Urteil vom Verwaltungsgericht Aachen - 2 K 2521/18.A
Tenor
Soweit die Kläger die Klage zurückgenommen haben, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
T a t b e s t a n d
2Die 26 Jahre alte Klägerin zu 1., ihren Angaben nach nigerianische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe Edo, reiste am 15.07.2017 aus Italien kommend in das Bundesgebiet ein und stellte am 04.12.2017 einen Asylantrag. Sie ist die Mutter des am 21.12.2017 geborenen Klägers zu 2.. Der Kläger zu 2. ist der Sohn des Klägers in dem Verfahren 2 K 2519/18.A.
3In dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und der persönlichen Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags gab die Klägerin unter anderem an, sie habe ihr Heimatland im März 2016 verlassen und sei im Juni 2016 in Italien angekommen. Sie sei nach Italien gegangen, um ein besseres Leben zu haben. Im Heimatland habe sie noch die Großfamilie und zwei Schwestern. Sie habe die Mittelschule besucht. Einen Beruf habe sie nicht ausgeübt.
4Im Zuge ihrer Anhörung am 05.12.2017 gab sie zur Begründung ihres Asylantrages an, sie habe zuletzt gemeinsam mit ihren zwei Schwestern, einem Bruder und Tanten in einer Vierzimmerwohnung in Benin City gelebt. Ihre Mutter sei verstorben, als sie noch klein war. Der Vater arbeite auf einer Farm. Sie habe für jemanden gewaschen und auf die Kinder aufgepasst. Die Reise nach Deutschland habe sie nicht selbst bezahlt. Die Kosten habe ein Mann übernommen, der dann später 30.000 € von ihr forderte. Auf die Frage, was sie im Falle einer Rückkehr nach Nigeria befürchte, gab sie an, sie hätte keine Arbeit und nichts zu tun.
5Am 28.02.2018 wurde die Klägerin erneut vor dem Bundesamt angehört. Ihr wurde erläutert, dass bei Durchsicht ihrer Akte aufgefallen sei, dass einige Fragen unklar geblieben seien. Auf die erneute Nachfrage, wie ihre Lebensumstände in Nigeria gewesen seien, wiederholte die Klägerin, sie habe Nigeria verlassen, weil diese Umstände nicht gut gewesen seien. Weiterhin führte sie aus, jemand habe ihr bei der Ausreise geholfen. Diese Person habe gesagt, dass sie in Italien arbeiten werde. Als sie dort angekommen sei, habe sich prostituieren sollen. Der Mann habe sich B. (im Folgenden: F. ) genannt, sie wisse jedoch nicht, ob dies sein richtiger Name sei. Ein Bekannter habe sie diesem Mann vorgestellt. Der Bekannte habe sie bei der Arbeit gesehen und sie eines Tages angesprochen. Seit sie Nigeria verlassen habe, habe sie keinen Kontakt zu ihm.
6Dazu befragt, wie ihr Leben als Prostituierte in Italien gewesen sei, gab die Klägerin an, sie sei eingesperrt und geschlagen worden; vier Monate lang habe sie sich geweigert, zu arbeiten. Sie sei dann damit einverstanden gewesen, arbeiten zu gehen, aber es sei nicht gut gewesen. Einmal habe sie gesagt, sie gehe zur Arbeit und sei dann geflohen. Sie sei zu einem Freund gegangen; dort sei sie eine Woche geblieben und von dort aus habe sie es nach Deutschland geschafft. Seitdem sie geflohen sei, habe sie F. nicht mehr gesehen.
7Sie habe diesen das erste Mal in Italien getroffen. Er sei nicht viel da gewesen und sie kenne ihn nicht gut. Auf die Frage, ob sie in ihrem Heimatort den Bekannten, der sie vermittelt habe, wieder treffen würde, antwortete sie, sie würde ihn vielleicht treffen. Dies wäre ein Problem, da er möglicherweise noch Kontakt zu F. habe.
8Die Frage, ob ihr vor ihrer Ausreise und auch in Italien sonst noch etwas zugestoßen sei, von dem sie bisher nicht gesprochen habe und ob es noch etwas gebe, dass sie bedrücke, verneinte die Klägerin.
9Laut ärztlichem Bericht der Uniklinik vom 02.01.2018 wurde bei der Klägerin eine pulmonale Tuberkulose diagnostiziert, die ab dem 12.12.2017 mit einer Vierfachtherapie behandelt wurde und austherapiert ist, jedoch der Nachkontrolle bedarf.
