Urteil vom Sozialgericht Neubrandenburg (12. Kammer) - S 12 AS 2131/11
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Tatbestand
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Die Klägerin bezieht vom Beklagten Leistungen nach dem SGB II. Mit Schreiben vom 05.08.2010 beantragte sie die Übernahme von Kosten für Arzneimittel in Höhe von insgesamt 107,27 €. Sie reichte diverse Kassenzettel beim Beklagten ein.
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Mit Bescheid vom 21.10.2010 lehnte der Beklagte den Antrag ab (Bl. 797 VA). Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch (Bl. 857 VA). Mit Widerspruchsbescheid vom 17.08.2011 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Im Wesentlichen führt er zur Begründung aus, zu Kosten in Höhe von 21,40 € seien die Medikamente notwendig. Dieser Betrag müsse aus der Regelleistung bestritten werden. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Anlage K1, Bl. 8 – 9 d.A. verwiesen.
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Am 21.09.2011 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie trägt diverse Krankheiten vor, deren Kosten die Krankenkasse nicht vollständig trage. Diese Kosten seien nicht aus dem Regelbedarf zu leisten.
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Das Gericht hat mit Verfügung vom 27.04.2015 darauf hingewiesen, dass der Mehrbedarf nicht Gegenstand einer zulässigen Klage sein kann und der maßgebliche Bewilligungsbescheid zu bezeichnen ist. Der Klägerin wurde eine Frist nach § 92 Abs. 2 SGG gesetzt. Auf Bl. 49 d. A. wird hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen.
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Die Klägerin hat sich geweigert, den Bescheid, in welchem der Mehrbedarf Rechnungsposten wäre, zu benennen oder in den Sachantrag aufzunehmen.
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Sie beantragt:
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Unter Aufhebung des Bescheides vom 21.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.08.2011 (Az.: W 2439/10) wird die Beklagte verpflichtet, der Klägerin eine Regelleistung inklusive eines Mehrbedarfes für den belegten Erwerb der Medikamente Hydrag. Sulf. Paste: 9 €, Antifungol: 8,95 €, Nasenspray: 3,90 €, Citrizin: 7,00 €, NAC 600 Akut: 5,90 €, IBU 400: 8,50 €, Antiadipositum: 45,12 €, Hormone Valette: 18,90 €, insgesamt 107,27 € zu bewilligen.
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Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass die Klage in dieser Form unverändert nicht zulässig sei und auch nach dem erteilten Hinweis nicht abweichend vom Antrag ausgelegt werden könne. Es fehle nach wie vor die Bezeichnung der abzuändernden Bewilligungs- oder Änderungsbescheide. Ein einzelner Bedarf könne nicht isoliert eingeklagt werden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Im Übrigen wird zum Sach- und Streitstand auf die Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unzulässig.
1.
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Klagebegehren ist hier der Mehrbedarf wegen der Kosten der Arzneimittel sowie die Regelleistung nach dem SGB II.
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Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtschutzbegehren zu ermitteln. Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel. Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) anzuwenden. Wesentlich ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück. Neben dem Klageantrag und der Klagebegründung ist auch die Interessenlage des Klägers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und den Beklagten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt. Ist aber der Kläger bei der Fassung des Klageantrages anwaltlich vertreten worden, kommt der Antragsformulierung allerdings gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig (Hervorhebung vom Gericht) erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung abweicht (BVerwG, Beschluss vom 13. Januar 2012 – 9 B 56/11 –, juris). Diese Rechtsprechung lässt sich auf das SGG übertragen. Der Gesetzgeber hat § 92 SGG nach dem Vorbild der VwGO geschaffen.
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Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG). Im Übrigen (Hervorhebung vom Gericht) muss dann, wenn der Wortlaut eines Antrags nicht eindeutig ist, im Wege der Auslegung festgestellt werden, welches das erklärte Prozessziel ist. In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch ist nicht am Wortlaut der Erklärung zu haften; die Auslegung von Anträgen richtet sich vielmehr danach, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass der Kläger alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 49/10 R –, SozR 4-4200 § 21 Nr 10).
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Nach diesem Maßstab ist hier der Sachantrag maßgeblich. Das Gericht hat mehrmals und nachdrücklich aber letztlich erfolglos auf einen sachdienlichen anderen Antrag hingewirkt. Das Gericht ist nun nicht befugt, die Klage zu verbiegen und somit abweichend vom erklärten Ziel „auszulegen“. Eindeutig nicht Gegenstand des klägerischen Begehrens ist die Änderung des oder der maßgeblichen Bewilligungsbescheide. Eine Anfechtung und Abänderung der maßgeblichen Bewilligungs-, Änderungs-, oder vielleicht auch Aufhebungsbescheide wollte die Klägerin nicht.
