Beschluss vom Verwaltungsgericht Aachen - 8 L 1295/19
Tenor
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 6.250,‑- € festgesetzt.
1
G r ü n d e :
2Die von den anwaltlich vertretenen Antragstellern ausdrücklich gestellten Anträge,
31. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die mazedonischen Reisepässe der Antragsteller zu 1. und zu 2. herauszugeben und
42. festzustellen, dass die Antragsgegnerin zum derzeitigen Zeitpunkt nicht berechtigt ist, Abschiebungsmaßnahmen gegen die Antragsteller zu ergreifen,
5haben keinen Erfolg.
6I. Der erste Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
71. Einstweiliger Rechtsschutz gegen die Inverwahrungnahme der mazedonischen Reisepässe der Antragstellerin zu 1. und des Antragstellers zu 2. ist nach § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthaft. § 80 Abs. 5 VwGO findet keine Anwendung, weil es sich bei der Inverwahrungnahme des Passes um einen Realakt und keinen Verwaltungsakt handelt.
8Vgl. nur Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 22. Juni 2018, § 50 AufenthG, zu Abs. 4 - 6, Rn. 8.
9Ob auch der Antragsteller zu 3. geltend machen kann, durch die Verwahrung der Pässe seiner Ehefrau (der Antragstellerin zu 1.) und seines Sohnes (des Antragstellers zu 2.) in eigenen Rechten, hier aus Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 VwGO),
10vgl. zur Klagebefugnis des Ehegatten bei aufenthaltsbeendenden bzw. -versagenden Maßnahmen Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 27. August 1996 - 1 C 8/94 -, juris, Rn. 21; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 11. Januar 2016 - 10 C 15.724 -, juris, Rn. 8 ff (Ausweisung),
11kann hier dahinstehen.
122. Denn der Antrag ist jedenfalls unbegründet.
13Das Gericht kann gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm ein Anspruch auf die begehrte Handlung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Anordnungsgrund), § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung.
14Wird mit der begehrten Regelung die Hauptsache vorweggenommen, steht dem grundsätzlich der lediglich vorläufige Charakter des Verfahrens der einstweiligen Anordnung entgegen. Aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) kann von dem daraus grundsätzlich folgenden Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache eine Ausnahme in Betracht kommen, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gut zu machende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.
15Vgl. nur Oberverwaltungsgericht (OVG) für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 12 B 1422/13 -, juris, Rn. 4.
16Die Antragsteller erstreben mit ihrem Antrag der Sache nach eine solche grundsätzlich unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache. Denn mit der Herausgabe der mazedonischen Reisepässe an sie im Wege der einstweiligen Anordnung würde ihnen bereits das gewährt, was sie mit einer auf Herausgabe gerichteten Leistungsklage erreichen könnten, nämlich den Erhalt der Reisepässe.
17Die gesteigerten Anforderungen an eine Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Anordnungsverfahren sind hier nicht erfüllt.
18a) Die Antragsteller haben bereits nichts dafür geltend, geschweige denn glaubhaft gemacht, dass ihnen ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gut zu machende Nachteile entstünden. Es fehlt insofern an der Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes.
19b) Darüber hinaus ist auch ein Anordnungsanspruch auf Herausgabe der mazedonischen Reisepässe nicht glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin hat diese rechtmäßig nach § 50 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in Verwahrung genommen.
20Gemäß dieser Vorschrift soll der Pass oder Passersatz eines ausreisepflichtigen Ausländers bis zu dessen Ausreise in Verwahrung genommen werden.
21aa) § 50 Abs. 5 AufenthG findet hier - ohne Rückgriff auf § 11 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (im Folgenden: FreizügG/EU) - auf die Antragsteller Anwendung.
22Die Anwendung des Aufenthaltsgesetzes ist nicht nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen, da die Rechtsstellung der Antragsteller nicht vom FreizügG/EU erfasst wird.
23Gemäß § 1 FreizügG/EU regelt dieses die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) und ihrer Familienangehörigen. Ist der Anwendungsbereich des FreizügG/EU eröffnet, verbürgt das FreizügG/EU besondere verfahrensrechtliche Gewährleistungen für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen.