10Mit Bescheid vom 14.06.2018 lehnte die Beklagte die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.) sowie die Anträge auf Asylanerkennung (Ziffer 2.) und Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziffer 3.) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4.), und forderte die Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Sollten die Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, würden sie nach Nigeria oder in einen anderen Staat abgeschoben, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
11Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 13.07.2018 Klage erhoben.
12Die Klägerin zu 1. sei das Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Ihr Lebensgefährte habe einige Informationen über F. gesammelt. Er trete als Musiker auf. Sein richtiger Name sei P. P1. . Er könne sich frei zwischen Nigeria und Europa bewegen. Es sei davon auszugehen, dass die Menschenhändlerorganisation um diesen Mann einen besonders hohen Organisationsgrad aufweise. Die Klägerin müsse bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland damit rechnen, sofort wieder durch die Menschenhändler aufgegriffen zu werden. Sie erwarteten massive Misshandlungen bis hin zum Tode. Die Tuberkulose sei zwar austherapiert, bedürfe jedoch regelmäßiger ärztlicher Nachkontrollen.
13Die Klägerin zu 1. hat am 05.12.2017 Strafanzeige gegen den mutmaßlichen Menschenhändler erstattet. Sie wurde im Zuge des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Bonn am 16.10.2018 als Zeugin vernommen. Dort gab sie an, F. habe in Turin gelebt. Sie habe in Nigeria auf Voodoo (Juju) geschworen, dass sie F. das Geld zurückzahlen werde und dass sie niemals der Polizei verraten werde, dass sie nach Italien gebracht wurde. Sie habe also bereits in Nigeria gewusst, dass sie das Geld zurückzahlen müsse, aber keine Vorstellung besessen, wie viel das sei. Sie glaube jetzt nicht mehr an Juju. Vor etwa sechs Monaten habe der König von Benin City in den Nachrichten gesagt, dass sie niemals etwas zurückzahlen müssten, wenn sie es auf Juju geschworen hätten. Sie habe dem Mann ungefähr 6000 € zurückgezahlt. Der Vater ihres Sohnes habe ihr geholfen, zu fliehen. Der Menschenhändler habe in Italien Probleme gehabt und sei zurück nach Nigeria gereist.
14Der Vater des Klägers zu 2., der ebenfalls als Zeuge bei der Polizei aussagte, gab in seiner Vernehmung am 17.10.2018 an, er habe in Italien als Komödiant in Clubs gearbeitet. Einmal sei er in einem Club des Menschenhändlers gewesen. Von der Klägerin zu 1. habe dieser seine Nummer erlangt. Er habe ihn angerufen und ihm gedroht, Männer zu schicken, die ihn zusammenschlagen würden.
15Eines Tages habe die Klägerin zu 1. angerufen und ihm weinend mitgeteilt, dass der Menschenhändler sie aus dem Haus geworfen habe, da sie ihm nicht genug Geld einbringe. Sie habe gesagt, sie sei am Bahnhof; dort habe er sie getroffen und mit zu sich genommen. Er habe jedoch in einem Haus für Immigranten gelebt und Frauen seien dort nicht erlaubt gewesen. Er habe deshalb ein Zimmer in einem nahegelegenen Haus angemietet und habe einige Monate sowohl in dem Camp für Immigranten als auch mit der Klägerin zu 1. gelebt. Nach ein paar Wochen habe der Menschenhändler sich wieder bei der Klägerin zu 1. gemeldet und Geld von ihr gefordert. Auch ihn habe der Mann mehrfach angerufen. Einmal habe auch der Voodoo Priester aus Nigeria angerufen und gesagt, er werde ihn spirituell bestrafen, wenn er die Klägerin zu 1. nicht zu F. zurückbringe. Kurz darauf hätten sie realisiert, dass die Klägerin zu 1. schwanger sei und beschlossen, das Land zu verlassen. Der Club sei im August 2017 durch die Polizei geschlossen worden. F. werde in Italien von der Polizei gesucht. Im Oktober 2017 habe er noch einmal angerufen und gesagt, dass er in Nigeria sei. Er, der Lebensgefährte der Klägerin, habe F. gesagt, dass er ihn bei "human traffic" in Nigeria melden werde, wenn er ihn noch einmal anrufe.
