Beschluss vom Verwaltungsgericht Aachen - 3 L 806/20
Tenor
1.Die aufschiebende Wirkung der Klage gleichen Rubrums - 3 K 2640/20 - gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 27. Oktober 2020 wird hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis wiederhergestellt bzw. hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
2.Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
3.Der vorstehende Beschlusstenor soll den Beteiligten fernmündlich vorab mitgeteilt werden.
1
G r ü n d e
2I.
3Die Beteiligten streiten um die sofortige Vollziehung einer Ordnungsverfügung über die Entziehung einer Fahrerlaubnis.
4Am 15. August 2002 wurde dem Antragsteller erstmals eine Fahrerlaubnis auf Probe (Klasse B) erteilt. In der Folge ordnete der Antragsgegner ein Aufbauseminar an, das der Antragsteller ableistete. Wegen einer Fahrt unter Betäubungsmitteleinfluss wurde dem Antragsteller mit Ordnungsverfügung vom 16. Dezember 2003 die Fahrerlaubnis vor Ablauf der Probezeit entzogen.
5Am 30. Januar 2019 beantragte der Antragsteller die Neuerteilung der Fahrerlaubnis der Klasse B. Die von ihm geforderte theoretische und praktische Fahrerlaubnisprüfung legte er erfolgreich ab. Am 2. Oktober 2019 erteilte der Antragsgegner ihm die Fahrerlaubnis der Klasse B und wies darauf hin, dass eine Restprobezeit bis 29. Mai 2022 laufe.
6Am 27. April 2020 benutzte der Antragsteller als Führer eines Kraftfahrzeuges in vorschriftswidriger Weise eine elektronisches Gerät zur Kommunikation (Handyverstoß).
7Daraufhin forderte das Straßenverkehrsamt des Antragsgegners den Antragsteller mit Schreiben vom 31. Juli 2020, zugestellt am 4. August 2020, dazu auf, bis zum 30. September 2020 ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung vorzulegen. Zur Begründung führte er aus: Es müsse geklärt werden, ob zu erwarten sei, dass der Antragsteller auch zukünftig erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoße. Die Gutachtenanordnung beruhe auf § 2a Abs. 5 Satz 5 des Straßenverkehrsgesetzes. Der Antragsteller befinde sich nach Entzug und Neuerteilung der Fahrerlaubnis in einer neuen Probezeit und habe mit dem Handyverstoß eine schwerwiegende Zuwiderhandlung im Sinne der Vorschrift begangen. Besondere Umstände, die es gerechtfertigt erscheinen ließen, von der Anordnung der Vorlage eines Gutachtens abzusehen, lägen nicht vor.
8Das geforderte medizinisch-psychologisches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung legte der Antragsteller nicht vor.
9Mit Ordnungsverfügung vom 27. Oktober 2020 entzog der Antragsgegner deswegen unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Fahrerlaubnis der Klasse B und forderte den Antragsteller unter Androhung eines Zwangsgelds von 250 Euro auf, den ausgehändigten Führerschein innerhalb einer Woche zu übersenden.
10Am 29. Oktober 2020 hat der Kläger im Verfahren ‑ 3 K 2640/20 ‑ Klage erhoben und am selben Tag um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
11Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
12die aufschiebende Wirkung seiner Klage gleichen Rubrums ‑ 3 K 2640/20 ‑ gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 27. Oktober 2020 über die Entziehung der Fahrerlaubnis wiederherzustellen bzw. hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung anzuordnen.
13Der Antragsgegner beantragt,
14den Antrag abzulehnen.
15Zur Begründung bezieht er sich im Wesentlichen auf seine Ordnungsverfügung vom 27. Oktober 2020 und die unbeachtet gebliebene Gutachtenanordnung.
16Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
17II.
18Die Kammer entscheidet durch den Vorsitzenden, weil die Beteiligten dazu ihr Einverständnis erklärt haben, vgl. § 87a Abs. 2 VwGO.
19Das Gericht stellt die aufschiebende Wirkung der fristgemäß erhobenen Klage ‑ 3 K 2649/20 ‑ wieder her bzw. ordnet sie an, vgl. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
20Die Klage wird voraussichtlich Erfolg haben.