24So sind Ausländer, die dem Anwendungsbereich des FreizügG/EU unterfallen, erst dann ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde eine Feststellung über das Nichtbestehen oder den Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU getroffen hat (vgl. § 7 Abs. 1 AufenthG), mit der Folge, dass diese Personen dann in den Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes fallen (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG), sofern das FreizügG/EU keine besonderen Regelungen trifft (vgl. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU). Das bedeutet, dass nach der Konzeption des FreizügG/EU für Ausländer, die dessen Anwendungsbereich unterfallen, bis zu der Feststellungsentscheidung der Ausländerbehörde eine gesetzliche Vermutung des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts besteht (vgl. auch BT-Drs. 15/420, S. 106). Von der Freizügigkeitsvermutung erfasst werden diejenigen Personen, die in § 1 FreizügG/EU aufgeführt werden, d.h. Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, denn diese Norm bestimmt den Anwendungs- und damit Regelungsbereich des FreizügG/EU.
25Vgl. hierzu: OVG NRW, Beschluss vom 20. November 2015 - 18 B 665/15 -, juris, Rn. 3 ff.
26Die - insoweit darlegungs- und beweispflichtigen - Antragsteller haben jedoch nicht substantiiert dargelegt, geschweige denn - wie im vorliegenden Verfahren erforderlich - glaubhaft gemacht, dass sie griechische Staatsangehörige und damit Unionsbürger i.S.v. § 1 FreizügG/EU sind.
27Die am 00.00.0000 in S., (Nord-)Mazedonien, geborene Antragstellerin zu 1. und der am 00.00.0000 in U., (Nord-)Mazedonien, geborene Antragsteller zu 2. reisten nachweislich erstmals im Jahr 2015 mit dem am 00.00.0000 in T., (Nord-)Mazedonien, geborenen Antragsteller zu 3. in das Bundesgebiet ein. Die Antragsteller betrieben in Deutschland erfolglos ein Asylverfahren. Die Antragstellerin zu 1. und der Antragsteller zu 3. wiesen sich dabei mit mazedonischen Ausweispapieren aus. Bei Stellung des Asylantrags gaben sie an, mazedonische Staatsangehörige zu sein. In seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Antragsteller zu 3. an, in Skopje geboren zu sein und dort sein Leben lang bis zur Ausreise gelebt zu haben. Die Antragstellerin zu 1. berief sich darauf, nach ihrer Hochzeit wegen Drucks der Verwandten ihres Ehemannes ausgereist zu sein. Die standesamtliche Hochzeit fand nach den Angaben des Antragstellers zu 3. im Jahr 2013 in Skopje statt. Das Bundesamt lehnte hiernach die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung subsidiären Schutzes mit Bescheid vom 20. Oktober 2015 als offensichtlich unbegründet ab und drohte den Antragstellern die Abschiebung nach Mazedonien an. Die Antragsteller führten sodann als mazedonische Staatsangehörige ein gerichtliches Eilverfahren, das vor der 10. Kammer des Verwaltungsgerichts Arnsberg erfolglos blieb (dortiges Aktenzeichen: 10 L 1555/15.A). Im Anschluss reisten die Kläger am 10. Februar 2016 freiwillig wieder nach (Nord-)Mazedonien aus.
28Ausweislich des Einreisestempels in ihren mazedonischen Pässen reisten die Antragsteller am 9. Dezember 2017 wieder ins Bundesgebiet ein. Nach Anmeldung in Aachen im März 2018 legten sie im Rahmen einer Vorsprache im Juli 2018 bzw. Februar 2019 erstmals griechische ID-Karten mit den Nummern AK 0, AK 0 und AK 0, ausgestellt im April, Mai bzw. Juli 2015, vor. Im Rahmen eines Aufgriffs der Antragstellerin zu 1. und des Antragstellers zu 2. am Flughafen Köln/Bonn am 9. August 2019 stellte die Bundespolizei bei den vorgelegten griechischen ID-Karten mit den Nummern AK 0 und AK 0 Fälschungsmerkmale fest. In ihrer polizeilichen Vernehmung gab die Antragstellerin zu 1. an, dass sie nicht mehr genau wisse, wann sie die ID-Karten erhalten habe. Auf Nachfrage, welche Behörde die Karten ausgehändigt habe, gab sie an, dass sie das nicht wisse. Auf weitere Nachfrage, wann, wo und wie lange sie in Griechenland gelebt habe, antwortete sie, dass sie das nicht genau wisse. Sie sei nicht die letzten fünf Jahre in Griechenland gewesen. Die Stadt, in der sie in Griechenland gewohnt habe, könne sie ebenfalls nicht benennen. Auch spreche und verstehe sie kein Griechisch. Eine Urkundenfachkraft der Bundespolizei bestätigte nach Prüfung die Fälschungsmerkmale. Auch eine von der Antragsgegnerin veranlasste Überprüfung der Personaldokumente kam zu dem Ergebnis, dass die vorgelegten Personaldokumente gefälscht sind. Die Passabteilung des griechischen Generalkonsulats in Düsseldorf teilte der Antragsgegnerin am 22. Oktober 2019 mit, dass die griechischen Personalausweise mit den Nummern AK 0, AK 0 und AK 0 nicht von der griechischen Polizei ausgestellt worden und somit gefälscht seien. Dafür, dass die vorgenannten amtlichen Feststellungen fehlerhaft sind, ist weder etwas substantiiert vorgetragen worden, noch sonst ersichtlich.