16Die Kläger beantragen zuletzt,
17die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.06.2018 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
18hilfsweise,
19ihm subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen,
20weiter hilfsweise,
21festzustellen, dass in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
22Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
23die Klage abzuweisen.
24Sie nimmt auf die angefochtene Entscheidung des Bundesamtes Bezug.
25Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akte der Staatsanwaltschaft Bonn (664 Js 1829/18) und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes, die der Kammer vorliegenden Erkenntnisse zu dem Herkunftsland Nigeria, auf die die Kläger mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung und in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden sind, Bezug genommen.
26E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
27Soweit die Kläger die Klage hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen haben, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
28Die weitergehende Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 14.06.2018 ist rechtmäßig, § 113 Abs. 5 VwGO.
29Die Kläger haben nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor.
30Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG besteht, wenn sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Voraussetzung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist u. a., dass die in § 3a AsylG geregelten Verfolgungshandlungen wegen der in § 3b AsylG geregelten Verfolgungsgründe von bestimmten Akteuren (vgl. § 3c AsylG) ausgehen.
31Darüber hinaus umfasst der Flüchtlingsschutz – nach Maßgabe des § 28 Abs. 1a AsylG – auch selbst geschaffene Nachfluchtgründe sowie gemäß § 3c Nr. 3 AsylG eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, etwa in Bürgerkriegssituationen, in denen es an staatlichen Strukturen fehlt. Nach § 3c Nr. 1 und 2 AsylG kann die Verfolgung ausgehen von dem Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.
32Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft - wie auch bei der des subsidiären Schutzes - der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Beachtliche Wahrscheinlichkeit ist gegeben, wenn bei einer Bewertung aller Umstände die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb überwiegen. Maßgebend ist, ob bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
33Vgl. BVerwG, Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7/11 –, juris Rn. 17 f.; Urteil vom 05.11.1991 – 9 C 118/90 –, juris Rn. 17.
34Aus den in Art. 4 der den Regelungen des Asylgesetzes zugrunde liegenden Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337/9) (Qualifikationsrichtlinie - QualRL) geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Antragstellers folgt, dass es auch unter Berücksichtigung der Vorgaben dieser Richtlinie Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich ergibt, dass bei verständiger Würdigung flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.
35Vgl. zu Art. 16a GG BVerwG, Beschlüsse vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, juris Rn. 8, und vom 03.08.1990 - 9 B 45.90 -, juris Rn. 7.
36Ausgehend von diesen Grundsätzen ergibt sich aus dem Vortrag der Klägerin zu 1. nicht, dass sie ihr Herkunftsstaat Nigeria aufgrund individueller, flüchtlingsrelevanter Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen hat.
37Es steht auch nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass den Klägern im Falle einer Rückkehr nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht.
38Die Klägerin zu 1. macht geltend, sie sei das Opfer von Menschenhändlern geworden, die sie im Falle ihrer Rückkehr nach Nigeria bedrohen würden.
39Der Handel von nigerianischen Frauen und Kindern zu sexuellen Zwecken ist in Nigeria ein weit verbreitetes Phänomen großen, wenn auch schwer bezifferbaren Ausmaßes. Nach den Erkenntnissen des Gerichts ist die Verbringung junger, teilweise sogar minderjähriger Frauen und Mädchen nach Europa und deren dortige sexueller Ausbeutung als Zwangsprostituierte ein Bereich der organisierten Kriminalität, der sich in Nigeria ethnisch und geographisch insbesondere auf die in Edo State gelegene Stadt Benin City, wo die Klägerin zuletzt gelebt hat, und deren Umland eingrenzen lässt. Im Rahmen der Anwerbung werden die Opfer über die tatsächliche Betätigung sowie die nahezu vollständige Einbehaltung ihrer Einnahmen getäuscht. Ihnen wird die Vermittlung von regulären Arbeitsmöglichkeiten vorgespiegelt. Dementsprechend gehen die Opfer davon aus, in Europa ihre Lebensbedingungen verbessern zu können. Voodoo-Praktiken (bzw. Juju-Magie) kommt im Rahmen der Versklavung eine besondere Relevanz zu. In Nigeria ist der Glaube an Voodoo weit verbreitet. Diese traditionellen Vorstellungen werden von Menschenhandelsnetzwerken zum Zwecke der Einschüchterung der Opfer sowie zu deren Manipulation eingesetzt. Anhand der Voodoo-Praktiken (bzw. der Juju-Magie) wird ein enormer psychischer Druck auf das jeweilige Opfer ausgeübt. Die Menschenhändler kooperieren mit Juju-Priestern, um eine Bindung der Opfer sowie die Ablegung eines Schweigegelübdes zu erreichen. Regelmäßig wird mit dem Opfer einen „Auswanderungsvertrag“ abgeschlossen. Der Schleuser erklärt sich zur Übernahme der Reisekosten sowie zur Organisation der Reise nach Europa bereit, während das Opfer verspricht, das Geld zurückzuzahlen, den Menschenhändlern bedingungslos untergeben zu sein und sie nicht bei der Polizei anzuzeigen. Dem Opfer wird im Rahmen des Auswanderungsvertrags ein die Kosten der Reise erheblich übersteigender Geldbetrag abverlangt.