21Die angegriffene Fahrerlaubnisentziehung ist nach überschlägiger Prüfung rechtswidrig und verletzt den Antragsteller deshalb in seinen Rechten. Der auf die Nichtvorlage des medizinisch-psychologischen Gutachtens gestützten Entziehungsverfügung (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. §§ 46 Abs. 1 Satz 1, 11 Abs. 8 FeV) liegt aller Wahrscheinlichkeit nach eine ermessensfehlerhafte Gutachtenanordnung zugrunde. Die Fahrerlaubnisbehörde darf aber nur dann nach § 11 Abs. 8 FeV vom verweigerten Gutachten auf die fehlende Eignung des Fahrerlaubnisinhabers schließen, wenn die Gutachtenanordnung rechtmäßig war.
22Die mit Schreiben vom 31. Juli 2020 erlassene Gutachtenanordnung genügt nicht den Anforderungen des einschlägigen § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG.
23Danach hat die zuständige Behörde in der Regel die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung anzuordnen, sobald der Inhaber einer Fahrerlaubnis innerhalb der neuen Probezeit erneut eine schwerwiegende oder zwei weniger schwerwiegende Zuwiderhandlungen begangen hat.
24Nach § 2a Abs. 1 Satz 6 StVG wird die nach erstmaliger Erteilung der Fahrerlaubnis laufende Probezeit (§ 2a Abs. 1 Satz 1 StVG) unterbrochen, wenn die Fahrerlaubnis – wie beim Antragsteller der Fall – entzogen wird. In diesem Fall beginnt mit der Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis eine neue Probezeit, jedoch nur im Umfang der Restdauer der vorherigen Probezeit (Restprobezeit), vgl. § 2a Abs. 1 Satz 7 StVG. In der Restprobezeit tritt eine Verschärfung für den Fahrerlaubnisinhaber ein. Die gestuften Maßnahmen, wie sie für den ersten Abschnitt der Probezeit nach § 2a Abs. 2 StVG vorgesehen sind, werden gewissermaßen „übersprungen“. Es kommt nach Maßgabe des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG unmittelbar die Anordnung der Beibringung eines Eignungsgutachtens in Betracht, wovon der Antragsgegner zu Recht ausgegangen ist.
25Der Antragsteller muss sich – anders als er meint – auch vorwerfen lassen, dass er eine schwerwiegende Zuwiderhandlung im Sinne des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG begangen hat. So hat der am 27. April 2020 als Führer eines Kraftfahrzeuges ein elektronisches Gerät zur Kommunikation in vorschriftswidriger Weise benutzt (Handyverstoß). Der deswegen ergangene Bußgeldbescheid vom 5. Mai 2020 über 100 Euro ist rechtskräftig und damit bindend. Er ist nach § 28 Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe a) StVG in das Fahreignungsregister einzutragen. Der geahndete Verstoß gegen § 23 Abs. 1a StVO stellt eine schwerwiegende Zuwiderhandlung im Sinne des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG dar, wie sich aus Abschnitt A Nr. 2.1 der Anlage 12 zur FeV ergibt.
26Die Gutachtenanordnung vom 31. Juli 2020 leidet aber daran, dass der Antragsgegner das ihm nach § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG für atypische Fälle eingeräumte Ermessen nicht erkannt und daher nicht pflichtgemäß ausgeübt hat, vgl. § 114 Satz 1 VwGO.