29Trotz ausdrücklicher Aufforderung durch die Antragsgegnerin haben die Antragsteller, abgesehen von den gefälschten ID-Karten, keine Nachweise dafür vorgelegt, dass sie die griechische Staatsangehörigkeit besitzen. Es fehlt auch an jeglicher plausibler Erklärung dazu, wann und wie sie die griechische Staatsangehörigkeit erworben haben sollen. Hätten die Antragsteller die griechische Staatsangehörigkeit schon vor ihrer Ersteinreise 2015 besessen, hätten sie kein Asylverfahren betreiben müssen. In der Zeit ihrer Abwesenheit vom Bundesgebiet (Februar 2016 bis Dezember 2017) haben sie sich nach den Angaben der Antragstellerin zu 1. nicht in Griechenland aufgehalten. Unter diesen Umständen kann nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand nicht festgestellt werden, dass die Antragsteller (auch) die griechische Staatsangehörigkeit besitzen.
30Die Antragsteller sind auch nicht von der Antragsgegnerin als Freizügigkeitsberechtigte behandelt worden. Zwar hat die Antragsgegnerin in einem Aktenvermerk vom 12. August 2019 für die Antragstellerin zu 1. aufgeführt, dass diese nach den dort vorliegenden Unterlagen im Besitz der mazedonischen und der griechischen Staatsangehörigkeit sei. Dies und die im Verwaltungsvorgang auf der Bescheinigung zur Einbehaltung eines Passes/Ausweises vom 17. September 2019 vermerkte Angabe der Staatsangehörigkeit „griechisch“ für die Antragstellerin zu 1. sind jedoch nicht konstitutiv und als offensichtliche Falschbezeichnungen - nach dem Auftauchen der sich später als Fälschungen herausstellenden griechischen Reisepässe - unbeachtlich.
31Auch die von den Antragstellern behauptete - aber nicht glaubhaft gemachte - Einstellung des gegen die Antragstellerin zu 1. eingeleiteten Ermittlungsverfahrens nach § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) rechtfertigt keine andere Beurteilung. Das Ermittlungsverfahren betraf Straftaten nach § 267 des Strafgesetzbuchs und § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Von der - unterstellten - Verfahrenseinstellung geht weder für die Antragsgegnerin noch für das Gericht eine Bindungswirkung aus. Zum einen führt die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts durch die Staatsanwaltschaft (§ 170 Abs. 2 StPO) nicht zu einem Strafklageverbrauch, denn das Ermittlungsverfahren kann bei entsprechendem Anlass wieder aufgenommen werden.
32Vgl. nur Moldenhauer, in: Karlsruher Kommentar StPO, 8. Auflage 2019, § 170 StPO Rn. 23; Gorf, in: BeckOK StPO, 36. Edition, Stand: 1. Januar 2020, § 170 StPO Rn. 20, jeweils m.w.N.
33Zum anderen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass für die Ausländerbehörde - unbeschadet dessen, dass sie in der Regel von der Richtigkeit einer strafgerichtlichen Entscheidung ausgehen darf - keine rechtliche Bindung an tatsächliche Feststellungen und Beurteilungen des Strafrichters besteht; das gilt erst recht mit Blick auf eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft.
34Vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. August 2008 - 1 B 3/08 -, juris, Rn. 5 zu einer Ausweisung.
35Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist an die Einschätzung der Staatsanwaltschaft daher nicht gebunden.
36Vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 18. Juni 2010 - 3 Bs 2/10 -, juris, Rn. 30.
37Vielmehr ist nach den obigen Ausführungen davon auszugehen, dass für die Antragsteller nicht festgestellt werden kann, dass sie (auch) die griechische Staatsangehörigkeit besitzen.
38Ist demnach nicht festzustellen, dass die Antragsteller Unionsbürger sind und damit in den Anwendungsbereich des FreizügG/EU fallen, bedurfte es auch keiner Feststellungsentscheidung über das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nach Maßgabe des FreizügG/EU. Denn die besonderen verfahrensrechtlichen Gewährleistungen des FreizügG/EU, namentlich die Privilegierung der Freizügigkeitsvermutung knüpfen ausschließlich an den Status als Unionsbürger bzw. als Familienangehöriger eines Unionsbürgers an.
39Vgl. hierzu: BVerwG, Urteile vom 11. Januar 2011 - 1 C 23.09 -, juris, Rn. 12 und vom 16. November 2010 ‑ 1 C 17.09 -, juris, Rn. 11; OVG NRW, Beschluss vom 20. November 2015 - 18 B 665/15 -, juris, Rn. 3 ff.
40Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht mit Blick auf die Regelung des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU, die durch das Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21. Januar 2013 (BGBl. I, S. 86) mit Wirkung zum 29. Januar 2013 in das FreizügG/EU aufgenommen worden ist. Gemäß Satz 1 dieser Vorschrift kann das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU auch dann festgestellt werden, wenn feststeht, dass die betreffende Person das Vorliegen einer Voraussetzung für dieses Recht durch die Verwendung von gefälschten oder verfälschten Dokumenten oder durch Vorspiegelung falscher Tatsachen vorgetäuscht hat.
41Zwar spricht der Wortlaut des § 2 Abs. 7 Satz 1 FreizügG/EU auf den ersten Blick dafür, dass unter diese Vorschrift auch der - vorliegende - Fall gefasst werden kann, dass ein drittstaatsangehöriger Ausländer die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates und damit die Eigenschaft als Unionsbürger durch Verwendung von gefälschten oder verfälschten Dokumenten vortäuscht. Denn die Vorschrift verwendet im Gegensatz zu anderen Vorschriften im FreizügG/EU (z.B. § 2 Abs. 2, § 4, § 4a Abs. 1 oder § 7 Abs. 1 FreizügG/EU) nicht den Begriff des "Unionsbürgers", sondern den Begriff die "betreffende Person". Außerdem zählen zu den Voraussetzungen für das Bestehen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, über die der Ausländer täuschen kann, nicht nur die in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 FreizügG/EU genannten besonderen Voraussetzungen (Arbeitnehmer, Arbeitssuchender, selbstständiger Erwerbstätiger u.a.), sondern auch die Eigenschaft als Unionsbürger selbst.
42Gegen ein solches Verständnis der Norm spricht jedoch, dass aufgrund der Stellung der Vorschrift im FreizügG/EU Voraussetzung auch für ihre Anwendbarkeit ist, dass der persönliche Anwendungsbereich dieses Gesetzes nach § 1 FreizügG/EU eröffnet ist, der Ausländer also Unionsbürger oder Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist. Dies ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Denn § 2 Abs. 7 FreizügG/EU dient der Umsetzung von Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie, vgl. auch BT-Drs. 17/10746, S. 9). Diese Bestimmung sieht in Satz 1 vor, dass die Mitgliedstaaten die Maßnahmen erlassen können, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z.B. durch Eingehung von Scheinehen - zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Solche Maßnahmen müssen nach Satz 2 der Bestimmung jedoch verhältnismäßig sein und unterliegen zudem den Verfahrensgarantien nach den Art. 30 und 31 der Richtlinie. Damit sollte den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt werden, die Rechtsvorschriften zu schaffen, die erforderlich sind, um eine missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf das Gemeinschaftsrecht zu unterbinden (vgl. auch den 28. Erwägungsgrund zur Richtlinie 2004/38/EG). Der Unionsgesetzgeber - und im Anschluss daran auch der nationale Gesetzgeber - hat zwar klargestellt, dass eine Täuschung - auch wenn sie für das Bestehen der Freizügigkeit maßgeblich ist - nicht automatisch zum Wegfall der verfahrensrechtlichen Privilegierungen der Unionsbürgerrichtlinie und zur Anwendbarkeit des nationalen Aufenthaltsrechts führen soll. Verbleibt nämlich der Ausländer, der über einen Freizügigkeit vermittelnden Sachverhalt getäuscht hat, bis zur Klärung des Status im Schutzbereich der Richtlinie, folgt daraus, dass das FreizügG/EU bis zur Klärung des Status des Ausländers anwendbar bleibt.