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Doch selbst wenn man einen Anfechtungswillen unterstellen würde, ist dieser auf ein unbestimmtes Ziel gerichtet, da die Bescheide, in denen der Mehrbedarf ein Rechnungsposten wäre, nicht benannt sind. Die Klägerseite wollte diese nicht benennen und hatte von diesen auch gar keine Vorstellung.
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Hierbei hat es nach den erteilten Hinweisen sein Bewenden. Nach der Änderung von § 92 Abs. 1 SGG genügt es nicht mehr, dass der Kläger lediglich seinem Begehren Ausdruck verleiht, höhere Leistungen zu erhalten. Vielmehr muss er nun bei der regelmäßig statthaften kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage den aufzuhebenden Verwaltungsakt benennen. Dies folgt zunächst aus dem Wortlaut des Gesetzes. § 54 Abs. 4 SGG sieht ausdrücklich vor, dass neben der Aufhebung auch die Leistung begehrt werden kann, aber eben nicht „nur“. Diese Dogmatik findet Bestätigung in der Rechtsprechung des BSG (BSG, Urteil vom 17. Februar 2005 – B 13 RJ 31/04 R –, juris-Rn. 32). Dafür spricht auch, dass die unechte Leistungsklage auch dann unzulässig ist, wenn der Beklagte zwar einen Aufhebungsbescheid erlassen hat, die Klage aber den in ihm geregelten Zeitraum nicht erfasst (Meyer-Ladewig/Keller, § 54 Rn. 39b). Bei einer Anfechtungsklage erfordert aber die Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens iS des Abs 1 S 1, dass dem Vorbringen entnommen werden kann, welche Verwaltungsentscheidung angegriffen werden soll (vgl. Aulehner in Sodan/Ziekow, VwGO, § 82 Rn 56, 14). Die Benennung der angefochtenen Entscheidung ist bei einer Anfechtungsklage grds schon im Rahmen der Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens erforderlich (Aulehner in Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Auflage, § 82 Rn. 22). Ziel der Reform des § 92 SGG war nach der Gesetzesbegründung die Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit – gerade vor dem Hintergrund der Verfahren auf dem Gebiet des SGB II. Die Anforderungen an die Klageschrift wurden erhöht und an die nahezu identische Regelung des § 82 VwGO angeglichen. Unzureichende Klagen sollen durch das Gericht sanktioniert werden können (BT-Drucks. 16/7716, S. 18). Bei ohne triftigen Grund verweigerter Mitwirkung kann eine „Auslegung“ in dem Sinne, dass das Gericht den zulässigen Gegenstand des Klagebegehrens anstelle der Klägerseite bestimmt, also nicht in Betracht kommen.
2.
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Die sich aus Ziff. 1 ergebende Klage ist nicht statthaft. Der Mehrbedarf nach § 21 SGB II ist nicht fähig, isoliert eingeklagt werden zu können. Es handelt sich lediglich um einen Rechnungsposten des Anspruchs auf ALG II. Die Anfechtung des hier angegriffenen Bescheids führt daher nicht weiter, da sich dieser nur zu diesem Rechnungsposten verhält. Zwingend für eine zulässige Klage ist damit die Anfechtung und Abänderung auch des Bescheides, in welchem der Mehrbedarf Auswirkung auf den Leistungsanspruch insgesamt hätte. Ist dieser bestandskräftig, wäre eine kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage, gestützt auf § 48 oder § 45 SGB X statthaft (vgl. BSG, Urteil vom 18. November 2014 – B 4 AS 4/14 R –, BSGE (vorgesehen), SozR 4-4200 § 21 Nr 19). Eine solche wurde hier nicht erhoben. Sofern man die Klage dennoch für statthaft hielte, wäre sie dann aber unbestimmt. Die Klägerin wollte jedenfalls keinen bestimmten Bescheid zum ALG II-Anspruch abgeändert haben.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
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Referenzen
- SGG § 112 1x
- 9 B 56/11 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 54 1x
- 4 AS 4/14 1x (nicht zugeordnet)
- § 21 SGB II 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 92 4x
- BGB § 133 Auslegung einer Willenserklärung 1x
- SGG § 123 1x
- 14 AS 49/10 1x (nicht zugeordnet)
- 13 RJ 31/04 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 193 1x
- § 45 SGB X 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 82 1x
- BGB § 157 Auslegung von Verträgen 1x
- VwGO § 88 1x