27An eine Gutachtenanordnung sind strenge Maßstäbe anzulegen. Nur auf diese Weise kann die nach Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Effektivität des Verwaltungsrechtsschutzes gegen das Handeln der Fahrerlaubnisbehörde beachtet werden. Eine unmittelbare Anfechtbarkeit hat der Gesetzgeber in § 44a Satz 1 VwGO ausgeschlossen. Etwaige formelle oder materielle Rechtsfehler der Gutachtenaufforderung muss der Betroffene selbst erkennen bzw. erkennen können. Er handelt dabei auf eigenes Risiko. Meint er, einen relevanten Rechtsfehler entdeckt zu haben, und will er sich deshalb vor einer unrechtmäßigen Begutachtung, die regelmäßig einen rechtswidrigen Eingriff in sein Allgemeines Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG darstellt, schützen, so muss er die zur Gutachtenvorlage gesetzte Frist bewusst verstreichen lassen und auf die (üblicherweise für sofort vollziehbar erklärte) Entziehung seiner Fahrerlaubnis nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV warten. Anschließend kann er - unter Inkaufnahme von einigen Wochen oder Monaten ohne Fahrberechtigung - den erkannten Rechtsfehler erstmals im Eil- und Klageverfahren gegen die Fahrerlaubnisentziehung vor dem Verwaltungsgericht geltend machen, das wiederum die Rechtmäßigkeit der Gutachtenanordnung im Rahmen der sogenannten Inzidentkontrolle zu prüfen hat.
28Vgl. VG Aachen, Beschluss vom 27. April 2020 – 3 L 155/20 –, juris Rn. 9 ff..
29Diese nachgezogene gerichtliche Kontrolle der behördlichen Gutachtenanordnung muss grundsätzlich auf den Erlasszeitpunkt abstellen. Auf dieser Sach- und Rechtslage beruht nicht nur die Anordnung als Verfahrenshandlung, sondern auch die dem Betroffenen abverlangte Entscheidung, ob er die Anordnung - mit allen damit verbundenen Rechtsfolgen - für rechtmäßig oder rechtswidrig ansieht. Jedenfalls erscheint es ausgeschlossen, dass die Fahrerlaubnisbehörde eine defizitäre Begründung oder Fragestellung der beim Betroffenen bereits umgesetzten Gutachtensanordnung dergestalt "nachbessert", dass sie, wie bei Verwaltungsakten zur Heilung formeller Begründungsdefizite möglich (§ 45 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 VwVfG NRW), ihre Begründung oder Fragestellung erst im Verlauf des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vornimmt bzw. vervollständigt. Maßgeblich ist vielmehr die Rechtsschutzperspektive des von der Anordnung Betroffenen. Für ihn ist es nicht zumutbar, innerhalb der behördlich bestimmten Frist einer rechtswidrigen Anordnung zur Begutachtung folgen zu müssen, vgl. Art. 19 Abs. 4 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Schon vom Ansatz her ist damit kein Raum für eine behördliche "Nachbesserung" der Gutachtenanordnung im sich anschließenden Verwaltungsprozess um die Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV.
30Vgl. VG Aachen, Beschluss vom 27. April 2020 – 3 L 155/20 –, juris Rn. 11.
31Der Schluss auf die Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ist nach alledem nur zulässig, wenn die zu Grunde liegende Gutachtenanordnung sowohl die verfahrensrechtlichen als auch die inhaltlichen Anforderungen erfüllt, insbesondere als anlassbezogen und verhältnismäßig anzusehen ist.
32Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 5. Februar 2015 - 3 B 16/14 -, juris Rn. 8.
33Diesen Vorgaben wird die streitbefangene Gutachtenanordnung nicht gerecht, weil der Antragsgegner bei der Anwendung des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG nicht von einem Regelfall ausgehen durfte.
34Nach § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG hat die Behörde die Vorlage eines Eignungsgutachtens „in der Regel“ anzuordnen. Damit hat der Gesetzgeber die Norm als Sollvorschrift erlassen.
35Vgl. Trésoret in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 2a StVG, Stand: 6. Januar 2020, Rn. 308 ff. m.w.N.
36Bei der Anwendung von Sollvorschriften muss die Behörde erkennen, ob ein Regelfall oder aber ein Ausnahmefall vorliegt. Liegt ein Regelfall vor, ist die vom Gesetz bestimmte Maßnahme für die Behörde rechtlich zwingend. Das "Soll" bedeutet in diesem Fall ein "Muss". Für eine einzelfallbezogene Betätigung des behördlichen Ermessens ist dann kein Raum.
37Vgl. zu einem solchen Fall: VG Aachen, Beschluss vom 16. Mai 2012 – 3 L 164/12 –, juris Rn. 22 ff.