40Vgl. umfassend Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Informationszentrum Asyl und Migration – Nigeria – Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung von Frauen und Kindern aus Nigeria, Dezember 2011; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria vom 4. April 2014, Ziff. 3; Nigeria – Frauen, Kinder, sexuelle Orientierung, Gesundheitsversorgung, 21.6.2011, S. 11 f.; EASO, Nigeria: Sexhandel mit Frauen, Oktober 2015; VG Würzburg, Urteil vom 17. November 2015 – W 2 K 14.30213 –, juris Rn 22.
41Das Vorbringen der Klägerin als wahr unterstellt,
42vgl. BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 – 9 C 47/85 –, juris Rn. 16 ff.,
43begründet keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
44Das Gericht hält es nach dem Vortrag der Klägerin bereits nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass ihr in ihrem Heimatland Verfolgungshandlungen (§ 3a Abs. 1 AsylG) in Form von körperlicher Gewalt durch P. P1. alias F. und dessen Netzwerk drohen. Die Klägerin hat 6000 Euro an den Zuhälter zurückgezahlt, was die Miete für die Unterkunft und die Überfahrt nach Europa überstiegen haben dürfte; es sind zudem drei Jahre vergangen, seit sie Italien verließ. Vor diesem Hintergrund spricht bereits viel dafür, dass der Zuhälter mittlerweile das Interesse an der Klägerin verloren hat. Es erscheint auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Menschenhändler erneut versuchen würde, sie zur Prostitution zu zwingen. Denn er hat außer durch Telefonanrufe und Drohungen zu keiner Zeit aktiv versucht, sie zurückzuholen. Nachdem sie einmal aus dem Haus des Menschenhändlers und dessen Freundin geworfen wurde, ist sie von selbst dorthin zurückgegangen. Ferner hat der Vater des Klägers zu 2. den Menschenhändler bislang erfolgreich abwehren können, so dass nicht ersichtlich ist, warum dies in Zukunft nicht mehr gelingen sollte.
45Dies kann jedoch dahinstehen. Denn jedenfalls könnten die Kläger in Nigeria staatlichen Schutz vor Verfolgung erlangen, § 3d Abs. 1 und 2 AsylG. Nach § 3c Nr. 3 AsylG kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens ist, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nach § 3d Abs. 1 AsylG ist der Schutz gegen nichtstaatliche Akteure gewährleistet, wenn der Staat willens und in der Lage ist, wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz gemäß § 3d Abs. 2 AsylG zu bieten. Nach § 3d Abs. 2 AsylG ist ein solcher wirksamer und nicht nur vorübergehender Schutz generell gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung und Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.
46Der nigerianische Staat hat solche Rechtsvorschriften erlassen: Menschenhandel ist in Nigeria durch den Trafficking In Persons (Prohibition) Law Enforcement and Administration Act (2015) gesetzlich verboten. Die Bekämpfung des Menschenhandels, die Verfolgung der Täter im Bereich Menschenhandel und Schutzmaßnahmen für Opfer durch temporäre Unterkunft, Beratung, Rehabilitierung, Reintegration und Zugang zur Justiz sind Aufgabe der 2003 gegründeten Bundesbehörde NAPTIP (National Agency for the Prohibition of Trafficking in Person).
47Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Nigeria, Gesamtaktualisierung am 12.04.2019, S. 38 f..
482018 wurde zudem in Edo State ein eigenes Gesetz zur Bekämpfung von Menschenhandel (Edo State Trafficking in Persons Prohibition Bill) verabschiedet.
