Beschluss vom Verwaltungsgericht Aachen - 5 L 199/22.A
Tenor
1. Den Antragstellern wird für das Verfahren erster Instanz Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung der Rechte Rechtsanwältin Stremlau aus Bochum zu den Bedingungen einer im Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts Aachen niedergelassenen Rechtsanwältin beigeordnet, § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 115, 121 Abs. 2 und 3 ZPO.
2. Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 5 K 644/22.A erhobenen Klage gleichen Rubrums gegen die unter Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. März 2022 verfügte Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden
1
G r ü n d e:
2I.
3Die Antragsteller wenden sich gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn im Verfahren nach der Dublin III-VO.
4Der am 00.00.0000 in F/Aserbaidschan geborene Antragsteller zu 1., seine Ehefrau, die am 00.00.0000 in G/Aserbaidschan geborene Antragstellerin zu 2. sowie die gemeinsamen Kinder, die am 00.00.0000 in H/Aserbaidschan geborene Antragstellerin zu 3. und die am 00.00.0000 in H/Aserbaidschan geborene Antragstellerin zu 4. sind aserbaidschanische Staatsangehörige und schiitischer Religionszugehörigkeit.
5Nach eigenen Angaben verließen sie ihr Heimatland mit dem Flugzeug am 19. Januar 2022 und reisten am 20. Januar 2022 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 31. Januar 2022 stellten sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
6Nach dem vom Bundesamt am 1. Februar 2022 durchgeführten Abgleich im Europäischen Visa-Informationssystem (VIS) waren die Antragsteller zu 1. und 2. im Besitz von Schengen Visa, ausgestellt von der Ungarischen Botschaft in Baku am 29. Dezember 2021, gültig vom 13. Januar bis 02. Februar 2022 für einen Aufenthalt von sechs Tagen; gleiches gilt für die Antragstellerinnen zu 3. und 4. Im Auszug aus dem VIS - Antragsauskunft - ist als Beschäftigung des Antragstellers zu 1. "Angestellte(r)" und als Name des Arbeitgebers: "C" registriert, für die Antragstellerin zu 2. ist "Lehrkraft" und als Name des Arbeitgebers "B" angegeben.
7Im Rahmen der Anhörungen zur Zulässigkeit des Asylantrags und zu den Asylgründen erklärten die Antragsteller zu 1. und zu 2. am 7. Februar 2022 im Wesentlichen:
8Ihr Ziel sei von Anfang an Deutschland gewesen, da hier die Menschenrechte beachtet und Schutzanträge nicht ohne Prüfung einfach abgewiesen würden. Die Verhältnisse in Ungarn seien ihnen nicht bekannt. Sie hätten dort nur eine Nacht verbracht, weil es nicht möglich gewesen sei, ein Visum für Deutschland zu bekommen. Die aserbaidschanischen Reisepässe hätten sie vernichtet, weil sie nicht dorthin abgeschoben werden wollten. Sie hätten deshalb nur noch die Personalausweise. Erkrankungen lägen keine vor; die älteste Tochter, die Antragstellerin zu 3. trage allerdings eine Brille, weil sie schiele.
9Die Antragstellerin zu 2. habe die Schule bis zur mittleren Reife besucht und sei Hausfrau. Der Antragsteller zu 1. sei gelernter Möbelbauer und habe abwechselnd für unterschiedliche Werkstätten gearbeitet.
10Sie hätten ihr Heimatland verlassen, weil der Antragsteller zu 1. verfolgt werde. Er habe eine Person namens Muraz Rahimov unterstützt. Dieser habe an den Demonstrationen in der Stadt Ganja teilgenommen und sei deshalb ermordet worden. Der Antragsteller zu 1. sei zweimal festgenommen und schwer misshandelt worden. Die ganze Familie sei bedroht worden.
11Unter dem 8. Februar 2022 richtete das Bundesamt ein Aufnahmegesuch nach der Dublin III-VO an Ungarn. Die ungarische Dublin Coordination Unit erklärte am 9. Februar 2022 in zwei getrennten Schreiben bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO das Einverständnis für die Überstellung des Antragstellers zu 1. sowie für die Antragstellerinnen zu 2. bis 4. zur Feststellung des Asylgesuchs ("for determination of the asylum application") und bestätigte, dass die ungarische Botschaft in Baku für die Antragsteller ein Schengen Visum Typ C am 29. Dezember 2021 zu touristischen Zwecken ausgestellt habe; aus diesem Grunde akzeptiere Ungarn die Verantwortung für die Übernahme der Antragsteller ("accepts responsibility for taking charge of the applicants"). Unter dem 2. März 2022 remonstrierte das Bundesamt gemäß Art. 5 Abs. 2 Durchführungsverordnung Dublin III-VO mit dem Zusatz, im Falle einer positiven Entscheidung ersuche Deutschland die ungarischen Behörden um eine Zusicherung, dass die oben genannten Personen in Übereinstimmung mit der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU untergebracht und die Anträge auf internationalen Schutz nach der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU) behandelt würden.
12Mit Bescheid vom 4. März 2022, zugestellt am 11. März 2022, lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nicht vorliegen (Ziffer 2.), ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Ziffer 3.) und befristete das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Es führte aus, dass Ungarn auf Grund der ausgestellten Visa für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Die mit der Remonstration vom 2. März 2022 erbetene Zusicherung, dass die Unterbringung der Antragsteller in Übereinstimmung mit der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU erfolge und die Anträge auf internationalen Schutz nach der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU) behandelt würden, sei von den ungarischen Behörden nicht übersandt worden. Diese Zusicherung werde im Rahmen des Überstellungsprozesses eingeholt.