38Liegen hingegen besondere Umstände vor, die dem Fall unter Berücksichtigung der gesetzlichen Regelungssystematik einen atypischen Charakter verleihen, ist die Behörde im Interesse des Betroffenen rechtlich verpflichtet, bei der Anwendung der Sollvorschrift anders zu verfahren. Die Behörde hat den atypischen Fall nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden.
39Vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1992 – 5 C 39/90 –, juris Rn. 15.
40Der Antragsgegner hat es vorliegend versäumt, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Die in seiner Begründung der Gutachtenanordnung vertretene Auffassung, es lägen beim Antragsteller keine besonderen Umstände vor, die einen Ausnahmefall rechtfertigen könnten, ist nicht überzeugend. Die damit verbundene weitere Annahme, es liege der gesetzliche Regelfall des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG vor, dürfte sich im Hauptsacheverfahren als unzutreffend erweisen.
41Die Atypik des vorliegenden Falles liegt nach Auffassung des Gerichts darin begründet, dass die Neuerteilung der Fahrerlaubnis auf Probe im Jahr 2019 nach einer Unterbrechung der Probezeit von mehr als 15 Jahren erfolgt ist. So wurde die Probezeit mit der Entziehungsverfügung vom 16. Dezember 2003 unterbrochen und erst am 2. Oktober 2019 mit der Neuerteilung der Fahrerlaubniserteilung fortgesetzt.
42Die Neuerteilung ist vor diesem Hintergrund in die Nähe einer Ersterteilung der Fahrerlaubnis auf Probe zu rücken. Als Folge besteht trotz einer schwerwiegenden Zuwiderhandlung (Handyverstoß) ein behördlicher Ermessensspielraum, der es erlaubt, von der nach § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG regelhaft vorgesehenen Gutachtenanordnung abzusehen. Beim erstmaligen Erwerb der Fahrerlaubnis auf Probe führt ein Handyverstoß nämlich regelmäßig noch nicht zur Anordnung der Vorlage eines Eignungsgutachtens, sondern ‑ als eine erste Maßnahmestufe – zur Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar, vgl. § 2a Abs. 2 Nr. 1 StVG.
43Abgesehen davon erhält eine Unterbrechung der Probezeit von mehr als 15 Jahren auch dadurch ihre besondere fahrerlaubnisrechtliche Bedeutung, dass alle im ersten Abschnitt der Probezeit vorgenommen Eintragungen in das Verkehrszentralregister bzw. Fahreignungsregister nach 15 Jahren die sog. Tilgungsreife erlangt haben. Dazu genügt der Hinweis, dass die maximale Tilgungsfrist von zehn Jahren sich bei einer maximalen Anlaufhemmung von 5 Jahren höchstens auf 15 Jahre erstreckt. Selbst die (erste) Entziehung der Fahrerlaubnis vom 16. Dezember 2003 hatte damit bei Neuerteilung der Fahrerlaubnis im Jahr 2019 Tilgungsreife erlangt, wie sich aus dem Zusammenspiel von § 29 Abs. 1 Nr. 3 Buchstabe a) StVG und § 28 Abs. 3 Nr. 6 Buchstabe a) StVG hinsichtlich der zehnjährigen Tilgungsfrist und der maximal fünfjährigen Anlaufhemmung gemäß § 29 Abs. 5 Satz 1 StVG ergibt. Dementsprechend hat das Kraftfahrt-Bundesamt auf Anfrage des Antragsgegners in seiner Auskunft vom 8. Juni 2020 über die Eintragungen im Fahreignungsregister allein den aktuellen Handyverstoß vom 27. April 2020 aufgeführt. In den übrigen Rubriken betreffend die „Maßnahmen nach § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG“ sowie „Teilnahme an Aufbauseminar“ und „Entziehung der Fahrerlaubnis“ findet sich beim Antragsteller zu Recht keine Eintragung. Die Daten betreffend die erste Phase der Probezeit in den Jahren 2002 und 2003 sind zutreffend vom Kraftfahrt-Bundesamt gelöscht worden.
