der Rechnung geltend gemacht und Differenzbeträge verrechnet werden. Maßgebend ist hier die Rechnung aus dem Behandlungsfall zum Versicherten B. vom 30. April 2012. Letzte Zahlungsmöglichkeit ohne Verzug war am 14. Mai 2012. Verzug trat somit am 15. Mai 2012 ein. Auch bei der Zinsforderung war die Klage im Übrigen abzuweisen.
- 52
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung und entspricht dem Ausgang des Verfahrens. Danach hatte die Klägerin zu 20 Prozent Erfolg.
- 53
Der Streitwert bestimmt sich nach § 52 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes (GKG), wonach bei einem Antrag, der eine bezifferte Geldleistung betrifft, deren Höhe maßgebend ist.
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Die Sache ist wegen Erreichen des Berufungsgegenstandes von mindestens 750 Euro berufungsfähig (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG).
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Referenzen
- 1 KR 8/11 4x (nicht zugeordnet)
- SGG § 144 1x
- § 109 Abs. 4 Satz 2, 3 SGB V 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 389 Wirkung der Aufrechnung 1x
- 3 KR 24/01 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 388 Erklärung der Aufrechnung 1x
- 1 KR 34/15 1x (nicht zugeordnet)
- § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V 1x (nicht zugeordnet)
- 1 KR 28/15 1x (nicht zugeordnet)
- § 9 Abs. 7 KBV 1x (nicht zugeordnet)
- KHG § 2 Begriffsbestimmungen 1x
- KHG § 17b Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für DRG-Krankenhäuser 1x
- KHG § 17a Finanzierung von Ausbildungskosten 1x
- § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V 4x (nicht zugeordnet)
- SGG § 54 1x
- 14 KR 548/12 1x (nicht zugeordnet)
- 3 KR 64/01 1x (nicht zugeordnet)
- KHEntgG § 8 Berechnung der Entgelte 1x
- BGB § 387 Voraussetzungen 1x
- § 108 SGB V 1x (nicht zugeordnet)
- 3 KR 645/13 1x (nicht zugeordnet)
- § 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 812 Herausgabeanspruch 2x