13Abschiebungsverbote lägen nicht vor, insbesondere bestünden keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn. Diese Auffassung werde in einem aktuellen Beschluss des Verwaltungsgerichts Halle bestätigt (VG Halle, Beschluss vom 19.04.2021, Az.: 4 B 254/21 HAL). Kernargument der Annahme von systemischen Mängeln im ungarischen Asylverfahren seien die Aufnahmebedingungen in den Zeiträumen gewesen, in denen die Asylverfahrenspraxis unter dem Eindruck der Transitzonen gestanden habe. Allerdings seien diese im zweiten Quartal 2020 geschlossen und ein neues Asylzugangsverfahren etabliert worden. Diese Entwicklungen spiegelten sich in der aktuellen Rechtsprechung noch nicht wider. In Ungarn sei seit dem 09.03.2016 ein Regierungsdekret mit dem Titel „Krisensituation aufgrund einer Masseneinwanderung“ in Kraft. Dieses Dekret gestatte der Polizeibehörde unter anderem die Zurückweisung von illegal Eingereisten sowie illegal aufhältigen Asylsuchenden hinter die ungarische Grenze (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 16). Das Dekret werde seit dem Inkrafttreten alle sechs Monate verlängert, zuletzt im September 2021 (Kafkadesk, Hungary extends migration state of emergency for fifth year, https://t1p.de/6zoq, abgerufen am 12.10.2021). Die Zahl der Asylsuchenden sei seit 2015 kontinuierlich und deutlich gesunken von 177.135 im Jahr 2015 auf nur noch 117 im Jahr 2020 (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 27). Bestimmungen, nach denen Anträge von illegal Eingewanderten ausschließlich an den grenznahen Transitzonen gestellt werden dürften, seien seit dem 26.05.2020 aufgehoben. Es sei ein Regierungsdekret (Government Decree 233/2020 (V. 26.)) sowie seit dem 18.06.2020 ein Gesetz in Kraft getreten, welches neue Vorschriften für das Asylverfahren vorsehe. Hintergrund dieser Anpassung im Asylverfahren sei der geltende Notstand (state of danger) zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Um ins reguläre Verfahren zu gelangen, müssten Schutzsuchende, die in Ungarn Asyl beantragen möchten, zunächst eine persönliche „Absichtserklärung zum Zweck der Antragstellung“ in der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew abgeben. Diese Erklärung werde dann dem Nationalen Generaldirektorat der Fremdenpolizei (NDGAP) überreicht, welcher innerhalb von 60 Tagen eine Entscheidung darüber treffen müsse, ob Asylsuchenden eine einmalige Einreiseerlaubnis für die förmliche Antragstellung erteilt werde (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 16 – 17). Falls die Erlaubnis erteilt werde, müssten die Asylsuchenden innerhalb von 30 Tagen eigenständig nach Ungarn einreisen und sich unmittelbar zu den Grenzschutzbeamten begeben. Die Grenzschutzbeamten müssten die Asylsuchenden innerhalb von 24 Stunden zur Asylbehörde befördern. Dort könnten die Asylsuchenden dann formal ihre Asylanträge stellen und einreichen (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, 22). Sowohl der seit 2016 verhängte Krisenzustand als auch der skizzierte erschwerte Zugang zum Asylverfahren habe keine Auswirkungen auf das Dublin-Verfahren mit Ungarn. Diese Maßnahmen adressierten nicht die Dublin-Rückkehrenden, sondern diejenigen, die eigenständig nach Ungarn einreisten oder sich illegal in Ungarn aufhielten. Auch das Verwaltungsgericht Halle stelle in der zitierten Entscheidung fest, dass sich die Entscheidung des EuGH vom 17. Dezember 2020 (C 808/18) über den eingeschränkten Zugang zum Asylverfahren lediglich auf diejenigen Asylsuchenden beziehe, die aus Serbien nach Ungarn einreisten.
14Das Helsinki-Komitee weise zwar darauf hin, dass Dublin-Rückkehrende nicht ohne Weiteres Erst- und Folgeanträge in Ungarn stellen könnten, da diese im Zuge des geltenden Asylgesetzes und des Botschaftsverfahrens nicht zu den Ausnahmen zählten, denen es erlaubt sei, einen Antrag innerhalb Ungarns zu stellen; auch auf den Ausschluss der Folgeantragstellenden von den Aufnahmebedingungen werde hingewiesen (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 45-46). Den genannten Punkten stehe allerdings entgegen, dass das Bundesamt Überstellungen gemäß der Dublin III-VO nur dann durchführe, wenn die ungarischen Behörden (im Einzelfall) schriftlich zusicherten, dass Dublin-Rückkehrende gemäß der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU untergebracht würden und deren Asylverfahren gemäß der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU durchgeführt werde. Zum Aspekt der fehlenden Möglichkeit zur Antragstellung innerhalb Ungarns habe das NDGAP Stellung bezogen und klargestellt, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrenden in der Praxis durchgeführt werde, nachdem diese bei ihrer Ankunft ihre Absicht zur Aufrechterhaltung ihres Asylverfahrens erklärten (EASO, EASO Asylum Report 2021, 29.06.2021, S. 97).
15Im Dublin-Verfahren müsse bei der Bewertung, ob Asylsuchenden im zu überstellenden Mitgliedstaat eine Situation extremer materieller Not drohe, ein erweiterter zeitlicher Horizont nach der Rückkehr in den Blick genommen werden. Für Ungarn sei festzustellen, dass die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem Schutzstatus ausreichend seien. In Ungarn herrschten keine derart eklatanten Missstände, welche die Annahme rechtfertigten, dass international Schutzberechtigte einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK ausgesetzt würden. Dies werde auch durch die deutsche Rechtsprechung bestätigt. International Schutzberechtigte seien in Ungarn den Inländern grundsätzlich rechtlich gleichgestellt. Sie würden durch NGOs wie z.B. Menedék oder Kalunba unterstützt.