44Ist aber eine Eintragung im Fahreignungsregister gelöscht, dürfen die Tat und die Entscheidung der betroffenen Person für die Zwecke der Eignungsbeurteilung nicht mehr vorgehalten und nicht zu ihrem Nachteil verwendet werden, vgl. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG. Allein zum Vorteil des Antragstellers durfte daher sein fahrerlaubnisrechtlicher Status nach Ersterteilung, Veränderung der Probezeit, Erlöschen der Erlaubnis und Neuerteilung der Fahrerlaubnis dem ebenfalls vom Kraftfahrt-Bundesamt geführten Zentralen Fahrerlaubnisregister zum Zwecke der Anrechnung der bereits abgeleisteten Probezeit entnommen werden.
45Dass der Gesetzgeber bei den für Führerscheinanfänger erlassenen Regelungen in § 2a StVG von nur kurzen Unterbrechungen der Probezeit ausgeht, wie es im Übrigen auch dem typischen Interesse des betroffenen Fahrerlaubnisinhabers an der schnellstmöglichen Wiederherstellung seiner Fahrberechtigung entspricht, lässt sich dem Sinn und Zweck der getroffenen Regelungen entnehmen.
46So regelt der Gesetzgeber, dass die Dauer der Unterbrechung der Probezeit nach einer Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbewährung (§ 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG) bis zur Neuerteilung den Zeitraum von drei Monaten nicht unterschreiten darf, vgl. § 2a Abs. 5 Satz 3 StVG. Die nur dreimonatige Sperrfrist ist eine Privilegierung der Fahranfänger gegenüber der allgemeinen Sperrfrist von sechs Monaten.
47Vgl. Trésoret in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 2a StVG, Stand: 6. Januar 2020, Rn. 4 am Ende.
48Ferner sieht das Gesetz in § 2a StVG keinen Hinweis auf einen erneuten Befähigungsnachweis (Fahrerlaubnisprüfung) bei Neuerteilung der Fahrerlaubnis auf Probe nach vorheriger Entziehung vor. Auch dies lässt den Schluss zu, dass die Regelung gerade nicht davon ausgeht, dass die Probezeit über viele Jahre hinweg unterbrochen wird mit der Folge, dass nach § 20 Abs. 2 FeV eine neue Fahrerlaubnisprüfung abzulegen ist, wie es der Antragsgegner vorliegend angesichts eines Zeitraums von mehr als 15 Jahren zu Recht vom Antragsteller gefordert hat.
49Auch die Regelung in § 2a Abs. 5 Satz 1 StVG über den erforderlichen Nachweis der Teilnahme an einem Aufbauseminar geht davon aus, dass sich die Unterbrechung der Probezeit in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen bewegt und nicht etwa, wie hier geschehen, mehr als 15 Jahre beträgt. Nur bei einer deutlich kürzeren Unterbrechung ist die Einschätzung des Gesetzgebers gerechtfertigt, dass die in der ersten Phase der Probezeit bereits absolvierte Teilnahme an einem Aufbauseminar bei Neuerteilung noch fortwirken kann und nur dann nachgeholt werden muss, wenn sie in der ersten Probezeit unterblieben ist, vgl. § 2a Abs. 5 Satz 1 StVG.
50Dies vorausgeschickt weist der bei der Gutachtenanordnung nach § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG maßgebliche Gesichtspunkt der Bewährung des Antragstellers deutliche Parallelen zur Bewährungssituation eines Fahranfängers nach Ersterteilung der Fahrerlaubnis auf Probe auf. So hat der Antragsteller ‑ wie bei einer Ersterteilung gemäß § 2a Abs. 1 Satz 1 ‑ seine Befähigung als Führer eines Kraftfahrzeuges dadurch unter Beweis gestellt, dass er im Jahr 2019 die theoretische und praktische Fahrprüfung abgelegt hat. Dabei ist es bezeichnend, dass der Antragsgegner davon abgesehen hat, vom Antragsteller vor Neuerteilung der Fahrerlaubnis auf Probe die an sich zwingend vorgesehene Teilnahme an einem Aufbauseminar (§ 2a Abs. 5 Satz 1 StVG) zu fordern.