49Pathfinders, Justice Initiative: Edo State Human Trafficking Bill Signed Into Law by Governor Obaseki, erhältlich im Internet unterhttps://pathfindersji.org/edo-state-passes-new-law-against-human-trafficking/#:~:text=On%20May%2023%2C%202018%2C%20the%20Governor%20of%20Edo,and%20punishment%20of%20human%20trafficking%20and%20related%20.
50Auf Grundlage dieses Gesetzes bekämpft die staatliche Edo State Task Force Against Human Traficking (ETAHT) unter anderem in Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration, der Republik Italien und der Europäischen Union den Menschenhandel. 14 Gerichtsprozesse und 33 Ermittlungsverfahren waren bereits im zweiten Jahr der Tätigkeit der Organisation anhängig.
51Vgl. Edo State Taskforce Against Human Traficking (ETAHT), Annual Report August 2018-August 2019, Chapter 4, S. 45f., abrufbar im Internet unterhttps://www.etaht.org/uploads/resources/TASKFORCE.pdf,
52Ferner hat, worauf auch die Klägerin selbst hingewiesen hat, Oba Ewuare, König von Benin (Bundesstaat Edo), am 09.03.2018 alle Opfern des Menschenhandels auferlegten Flüche für nichtig erklärt, und im Gegenzug jene, welche die Flüche ausgesprochen haben, ihrerseits mit einem Fluch belegt.
53Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Nigeria, Gesamtaktualisierung am 12.04.2019, S. 39; Vanguard, “Our gods will destroy you”; Oba of Benin curse human traffickers, 10.03.2018, erhältlich im Internet unterhttps://www.vanguardngr.com/2018/03/gods-will-destroy-oba-benin-curse-human-traffickers/https://www.vanguardngr.com/2018/03/gods-will-destroy-oba-benin-curse-human-traffickers/.
54Teilweise verlassen deshalb Menschenhändler den traditionellen Hotspot des Menschenhandels Edo State und entfalten ihre Aktivitäten in anderen Bundesstaaten.
55Vgl. Reuters, Nigerian sex traffickers fleeing hotspot for new havens, activists warn, By Nellie Peyton, erhältlich im Internet unter:
56https://www.reuters.com/article/us-nigeria-trafficking-aid/nigerian-sex-traffickers-fleeing-hotspot-for-new-havens-activists-warn-idUSKCN1TY2EN;BAMF, Länderreport 27 Nigeria, Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung, Stand 06/2020, S. 4.
57Frauen und Männer haben gleichermaßen Zugang zu diesem staatlichen Schutz.
58Die Wirksamkeit des Schutzes vor Verfolgung wird nicht dadurch infrage gestellt, dass nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht alle Täter einer Strafverfolgung zugeführt werden und das Dunkelfeld groß ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass Frauen in Nigeria trotz formaler Gleichberechtigung nach wie vor nicht nur in vielen Rechts- und Lebensbereichen diskriminiert werden, sondern auch Fälle bekannt sind, in denen sie Opfer von Übergriffen, etwa Vergewaltigungen durch Polizei und Sicherheitskräfte werden, wenn sie dort eigentlich Schutz suchen.
59So u. a. VG Würzburg, Urteil vom 17.11.2015 – W 2 K 14.30213 –, juris Rn. 31 m. w. N.
60Denn ein wirksamer Schutz ist nach § 3d Abs. 2 AsylG bereits dann anzunehmen, wenn bei entsprechender Schutzbereitschaft geeignete Schritte im Sinne von Abs. 2 S. 2 der Vorschrift eingeleitet werden. Eine grundsätzliche Schutzbereitschaft des Staates bei Übergriffen Privater besteht, wenn Polizei und Sicherheitsbehörden zur Schutzgewährung ohne Ansehung der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten sind, vorkommende Fälle von Schutzversagung mithin ein von der Regierung nicht gewolltes Fehlverhalten der Handelnden sind.
61Vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 – 9 C 1/94 –, juris.
62Dafür, dass Fälle eklatanten Schutzversagens und Willkür gegenüber den Frauen, die - insbesondere bei der ETAHT - vor Menschenhändlern Schutz suchen, durch den nigerianischen Staat toleriert werden, die Schutzmaßnahmen also im Wesentlichen auf dem Papier existieren, sieht die Einzelrichterin keine Anhaltspunkte.
63Vor diesem Hintergrund können die Kläger nicht behaupten, Verfolgung zu befürchten. Auf die Frage, ob die hier in Rede stehende Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 3 AsylG überhaupt an einen Verfolgungsgrund im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 AsylG anknüpft, kam es demnach nicht mehr an.
64Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 AsylG.
65Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die § 3c bis 3e AsylG entsprechend.
66Hinweise für drohende Folter (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 AsylG) oder ernsthaften Schaden wegen einer unmenschlichen oder erniedrigen Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 AsylG) gibt es vorliegend nicht.
67Ebenso kommt hier die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus auf Grundlage eines gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Var. 2 AsylG relevanten ernsthaften Schadens in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch kriminelle Private als nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG nach dem oben Gesagten nicht in Betracht.
68Eine konkrete Gefahr, dass die Kläger in ihrem Heimatstaat Edo State gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt werden, ist ebenfalls nicht erkennbar.
69Die Klägerin hat zudem keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Ferner besteht für sie in Nigeria keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit in direkter Anwendung des § 60 Abs. 7 S.1 1 AufenthG. Ebenso wenig kann sie Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 S. 1 und 6 AufenthG wegen einer extremen Gefahrenlage beanspruchen.
70Im Rahmen der Prüfung, ob der Abschiebung eines erfolglosen Asylbewerbers Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegenstehen, ist der Gefahrenprognose eine möglichst realitätsnahe, wenngleich notwendig hypothetische Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Insoweit gelten im Rahmen der Gefahrenprognose des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG die Grundsätze, die das Bundesverwaltungsgericht zur asylrechtlichen Verfolgungsprognose entwickelt hat entsprechend. Dabei ist bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in den Heimatstaat drohen, regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr mit den Familienangehörigen auszugehen, falls er auch in der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen als Familie zusammenlebt.
71BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45.18 – BeckRS 2019, 18363, Rn. 14 ff.
72Da sie in Deutschland nicht mit dem Vater des Klägers zu 2. als Familie zusammenleben, ist davon auszugehen, dass die Kläger allein nach Nigeria zurückkehren.
73Anhaltspunkte für das Vorliegen eines - nationalen - Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, wonach eine Abschiebung dann verboten ist, wenn dem Ausländer in dem Zielstaat der Abschiebung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung - landesweit droht, sind nicht erkennbar. Vielmehr scheidet bereits bei Verneinung der Voraussetzungen der §§ 60 Abs. 2 AufenthG, 4 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus.
74Vgl. BVerwG, Urteile vom 31.01.2013 - 10 C 15/12 -, juris Rn. 36 und vom 13.06.2013 - 10 C 13/12 -, juris Rn. 25.
75Etwas anderes kann hier auch nicht mit Blick darauf angenommen werden, dass nach der Rechtsprechung des EGMR in ganz außergewöhnlichen Fällen auch die Aufenthaltsbeendigung in einen Staat mit schlechten humanitären Verhältnissen bzw. Bedingungen, die keinem Akteur i.S.d. § 3c AsylG zugeordnet werden können, eine Verletzung des Art. 3 EMRK begründen kann.
76Vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 31.01.2013 - 10 C 15/12 - juris, Rn. 23 ff., und vom 13.06.2013 - 10 C 13/12 -, juris, Rn. 25, jeweils mit Nachweisen zur Rspr. d. EGMR.
77Anhaltspunkte für einen derartigen besonderen Ausnahmefall lassen sich dem Vorbringen der Kläger zu Nigeria nicht entnehmen.
78Auch aus § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG in direkter Anwendung folgt kein Verbot, die Kläger nach Nigeria abzuschieben.
79Nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
80Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG. Eine solche gesundheitliche Gefahr ergibt sich nicht aus der Tuberkuloseerkrankung der Klägerin zu 1.. Die Behandlung einer Tuberkulose gehört in Nigeria zur medizinischen Routine. Auch ist die Behandlung von Tuberkulose in ganz Nigeria in speziellen Tuberkulosezentren kostenfrei möglich. Die Kosten einer Behandlung werden insoweit vom Staat übernommen.
81Vgl. nur VG Augsburg, Urteil vom 18.02.2020 – Au 9 K 19.30586 –, juris Rn. 39 m. w. N..
82Eine Gefährdungssituation im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich auch nicht aus den schwierigen Lebensbedingungen in Nigeria.
83Das Gericht berücksichtigt dabei, dass nach den vorliegenden Erkenntnissen mehr als 40 % der Bevölkerung in Armut lebt, also weniger als 1,90 US-Dollar am Tag zur Verfügung hat. Der große Teil der Bevölkerung lebt im Wesentlichen als Bauer, Landarbeiter oder Tagelöhner vom informellen Handel sowie (Subsistenz-) Landwirtschaft und die Arbeitslosigkeit, ist vor allem in der jungen Bevölkerung mit mehr als 20 %, sehr verbreitet.