16Die Antragsteller haben am 17. März 2022 Klage erhoben und einstweiligen Rechtsschutz beantragt.
17Die Antragsteller beantragen (wörtlich),
18die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge unter Ziffer 3) des angefochtenen Bescheides gem. § 34 Abs. 2 S. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
19Die Antragsgegnerin beantragt,
20den Antrag abzulehnen.
21Sie nimmt Bezug auf die Begründung des angegriffenen Bescheides.
22Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte einschließlich der Akte des Hauptsacheverfahrens 5 K 644/22.A und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Antragsgegnerin.
23II.
241. Der Antrag, der gemäß § 86 Abs. 3 VwGO auszulegen ist als Antrag,
25die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 5 K 644/22.A erhobenen Klage gleichen Rubrums gegen die unter Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. März 2022 verfügte Abschiebungsanordnung nach Ungarn anzuordnen,
26hat Erfolg.
272. Der gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 34 a Abs. 2 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) statthafte Antrag ist zulässig und insbesondere innerhalb der Wochenfrist des § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt worden. Der angegriffene Bescheid vom 4. März 2022 wurde den Antragstellern in der Zentralen Unterbringungseinrichtung Schleiden am 11. März 2022 ausgehändigt, so dass der am 17. März 2022 bei Gericht eingegangene Eilantrag innerhalb der Wochenfrist gestellt ist.
283. Der Antrag ist auch begründet.
29Im Rahmen eines Aussetzungsantrags nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht eine Interessenabwägung vorzunehmen zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse einerseits und dem privaten Interesse des Antragstellers andererseits, von einer Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts - hier der Abschiebungsanordnung - verschont zu bleiben bis zur abschließenden Klärung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme im Hauptsacheverfahren. Die Interessenabwägung hat sich maßgeblich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache zu orientieren, soweit diese sich bei der im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung abschätzen lassen. An der Vollziehung einer offensichtlich rechtswidrigen Maßnahme kann kein öffentliches Interesse bestehen; ist die zu vollziehende Maßnahme rechtmäßig, kann das Interesse an dem Aufschub der Vollziehung regelmäßig als gering veranschlagt werden. Lassen sich die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs nicht abschließend abschätzen, bedarf es einer Abwägung aller relevanten Umstände, insbesondere der Vollzugsfolgen, um zu ermitteln, wessen Interessen für die Dauer des Hauptsacheverfahrens der Vorrang gebührt. Nach diesen Maßstäben fällt die Interessenabwägung zu Gunsten der Antragsteller aus, denn nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse wird sich die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung nach Ungarn voraussichtlich als rechtswidrig erweisen.
30Rechtsgrundlage der Abschiebungsanordnung ist § 34 a Abs. 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt u.a. dann, wenn ein Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 29 Abs. Nr. 1 a) AsylG beurteilt sich die Frage der Zuständigkeit Ungarns nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ‑ sog. Dublin III‑VO. Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß der Dublin III‑VO hat grundsätzlich auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge (vgl. Art. 7 bis 15 Dublin III‑VO) gilt. Stimmt allerdings ein Mitgliedstaat der (Wieder‑)Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe eines der in der Dublin III‑VO genannten Kriterien zu, so ist dieser verpflichtet, den Asylbewerber aufzunehmen; der Asylbewerber hat keinen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland.
31a) Die Dublin III-VO ist anwendbar, da die Antragsteller ihre Asylanträge nach dem 1. Januar 2014 gestellt haben (vgl. Art. 49 Dublin III-VO).
32b) Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser insbesondere im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Nach Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO finden die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in der in Kapitel III genannten Rangfolge Anwendung. Dabei wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt, Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO.
33Die Antragsteller haben vorliegend erstmals am 31. Januar 2022 einen Asylantrag gestellt und zwar nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt war das ungarische Schengenvisum, das bis zum 2. Februar 2022 gültig war, noch nicht abgelaufen. Damit bestimmt sich die Zuständigkeit für den Asylantrag nach Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO (vgl. für den Fall, dass das Visum seit weniger als sechs Monaten abgelaufen ist: Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO). Nach dieser Vorschrift ist grundsätzlich der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Entsprechend hat die ungarische Dublin Coordination Unit auf das unter dem 8. Februar 2022 an sie gerichtete Aufnahmegesuch des Bundesamts nach Art. 21 Dublin III-VO am 9. Februar 2022 bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO in zwei getrennten Erklärungen das Einverständnis für die Überstellung des Antragstellers zu 1. sowie für die Antragstellerinnen zu 2. bis 4. erteilt.
34c) Eine abweichende Zuständigkeit ist auch nicht aufgrund eines vorrangig zu prüfenden Kriteriums des Kapitels III der Dublin III-VO begründet.
35Nach Art. 18 Abs. 1 a) Dublin III-VO ist Ungarn damit grundsätzlich verpflichtet, die Antragsteller nach Maßgabe der Art. 21, 22 und 29 Dublin-III-VO aufzunehmen.
36d) Die Zuständigkeit Ungarns ist zwischenzeitlich auch nicht entfallen.