51Ist demnach beim Antragsteller die Neuerteilung der Fahrerlaubnis auf Probe in die Nähe der Ersterteilung der Fahrerlaubnis auf Probe zu rücken, so sind die gestuften Maßnahmen nach § 2a Abs. 2 StVG im Rahmen der Ermessenserwägungen bei der Anwendung des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG zu berücksichtigen. Dieser Gesichtspunkt kann dem Antragsgegner nach Abwägung der Umstände des Einzelfalles Veranlassung geben, von der Gutachtenanordnung abzusehen.
52Insbesondere darf die Behörde bei ihrer Ermessensausübung nicht verkennen, dass die in § 2a Abs. 5 Satz 5 SVG vorgesehene Anordnung, sich einer medizinisch-psychologischen Untersuchung zu unterziehen, erheblich in die Grundrechte des Fahrerlaubnisinhabers eingreift.
53Vgl. grundlegend: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. Juni 1993 - 1 BvR 689/92 -, juris Rn. 50 ff.
54Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass § 2a Abs 5 Satz 5 StVG eine medizinisch-psychologische Untersuchung schon bei Verstößen vorsieht, die vergleichsweise geringfügig sein können (vgl. Anlage 12 zur FeV), wenn man sie an den Voraussetzungen misst, die nach §§ 11 ff. FeV allgemein für die Anordnung der Beibringung einer medizinisch-psychologische Untersuchung einschlägig sind.
55Vgl. dazu: VG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Mai 2011 – 6 L 584/11 –, juris Rn. 20 f.
56Der mit der Gutachtenanordnung nach § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG verbundene Grundrechtseingriff ist allerdings in der Regel unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt, weil das Gesetz solche Fälle vor Augen hat, in denen die (milderen) Maßnahmen des § 2a Abs. 2 Satz 1 StVG bereits einmal vollständig durchlaufen worden sind und ihre erneute Anwendung voraussichtlich keinen Erfolg verspricht.
57Vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Mai 2011 – 6 L 584/11 –, juris Rn. 20 f.
58Diese in der Gesetzessystematik angelegte Rechtfertigung der Gutachtenanordnung nach § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG greift beim Antragsteller nicht. Die gestuften Maßnahmen der ersten Phase der Probezeit liegen bei ihm nämlich zu lange zurück. Sie besitzen keine Aussagekraft mehr zur Frage seiner aktuellen Bewährung und sind im Fahreignungsregister zutreffend nicht mehr aufgeführt. Zum Nachteil des Antragstellers und damit zur Rechtfertigung der Gutachtenanforderung dürfen sie nicht mehr verwertet werden, § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG.
59Schließlich darf zu Gunsten des Antragstellers nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Gründe, die den Antragsgegner zur Gutachtenanordnung bewogen haben, sich von denjenigen unterscheiden, die im Jahr 2003 zum Entzug der Fahrerlaubnis geführt haben. Damals ist der Antragsteller im Zusammenhang mit Drogen auffällig geworden. Diese Schwierigkeiten scheinen inzwischen überwunden zu sein, jedenfalls hat die Verkehrszuwiderhandlung vom 27. April 2020 mit Drogen nichts zu tun.
60Nach alledem wird die Fahrerlaubnisentziehung mangels rechtmäßiger Gutachtenanordnung einer Überprüfung im Klageverfahren voraussichtlich nicht standhalten und darf daher ‑ ebenso wie die Pflicht zur Führerscheinabgabe und die Zwangsgeldandrohung ‑ einstweilen nicht vollzogen werden.
61Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
622. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen,
63etwa Beschluss vom 20. November 2012 - 16 A 2172/12 - juris, Rn. 17 f., m. w. N.,
64der sich die Kammer anschließt, ist für ein Hauptsacheverfahren wegen Entziehung einer Fahrerlaubnis ungeachtet der erteilten Fahrerlaubnisklassen stets der Auffangwert (5.000 Euro) und für ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren die Hälfte dieses Betrages (2.500 Euro) als Streitwert anzusetzen. Die Verpflichtung, den Führerschein abzugeben, und die zugleich verfügte Zwangsgeldandrohung werden nicht streitwerterhöhend berücksichtigt.
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