84Zur wirtschaftlichen Situation: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Nigeria, Gesamtaktualisierung am 12.04.2019, S. 48 f. m. w. N.; SFH, Nigeria Update vom März 2010, S. 21, 22 m.w.Nw.; Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) (zuvor Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ)) unter www.giz.de bzw. www.gtz.de jeweils weltweit-afrika-nigeria ; Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unter www.bmz.de – länder-regionen-subsahahra-nigeria.
85Bei den mit der schwierigen, durch die Corona-Pandemie noch verschärften - ökonomischen Situation verbundenen Gefahren handelt es sich jedoch um sog. allgemeine Gefahren, da diese mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einem Großteil der Bevölkerung in Nigeria drohen, mit der Folge, dass grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG eingreift. Gemäß § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein und in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird. Der Gesetzgeber beabsichtigte mit der Ausklammerung allgemeiner Gefahren gemäß § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung oder einer im Abschiebezielstaat lebenden Bevölkerungsgruppe gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und durch eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung der obersten Landesbehörde, gegebenenfalls im Einvernehmen mit dem für Inneres zuständigen Bundesministerium, befunden wird. Diese Entscheidung des Bundesgesetzgebers haben die Verwaltungsgerichte aus Gründen der Gewaltenteilung zu respektieren. Sie dürfen daher im Einzelfall Ausländern, für die – wie hier – kein Abschiebestopp besteht, nur dann ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 S. 1 und 6 AufenthG zusprechen, wenn dies zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke erforderlich ist.
86BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, juris Rn. 13; OVG NRW, Urteil vom 24.03.2020 – 19 A 4470/19.A –, juris Rn. 38.
87Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Die Kläger können daher auch keinen nationalen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 S. 1 und 6 AufenthG beanspruchen:
88Eine verfassungswidrige Schutzlücke liegt nur dann vor, wenn der Schutzsuchende bei einer Rückkehr in das Aufnahmeland mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem Ausländer Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu gewähren.
89Vgl. BVerwG, Urteile vom 29.09.2011 - 10 C 24.10 -, juris, Rn. 20; OVG NRW, Urteil vom 24.03.2020 – 19 A 4470/19.A –, juris Rn. 48.
90Die Klägerin zu 1. ist jung, gesund und erwerbsfähig. Sie hat den Beruf der Schneiderin gelernt. Sie hat im Heimatland noch die Großfamilie. Außerdem ist nichts dafür erkennbar, dass es ihr im Falle der Rückkehr nach Nigeria nicht möglich ist, sich an bestehende Hilfsorganisationen zu wenden und durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ein das Existenzminimum sicherndes Einkommen für sich und den Kläger zu 2. zu erzielen. Insbesondere ist darauf zu verweisen, dass die ETAHT und die NAPTIP Opfern von Menschenhandel Unterstützung bei der Reintegration leisten.
91Vgl. Edo State Taskforce Against Human Traficking (ETAHT), Annual Report August 2018-August 2019, Chapter 2, S. 12f., abrufbar im Internet unterhttps://www.etaht.org/uploads/resources/TASKFORCE.pdf; vgl. zu bestehenden Hilfsorganisationen insbesondere auch UK Border Agency/Danish Immigration Service, Report of Joint British-Danish Fact-Finding Mission to Lagos and Abuja, Nigeria sowie VG Cottbus, Beschluss vom 29.05.2020 – 9 L 226/20.A –, juris Rn. 13.
92Daneben kann die Klägerin zu 1. auch auf Rückkehr- und Starthilfen zurückgreifen, etwa das REAG-/GARP-Programm, auf das sie bereits von dem Bundesamt hingewiesen wurde. So hat sie die Option, ihre finanzielle Situation in Nigeria aus eigener Kraft zu verbessern, um Startschwierigkeiten bei einer Rückkehr besser zu überbrücken. Gegen diese Möglichkeiten kann nicht mit Erfolg eingewandt werden, dass Start- bzw. und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für eine freiwillige Rückkehr, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung, erfolgen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbotes verlangen.
93Vgl. BVerwG, Urteil vom 15.04.1997 – 9 C 38.96 – juris Rn 27; VGH BW, Urteil vom 26.02.2014 – A 11 S 2519/12 – juris.