37Die Antragsgegnerin ist nicht nach Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO oder Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrags der Antragsteller auf internationalen Schutz zuständig (geworden). Nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, zuständig, wenn er den anderen Mitgliedstaat nicht innerhalb der Fristen des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO um die Aufnahme des Antragstellers ersucht; einschlägig ist hier die Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem das Ersuchen beim Empfänger eingeht, wobei sich dieser regelmäßig aus dem vom "DubliNET"-System ausgestellten Empfangsbekenntnis ergibt,
38vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW, Beschluss vom 6. September 2017 - 11 A 1810/15.A - juris, Rn. 18 ff.
39Das Aufnahmegesuch des Bundesamts, aufgrund dessen die ungarischen Behörden sich bereit erklärt haben, die Antragsteller aufzunehmen, ist ausweislich des "DubliNET Proof of Delivery" am 8. Februar 2022 und damit innerhalb der frühestens mit Äußerung des Asylbegehrens am 25. Januar 2022 laufenden Dreimonatsfrist bei den ungarischen Behörden eingegangen.
40Die Überstellungfrist des Art. 29 Dublin III-VO ist noch nicht abgelaufen.
41Auch aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO kann nicht gefolgert werden, dass die Antragsgegnerin für die Prüfung der Anträge der Antragsteller zuständig geworden ist. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Antragsgegnerin beschlossen hat, die Anträge unter Berufung auf Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu prüfen. Dazu genügt insbesondere nicht, dass sie die Antragsteller zu 1. und zu 2. nach § 25 AsylG - zusätzlich zur Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit der gestellten Asylanträge - vorsorglich auch zu ihrem Verfolgungsschicksal angehört hat,
42vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. Juni 2018 – 4 A 759/18.A –, juris.
43e) Die damit grundsätzlich zu Recht von der Antragsgegnerin vorgenommene Bestimmung von Ungarn als zuständiger Mitgliedstaat wird sich allerdings voraussichtlich mit Blick auf Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III‑VO als rechtswidrig erweisen. Nach dieser Vorschrift setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat - hier Ungarn - zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und (bzw. genauer: oder) die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC; ABl. C 83 vom 30. März 2010, S. 389) mit sich bringen. Artikel 4 GRC, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf, hat gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 2010 II, S. 1198).
44Vgl. grundlegend zum Begriff der systemischen Mängel: BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - BVerwG 10 B 6.14 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, juris.
45In diesem Fall kann der Antrag nicht als unzulässig abgelehnt werden, sondern der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat hat weiter zu prüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann oder er wird - wie hier - selbst der zuständige Mitgliedstaat, Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 1 und 2 Dublin III-VO.
46Für die zu treffende Gefahrenprognose gilt anknüpfend an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK Folgendes:
47Für das in Deutschland - im Unterschied zu anderen Rechtssystemen - durch den Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus den Erwägungen des EuGH zur Erkennbarkeit der Mängel für andere Mitgliedstaaten ergibt, Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung der o.g. Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
48Vgl. grundlegend Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 15. April 2014 - 10 B 17/14 -, juris, Rn. 3 m.w.N.
49Gleichgültig ist, ob eine Verletzung des Art. 4 EU-GRCharta zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss droht. Systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen fallen jedoch nur dann unter Art. 4 EU-GRCharta, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Die Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Auch kann der bloße Umstand, dass im Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren,
50vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 ‑ C-163/17 - juris, Rn. 88 ff. und C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - juris, Rn. 81 ff.
51Nach diesen Maßstäben wird sich die von der Antragsgegnerin nach der Dublin III-VO vorgenommene Bestimmung von Ungarn als zuständiger Mitgliedstaat im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtswidrig erweisen, weil es sich gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer als unmöglich erweist, die Antragsteller nach Ungarn zu überstellen. Nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage ist die Kammer der Überzeugung, dass den Antragstellern infolge der angeordneten Abschiebung nach Ungarn dort aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens (1.) und der Aufnahmebedingungen (2.) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
52(1.) Systemische Mängel des Asylverfahrens liegen vor, wenn der grundsätzliche Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz nicht gewährleistet ist oder das Asylverfahren selbst so ausgestaltet ist, dass eine inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens nicht gewährleistet ist und diese Mängel den Antragsteller im Falle einer Überstellung nach Ungarn auch selbst treffen könnten.
53Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, juris, Rn. 33 ff, 39; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 87ff; Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, Stand:1.2.2014, Art. 3 K16.
54Systemische Mängel des Asylverfahrens setzen nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie sich nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern objektiv voraussehbar auswirken. Ein systemischer Mangel kann daneben auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem - mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis - faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.
55Vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 89ff.
56Nach den vorliegenden Erkenntnissen führen sowohl die asylrechtlichen Regelungen als auch ihre Anwendung in der Praxis dazu, dass Schutzsuchenden mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit kein Zugang zum ungarischen Asylverfahren gewährt wird.
57Zum Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 104.
58Die Antragsteller haben bislang in Ungarn keinen Asylantrag gestellt. Nach der aktuellen ungarischen Gesetzeslage und den vorliegenden Erkenntnissen wird es ihnen im Rahmen der beabsichtigten Rückführung nach der Dublin III-VO nicht möglich sein, in Ungarn einen Asylerstantrag zu stellen. Es droht vielmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entgegen dem in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) eine Abschiebung ins Herkunftsland ohne vorherige Entscheidung über den Asylantrag. Art. 33 Nr. 1 GK enthält das Verbot, einen Flüchtling i.S. des Art. 1 der Konvention "auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde". Im Kontext des Zurückweisungsverbots des Art. 33 GK umfasst der Flüchtlingsbegriff nicht nur diejenigen, die bereits als Flüchtling anerkannt worden sind, sondern auch diejenigen, die die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Flüchtling erfüllen.
59Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 22. September 2011, Rechtssache C-411/50 -, S. 42, Fn. 48.
60Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich zur Vermeidung einer Verletzung der in der GRC gewährleisteten Rechte auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der GFK und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist,
61vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - C-411/10, C-493/10 -, Rn. 75, juris und vom 5. September 2012 - C-71/11, C-99/11 -, Rn. 47, juris.
62Dementsprechend verpflichtet Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) die Mitgliedstaaten, den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten.
63Nachdem der EuGH die Unterbringung von Asylsuchenden in Transitzonen an der ungarischen Grenze für rechtswidrig erklärt hatte, erließ die ungarische Regierung einen Erlass, mit dem sie ein neues Asylsystem einführte (Government Decree 233/2020), das sogenannte "Botschaftsverfahren". Dieses neue System wurde später in das Übergangsgesetz aufgenommen, das am 18. Juni 2020 in Kraft trat, zunächst bis zum 31. Dezember 2020 befristet war, mittlerweile aber verlängert wurde.
64Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25.03.2021, S. 6; Pro Asyl, Pushbacks an der rumänisch-serbischen EU-Außengrenze, 08.02.2022, abgerufen unter https//www.proasyl.de/news am 21.02.2022.
65Kernstück des neuen Systems ist als zwingende Voraussetzung für die Stellung eines Asylantrags in Ungarn die Abgabe einer "Absichtserklärung" ("declaration of intent" - DoI) bei der ungarischen Botschaft in Belgrad/Serbien oder Kiew/Ukraine, wobei aufgrund der aktuellen Kriegssituation Kiew ausscheiden dürfte. Nach dem neuen System müssen Personen, die in Ungarn Asyl beantragen wollen, mit Ausnahme einiger weniger Fallgruppen (siehe dazu unten) folgende Schritte durchlaufen, bevor sie ihren Asylantrag registrieren lassen können:
66- Persönliche Einreichung eines "DoI" bei der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew.
67- Das "DoI" muss an die Asylbehörde, die NDGAP (National Directorate-General for Aliens Policing), weitergeleitet werden, die es innerhalb von 60 Tagen prüft.
68- Die NDGAP schlägt der Botschaft vor, eine spezielle, einmalige Einreiseerlaubnis
69für die Einreise nach Ungarn zum Zwecke der Stellung eines Asylantrags zu erteilen.
70- Wird die Erlaubnis erteilt, muss die Person allein nach Ungarn reisen und sich nach ihrer Ankunft sofort bei den Grenzbeamten melden.
71- Die Grenzbeamten müssen die Person dann der NDGAP vorstellen.
72- Die Person kann dann ihren Asylantrag bei der NDGAP formell registrieren lassen und damit das offizielle Asylverfahren einleiten.
73Je nach Genehmigung des "DoI" erhält der potenzielle Asylbewerber eine spezielle Reiseerlaubnis ausgestellt, die es ihm ermöglicht, nach Ungarn zu reisen und einen Asylantrag zu stellen.
74Nur Personen, die zu den folgenden Kategorien gehören, müssen das oben beschriebene Verfahren nicht durchlaufen:
75- Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird und die sich in Ungarn aufhalten.
76- Familienangehörige von Flüchtlingen und Personen mit subsidiärem Schutzstatus, die sich in Ungarn aufhalten.
77- Personen, die Zwangsmaßnahmen, Maßnahmen oder Strafen unterworfen sind, die die persönliche Freiheit beeinträchtigen, außer wenn sie Ungarn auf "illegale" Weise durchquert haben.
78Folglich kann kein Schutzsuchender, der an der ungarischen Grenze ankommt oder illegal nach Ungarn einreist oder sich legal in Ungarn aufhält und nicht zu den drei oben genannten Kategorien gehört, in Ungarn Asyl beantragen.
79Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25.03.2021, S. 6.
80Die Kriterien, nach denen eine Einreiseerlaubnis zum Zwecke der Asylantragstellung von der NDGAP zu erteilen ist, werden nicht benannt.
81Vgl. zu den Fragen, die im Rahmen des "DoI" zu beantworten sind: HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020, S. 3.
82Das Ungarische Helsinki Komitee berichtet, dass Personen regelmäßig abgewiesen und darüber informiert würden, dass sie auf eine nicht näher definierte "Warteliste" gesetzt seien, um einen Termin zur Abgabe der Absichtserklärung zu erhalten. Einige warteten über 2 Monaten auf diesen Termin. Einige verpassten auch den Termin, da sie kein Englisch sprechen und die Informationen über den Termin per E-Mail auf Englisch verschickt würden, oder weil sie es nicht gewohnt seien, mit E-Mails umzugehen, oder weil sie nicht in der Lage gewesen seien, die Reise zum Termin zu organisieren, da sie in einem Aufnahmezentrum weiter weg von Belgrad untergebracht worden seien. Das Formular "Absichtserklärung" ("DoI") müsse in Englisch oder Ungarisch ausgefüllt werden, ohne dass ein Dolmetscher oder Rechtsbeistand zur Verfügung stehe. Die Entscheidung der NDGAP erfolge ohne Begründung und das Gesetz sehe keinen Rechtsbehelf vor.
83Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25. März 2021, ab S.5; HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020; ebenso:.AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 21f, S. 45.
84Antragsteller haben in der Phase des "Botschaftsverfahrens" keinen Anspruch auf Einhaltung der in der RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) geregelten (Mindest)Bedingungen für die Aufnahme von Asylsuchenden und sie genießen keinen Schutz; das bedeutet, sie können von den serbischen oder ukrainischen Behörden inhaftiert, ausgewiesen oder abgeschoben werden.
85Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25. März 2021, ab S.7.
86Nach einem Bericht von Pro Asyl vom 19. November 2021 sind seit der Einführung des sogenannten Botschaftssystems im Mai 2020 drei iranische Familien, bestehend aus zwölf Personen, mit einer Reisegenehmigung der Botschaft in Belgrad nach Ungarn eingereist.
87Vgl. Pro Asyl, Ungarn: "Es lohnt sich, den Kampf anzunehmen", abgerufen am 17. Februar 2022 unter https://www.proasyl.de/news.
88Die Antragsteller fallen als Dublin-Rückkehrer offensichtlich nicht unter die oben genannten Ausnahmegruppen, die in Ungarn ohne vorheriges "Botschaftsverfahren" einen Asylantrag stellen können. Darauf verweist der AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen vom 01. April 2021 ausdrücklich, und zwar auf S. 45 unter Ziffer 2.7.; dort wird ausgeführt: Wenn eine Person, die noch keinen Asylantrag in Ungarn gestellt hat, nach der Dublin-Verordnung zurückgeschickt wird, muss er/sie nach der Rückkehr einen Asylantrag stellen, aber die derzeit geltenden Rechtsvorschriften lassen diese Möglichkeit nicht zu. "Dublin-Rückkehrer" zählen nicht zu den Ausnahmen, die im ungarischen Hoheitsgebiet einen Asylantrag stellen dürfen.
89Soweit das Bundesamt unter Bezugnahme auf den Beschluss des VG Halle
90vgl. Beschluss vom 19. April 2021 - 4 B 254/21 HAL -, juris,
91die Auffassung vertritt, der erschwerte Zugang zum Asylverfahren habe keine Auswirkungen auf das Dublin-Verfahren mit Ungarn, ist dies durch die vorliegenden Erkenntnisse widerlegt. Der vom Bundesamt zitierte Beschluss des VG Halle stützt sich im Übrigen auf den AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Update 31. Dezember 2019, der das am 18. Juni 2020 erstmals in Kraft getretene Botschaftsverfahren noch nicht berücksichtigen konnte.
92Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Update 31. Dezember 2019, dort die - noch anders lautenden - Ausführungen auf S. 42 unter 2.7. zur Situation der Dublin-Rückkehrer.
93Auch das von der ungarischen Dublin Coordination Unit auf das Aufnahmegesuch des Bundesamts unter dem 9. Februar 2022 erklärte Einverständnis zur Überstellung der Antragsteller führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn die ungarischen Behörden haben bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO nur das Einverständnis für die Überstellung der Antragsteller zur Feststellung des Asylgesuchs ("for determination of the asylum application") bzw. die Verantwortung für die Übernahme der Antragsteller ("accepts responsibility for taking charge of the applicants") erklärt. Eine belastbare Zusicherung, dass die Antragsteller den Asylantrag in Ungarn stellen können und dieser unter Einhaltung der einschlägigen europarechtlichen Regelungen während des Aufenthalts der Antragsteller in Ungarn geprüft wird, beinhaltet diese Erklärung nicht.
94Das Bundesamt weist zwar unter Bezugnahme auf den EASO Asylum Report 2021, 29.06.2021, S. 97 darauf hin, zum Aspekt der fehlenden Möglichkeit zur Antragstellung innerhalb Ungarns habe das NDGAP Stellung bezogen und klargestellt, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrenden in der Praxis durchgeführt werde, wenn diese nach der Dublin-Überstellung ihre Absicht zur Aufrechterhaltung ihres Asylverfahrens erklärten. Es erschließt sich dem Gericht allerdings nicht, ob dies tatsächlich bedeutet, dass Dublin-Überstellte in Ungarn untergebracht werden und das Asylverfahren dort durchgeführt wird oder ob "nur" das Botschaftsverfahren in Gang gesetzt wird. Offensichtlich hält jedenfalls selbst das Bundesamt diese Stellungnahme nur für eingeschränkt belastbar, denn es erläutert im angegriffenen Bescheid, dass Überstellungen gemäß der Dublin-III-VO nur dann durchgeführt würden, wenn die ungarischen Behörden (im Einzelfall) schriftlich zusicherten, dass Dublin-Rückkehrende gemäß der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU untergebracht würden und deren Asylverfahren gemäß der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU durchgeführt werde. Eine solche Zusicherung ist auf die Remonstration des Bundesamtes vom 2. März 2022 aber im vorliegenden Fall gerade nicht erfolgt. Vielmehr hat die ungarische Dublin Coordination Unit - ausschließlich - für den Antragsteller zu 1. unter dem 3. März 2022 darauf hingewiesen, dass bereits unter dem 9. Februar 2022 das Übernahmegesuch akzeptiert worden sei; sodann folgt nochmals - wörtlich mit der Erklärung vom 9. Februar 2022 übereinstimmend - die Übernahmeerklärung. Die Frage, ob grundsätzlich der Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz gewährleistet ist, ist entscheidend für die Frage der systemischen Mängel des Asylverfahrens
95vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, Stand:1.2.2014, Art. 3 K16
96und ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung. Sie kann nicht - wie die Beklagte im angegriffenen Bescheid ausführt - "im Rahmen des Überstellungsprozesses" geklärt werden.