43Vgl. hierzu Verwaltungsgericht (VG) Aachen, Beschluss vom 2. Mai 2017 - 4 L 95/17 -, juris, Rn. 15 ff; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 1 Rn. 58; VG Darmstadt, Urteil vom 3. März 2011 - 5 K 9/10.DA -, juris, Rn. 30 ff., das die Anwendbarkeit des FreizügG/EU in einem Fall bejaht hat, in dem dem vermeintlichen Unionsbürger, der einen gefälschten Pass vorgelegt hat, noch eine Bescheinigung über das Bestehen des Freizügigkeitsrechts nach § 5 FreizügG/EU a.F. ausgestellt worden war.
44Allerdings ist zu berücksichtigen, dass auch die Unionsbürgerrichtlinie ausschließlich die Rechtsstellung der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen regelt (vgl. Art. 1 der Richtlinie). Unter Rechtsmissbrauch und Betrug i.S.v. Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG kann daher nur die missbräuchliche Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts durch den Personenkreis zu verstehen sein, der von dem Regelungsbereich der Richtlinie erfasst ist, d.h. durch Unionsbürger und ihre - ggf. auch nur formalen - Familienangehörigen. Andere - drittstaatsangehörige - Ausländer sind vom Anwendungsbereich der Richtlinie hingegen nicht erfasst. Für die Regelung der Rechtsstellung drittstaatsangehöriger Ausländer, die sich missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen, fehlte dem Gemeinschaftsgesetzgeber im Übrigen auch die erforderliche Gesetzgebungskompetenz (vgl. Art. 21 Abs. 1, Art. 79 AEUV). Vor diesem Hintergrund ist auch § 2 Abs. 7 FreizügG/EU, der diese Richtlinienbestimmung umsetzt, dahingehend zu verstehen, dass hiervon nur Unionsbürger und ihre Familienangehörigen erfasst sind, die über das Vorliegen der Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts täuschen, nicht aber auch sonstige drittstaatsangehörige Ausländer, die den Unionsbürgerstatus vortäuschen.
45Es ist auch nicht anzunehmen, dass der nationale Gesetzgeber diesen Personenkreis über die unionsrechtlichen Vorgaben hinaus in den Anwendungsbereich des FreizügG/EU einbeziehen wollte. Denn dann kämen diese Ausländer allein wegen der Täuschungshandlung in den Genuss der verfahrensrechtlichen Privilegierungen des FreizügG/EU, wofür weder ein entsprechender Wille des nationalen Gesetzgebers noch ein sachlicher Grund erkennbar sind.
46Vgl. ebenso VG Aachen, Beschluss vom 2. Mai 2017 - 4 L 95/17 -, juris, Rn. 19 ff; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 1 AufenthG Rn. 46 ff.
47bb) Auch liegt die einzige tatbestandliche Voraussetzung des § 50 Abs. 5 AufenthG, nämlich die Ausreisepflicht, vor.
48Die Antragsteller sind nach § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, weil sie als (nord-) mazedonische Staatsangehörige für einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet einen Aufenthaltstitel benötigen, den sie nicht besitzen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Insbesondere bedurfte es nach den obigen Ausführungen zur Begründung der Ausreisepflicht vorliegend keiner Feststellung der Antragsgegnerin über das Nichtbestehen oder den Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU.
49Auch kommt einem ggf. am 17. Dezember 2019 von der Antragstellerin zu 1. gestellten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels keine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG zu.