94Etwas anderes ergibt sich nicht mit Blick auf Covid-19-Pandemie. Auch insoweit liegt mangels einer Abschiebestopp-Anordnung allenfalls eine allgemeine Gefahr vor, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. Ein Abschiebungsverbot zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke, d.h. zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage für die Klägerin zu 1. aufgrund ihrer pulmonalen Vorerkrankung kommt ebenfalls nicht in Betracht. Abschiebungsschutz könnte die Klägerin nach dem oben Gesagten nur beanspruchen, wenn sie bei ihrer Rückkehr einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass sie im Falle ihrer Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde. Die hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts der allgemeinen Gefahr für den jeweiligen Ausländer markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Die Abschiebung muss dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde.
95vgl. BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 – 1 C 5/01 –, BVerwGE 115, 1-10, juris Rn. 16 ff. m. w. N..
96Unabhängig von der Frage, ob sich die Kläger bei Einhaltung der Hygienemaßnahmen überhaupt mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Virus infizieren, sieht das Gericht keine konkreten Anhaltspunkte für eine extreme Gefahr für einen schweren Verlauf einer möglichen Erkrankung bei der Klägerin zu 1.. Die meisten Menschen, die sich mit dem Virus infizieren, erkranken nicht schwer; seit der 30. Kalenderwoche liegt beispielsweise in Deutschland der Anteil der Anteil derer, die keine Symptome zeigen, zwischen 35 % und 15%, der Anteil der hospitalisierten Personen unter 10 %, der Anteil der Verstorbenen unter 1 %, wobei 85 % der Verstorbenen 70 Jahre und älter waren. Komorbiditäten und Alter sind in diesem Zusammenhang entscheidende Einflussfaktoren.
97Vgl. Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Stand 27.10.2020, S. 8 f;London School of Hygiene and Tropical Medicine, Estimates suggest one in five people worldwide have an underlying health condition that could increase their risk of severe COVID-19 if infected, 16.06.2020, erhältlich im Internet unter https://www.lshtm.ac.uk/newsevents/news/2020/estimates-suggest-one-five-people-worldwide-have-underlying-health-condition.
98Es liegen zudem keine Erkenntnisse dafür vor, dass nach einer - wie bei der Klägerin - erfolgreich behandelten Tuberkulose ohne resultierende Folgeschäden die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, eine SARS-CoV-2-Infektion zu bekommen oder einen schweren Verlauf zu entwickeln.
99Vgl. Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose: DZK Stellungnahme zu Tuberkulose und COVID-19, erhältlich im Internet unter https://www.dzk-tuberkulose.de/wp-content/uploads/2020/06/DZK-Stellungnahme-TBC-COVID19-f%C3%BCr-Webseite.pdf.
100Nach allem erweist sich auch die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34, 36 Abs. 1 AsylG, § 59 AufenthG als rechtmäßig.
101Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG). Die Entscheidung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 19 A 4470/19 2x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 1 C 5/01 1x (nicht zugeordnet)
- § 59 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 92 1x
- § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG 3x (nicht zugeordnet)
- §§ 60 Abs. 2 AufenthG, 4 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- 10 C 13/12 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- VwGO § 167 1x
- § 3d Abs. 1 und 2 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 3a Abs. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 5 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 3c Nr. 1 und 2 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 9 C 47/85 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung 1x
- §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Var. 2 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG 3x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 7 S.1 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 3a Abs. 3 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 83b AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 3 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 4 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 7 S. 1 und 6 AufenthG 3x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 34, 36 Abs. 1 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 711 Abwendungsbefugnis 1x
- 9 C 1/94 1x (nicht zugeordnet)
- § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 3c Nr. 3 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- 9 C 118/90 1x (nicht zugeordnet)
- § 3c bis 3e AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 10 C 7/11 1x (nicht zugeordnet)
- 664 Js 1829/18 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 11 S 2519/12 1x (nicht zugeordnet)
- 2 K 2519/18 1x (nicht zugeordnet)
- 9 L 226/20 1x (nicht zugeordnet)
- § 3b AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 3d Abs. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 3 Abs. 1 AsylG 3x (nicht zugeordnet)
- § 3c AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- § 3d Abs. 2 AsylG 3x (nicht zugeordnet)
- § 3a AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 10 C 15/12 2x (nicht zugeordnet)