97Unabhängig von dem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch das ungarische Asylrecht ausgeschlossenen Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz dürfte das neue Asylsystem nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Überprüfung auch die vom EuGH hinsichtlich der Transitzonen gerügte Praxis der automatischen und rechtswidrigen Inhaftierung von Schutzsuchenden fortsetzen,
98vgl. insoweit vgl. EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19 PPU, C-925/19 PPU -, juris Rn 267ff,
99denn es sieht vor, dass die Asylbehörde nach der Registrierung des Asylantrags (nach der Ankunft des Asylbewerbers in Ungarn, nachdem ihm aufgrund seiner "Absichtserklärung" ein spezielles einmaliges Einreisedokument erteilt wurde) eine Entscheidung über die Unterbringung des Antragstellers "in einer geschlossenen Einrichtung" trifft. Ähnlich wie bei den Unterbringungsentscheidungen in den - nach dem Urteil des EuGH geschlossenen - Transitzonen gibt es gegen die gesetzlich festgelegte besondere Art der Entscheidung (ungarisch: végzés) über die automatische Unterbringung der Antragsteller "in einer geschlossenen Einrichtung" keinen Rechtsbehelf. Der automatische vierwöchige Gewahrsam betrifft auch unbegleitete Minderjährige unter vierzehn Jahren.
100Vgl. HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020, S. 5.
101Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen des Dublin-Verfahrens überstellte Antragsteller nicht "in einer geschlossenen Einrichtung" untergebracht werden.
102(2.) Schließlich steht nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage zur Überzeugung der Kammer fest, dass den Antragstellern infolge der angeordneten Abschiebung nach Ungarn dort darüber hinaus aufgrund systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen würde. Nach der Rechtsprechung des EuGH
103vgl. Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Jawo, juris Rn. 87ff; ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 40
104ist insoweit bereits im Dublin-Verfahren grundsätzlich auch die Situation eines Antragstellers im Falle des Abschlusses des Asylverfahrens durch Zuerkennung von internationalem Schutz zu berücksichtigen.
105Für die anerkannt Schutzberechtigten hat die Kammer bereits entschieden, dass jedenfalls für die Situation der Gruppe der nicht uneingeschränkt arbeitsfähigen, ggf. vulnerablen Personen unter Berücksichtigung der Erkenntnislage und ihres regelmäßig besonderen Bedarfs in aller Regel nicht davon auszugehen ist, dass sie die für die Schaffung adäquater, menschenwürdiger Lebensverhältnisse in Ungarn erforderliche besondere Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit aufbringen und ihren Lebensunterhalt zumindest auf niedrigem Niveau für den zugrunde zulegenden zeitlich erweiterten Prognosespielraum durch Arbeit sicherstellen können werden.
106Vgl. Urteile der erkennenden Kammer vom 7. März 2022 - 5 K 1494/18.A und vom 3. Februar 2022 - 5 K 5443/17.A -, juris mit Nachweisen zur Erkenntnislage.
107Maßgeblich ist dabei eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls um das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK erforderliche "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) zu ermitteln.
108Vgl. BayVGH, Beschluss vom 25. Juni 2019 - 20 ZB 19.31553 -, juris Rn 10.
109Zum vorliegend in den Blick zu nehmenden Familienverband
110vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris, Rn. 15; ebenso Bay VGH, Beschluss vom 3. Februar 2020 - 13a ZB 19.33975 -, juris, Rn. 4
111der Antragsteller zu 1. bis 4. gehören vulnerable Personen und zwar die fünfjährige Antragstellerin zu 3. und die dreijährige Antragstellerin zu 4. Für die Beurteilung der Frage, ob ein Antragsteller der Gruppe der vulnerablen Personen zuzuordnen ist, kann Art. 20 Abs. 3 der RL 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie) als Orientierungshilfe herangezogen werden. Danach sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, zu berücksichtigen. Auch dabei kommt es stets auf die Umstände des Einzelfalls an.
112Nach der Erkenntnislage steht fest, dass die Suche nach einer geeigneten menschenwürdigen Unterkunft für eine vierköpfige Familie - nach zu unterstellender Gewährung von internationalem Schutz - ohne staatliche Hilfe und ohne Einkommen überaus schwierig bis aussichtslos sein wird. Es fehlt an der notwendigen Sicherstellung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage auf dem durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC geforderten Niveau, da weder staatliche Unterbringungs- oder Unterstützungsleistungen noch hinreichend gesicherte Leistungen privater Organisationen für anerkannt Schutzberechtigte zur Verfügung stehen. Die Familie wäre also völlig auf sich selbst gestellt. Nach Auswertung der aktuell zur Verfügung stehenden Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass die in Ungarn noch tätigen NGOs und sonstigen Hilfsorganisationen allenfalls alleinstehenden Männern und in Ausnahmesituationen alleinstehenden Frauen eine vorübergehende Unterbringungsmöglichkeit bieten können, aber nicht Familien und Paaren mit Kindern. Mit den ihnen aktuell noch zur Verfügung stehenden Mitteln können die zivilen Organisationen nach den vorliegenden Erkenntnissen den Bedarf der aktuell in Ungarn befindlichen anerkannten Schutzberechtigten nicht mehr decken. Gleiches gilt für die Sicherung des Lebensunterhalts. Aufgrund der geringen Zahl von Langzeitzuwanderern in Ungarn haben sich auch keine Zuwanderergemeinschaften gebildet, jedenfalls keine muslimisch geprägten, von denen die Kläger Unterstützung erhalten könnten und die das in Ungarn für eine soziale Absicherung wichtige - Schutzberechtigten typischerweise fehlende - familiäre Netzwerk ersetzen könnten. Irgendwelche Kontakte der Antragsteller zu in Ungarn befindlichen Personen, die sie unterstützen könnten, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.