50§ 81 Abs. 3 AufenthG greift nicht ein, da sich die Antragsteller zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten. Zwar waren die Antragsteller als (nord-)mazedonische Staatsangehörige für einen Aufenthalt von je 90 Tagen in einem Zeitraum, der 180 Tage nicht überschreitet, von der Visumpflicht befreit (Art. 4 der Verordnung EG Nr. 539/2001 bzw. heute Artikel 4 der Verordnung EU 2018/1806 i.V.m. Anhang II) und sie besaßen in diesem Zeitraum auch ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet (aus Art. 20 des Schengener Durchführungseinkommens). Das auf 90 Tage befristete Aufenthaltsrecht war im Zeitpunkt der möglichen Antragstellung jedoch schon lange abgelaufen.
51§ 81 Abs. 4 AufenthG greift ebenfalls nicht, da die Vorschrift allein die Fälle betrifft, in denen der Ausländer bereits einen Aufenthaltstitel besitzt oder ggf. besessen hat und nunmehr dessen Verlängerung oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels beantragt. Dies ist hier nicht der Fall. Die Antragsteller besaßen zu keinem Zeitpunkt einen verlängerbaren Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland. (vgl. auch § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG)
52Auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht kommt es für § 50 Abs. 5 AufenthG nicht an.
53Vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 1. Februar 2018 - 13 ME 289/17 -, juris, Rn. 14 m.w.N.
54Diese liegt im Übrigen vor, weil die Antragsteller ohne das erforderliche Visum für einen Daueraufenthalt und damit unerlaubt eingereist sind (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 58 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG).
55Ist die Tatbestandsvoraussetzung - wie hier - erfüllt, „soll“ der Pass gemäß § 50 Abs. 5 AufenthG in Verwahrung genommen werden. Dies bedeutet, dass die Ausländerbehörde für den Regelfall zur Inverwahrungnahme verpflichtet ist; nur in atypischen Ausnahmefällen darf sie davon absehen. Anhaltspunkte für einen solchen Ausnahmefall sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Insbesondere wollen die Antragsteller nach ihren schriftsätzlichen Stellungnahmen ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommen.
56II. Der Antrag zu 2. ist bereits unzulässig.
57Die begehrte Feststellung, dass die Antragsgegnerin zum derzeitigen Zeitpunkt nicht berechtigt ist, Abschiebungsmaßnahmen gegen die Antragsteller zu ergreifen, kann nach § 123 VwGO nicht ergehen.
58Die Antragsteller begehren mit der Feststellung in der Sache sog. vorbeugenden Rechtsschutz. Denn die Antragsgegnerin hat gegenüber den - vollziehbar ausreisepflichtigen - Antragstellern noch keine Abschiebungsandrohung erlassen, gegen die vorläufiger Rechtsschutz vorrangig nach § 80 Abs. 5 VwGO offen steht. Die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtschutzes vor Erlass eines Verwaltungsakts setzt, schon aus Gründen der Gewaltenteilung, grundsätzlich ein besonderes/spezifisches Rechtsschutzbedürfnis voraus. Ein solches ist nur dann anzunehmen, wenn der Betroffene beim Verweis auf nachgehenden Rechtsschutz mit irreversiblen Tatsachen konfrontiert und deshalb nicht wieder gutzumachende erhebliche Nachteile erleiden würde.
59Vgl. Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 7. Auflage 2018, § 123 Rn. 5.
60Hier sind solche weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die Ausstellung von Grenzübertrittsbescheinigungen allein ist nicht ausreichend. Im Übrigen hat die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 22. Oktober 2019 ausdrücklich zum Erlass von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, d.h. dem Erlass einer Abschiebungsandrohung, angehört, da ohne eine solche eine Abschiebung unzulässig ist. Dass das Abwarten des Erlasses der Abschiebungsandrohung für die Antragsteller unzumutbar wäre, weil die Antragsgegnerin die Abschiebung ohne eine solche beabsichtigte, ist nicht substantiiert dargetan.
61Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO.
62Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 des Gerichtskostengesetzes. Da die Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Entscheidung in der - hier gedachten - Hauptsache praktisch vorwegnimmt, war der Streitwert hinsichtlich des Antrags zu 1. auf die Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts anzuheben.
63Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 7/17 -, juris, Rn. 58.
64Die Kammer bemisst darüber hinaus den Wert der auf Feststellung gerichteten einstweiligen Anordnung mit 1.250, -- Euro.
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