113Selbst wenn es gelingen sollte, die Familie der Antragsteller für eine gewisse Übergangszeit vorübergehend unterzubringen und zu versorgen und dies mit Blick auf die beiden Kleinkinder im Alter von fünf und drei Jahren für ausreichend und zumutbar erachtet würde - was nicht der Fall sein dürfte -, ist es zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht beachtlich wahrscheinlich, dass es den Antragstellern zu 1. und zu 2. gelingen wird, für den in den Blick zu nehmenden erweiterten Prognosespielraum
114vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Jawo, juris Rn. 87ff; ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 40; VG Dresden, Beschluss vom 7. September 2021 - 12 L 893/20.A - juris, Bl. 8f.
115den Lebensunterhalt der vierköpfigen Familie zumindest auf einem Niveau sicher zu stellen, das eine existenzielle Notlage ausschließen wird. Da nach den dargelegten Erkenntnissen weder bedarfssichernde Sozialleistungen des ungarischen Staates existieren bzw. erreichbar sind noch hinreichend gesicherte Leistungen von NGOs bzw. kirchlichen Organisationen,
116vgl. hierzu im Einzelnen: Urteile der erkennenden Kammer vom 7. März 2022 - 5 K 1494/18.A und vom 3. Februar 2022 - 5 K 5443/17.A -, juris
117wird die Familie den Lebensunterhalt ausschließlich durch eigene Erwerbstätigkeit sicherstellen müssen. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Antragsteller zu 1. und zu 2. eine Arbeit finden werden, aus deren Einkünften dieser ‑ schon allein wegen der Notwendigkeit einer kindgerechten Unterbringung ihrer Töchter im Alter von drei und fünf Jahren deutlich erhöhte - Bedarf der Familie im Sinne eines absoluten Existenzminimums gedeckt werden kann. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Antragsteller zu 1. und 2. allein aufgrund der Sprachprobleme auf dem coronabedingt veränderten und angespannten ungarischen Arbeitsmarkt in naher Zukunft keine Chance haben werden, ein Einkommen zu erwirtschaften, das die menschenwürdige Unterbringung und die Versorgung der vierköpfigen Familie sicherstellen könnte.
118Die Antragstellerin zu 2. wird aufgrund ihrer Sprachschwierigkeiten, ihrer muslimischen Religionszugehörigkeit und ihrer eingeschränkten Einsatzfähigkeit als Mutter von zwei Kleinkindern, nicht auf dem Arbeitsmarkt bestehen können, zumindest nicht in den Bereichen, die anerkannt Schutzberechtigten in erster Linie offenstehen (Baugewerbe, Gastronomie und Tourismus).
119Vgl. zu den - aufgrund der soziokulturellen Unterschiede im Vergleich zu ungarischen Frauen - schlechteren Chancen geflüchteter Frauen, einen Arbeitsplatz zu finden: NIEM Policy Briefs 2: Vulnerabilität und Diskriminierung bei der Beschäftigung von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 14; zur Auswirkung der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie: NIEM Policy Briefs 6: Ressourcen und Strategien für die erfolgreiche soziale Integration von muslimischen Frauen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn.
120Auch der Antragsteller zu 1. wird allenfalls im untersten Lohnsektor etwa im Baugewerbe eine Arbeit finden können, die es ihm sicher nicht ermöglichen wird, den erhöhten Mindestunterhalt der Familie zu decken.
121Darüber hinaus wird den Antragstellern zu 1. und zu 2. die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wegen der erforderlichen Betreuung der zwei minderjährigen Kinder, für die im ungarischen Bildungssystem - wenn überhaupt - nur sehr eingeschränkte Kapazitäten zur Verfügung stehen, nur in beschränktem zeitlichem Umfang möglich sein.
122Vgl. zur Betreuungssituation schulpflichtiger Kinder (also Kinder zwischen 6 und 16 Jahren): AIDA, Country Report: Hungary, 01. April 2021, S. 129; RESPOND, Paper 2020/43, S. 25; danach ist kaum eine Schule bereit, die spezielle Betreuung und Unterstützung anzubieten, die Flüchtlingskinder benötigen; wegen der wachsenden flüchtlingsfeindlichen Stimmung und aus Angst Eltern oder Spender zu verlieren, akzeptieren einige Schulen Kinder von Migranten nur in getrennten Klassen, ohne ein sinnvolles pädagogisches Programm und nur für zwei Stunden pro Tag im Gegensatz zu ungarischen Kindern, die fünf bis sieben Stunden pro Tag in der Schule verbringen.
123Angesichts der dargestellten Schwierigkeiten für die Familie der Antragsteller, ihre elementaren Grundbedürfnisse durch eigene Erwerbstätigkeit auf Dauer zu sichern, kann eine Überstellung nach Ungarn ohne belastbare individuelle längerfristige Versorgungszusicherung des ungarischen Staates nicht erfolgen. Eine solche Zusicherung liegt hier nicht vor. Eine Unterstützung seitens NGOs oder kirchlicher Organisationen in einem entsprechenden Umfang und mit gesicherter, längerfristiger Perspektive ist in Ungarn aktuell nicht (mehr) gewährleistet.
124f) Anhaltspunkte dafür, dass einer Abschiebung der Antragsteller darüber hinaus sog. inlandsbezogene Abschiebungshindernisse entgegenstehen, die das Bundesamt im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylG mit zu prüfen hat, und zwar unabhängig davon, ob diese vor oder nach Erlass der Abschiebungsanordnung entstanden sind,
125Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 17. September 2014 ‑ 2 BvR 1795/14 ‑, juris; Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss vom 30. August 2011 ‑ 18 B 1060 -, juris Rn. 4,
126bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht.
127Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden, §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.
128Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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