Urteil vom Verwaltungsgericht Aachen - 10 K 1951/21.A
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
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T a t b e s t a n d
2Der Kläger ist konfessionsloser iranischer Staatsangehöriger persischer Volkszugehörigkeit. Er verließ eigenen Angaben zufolge sein Heimatland bereits im Alter von zehn Monaten. Er sei damals von seinen leiblichen Eltern getrennt und einer anderen iranischen Familie zugeteilt worden, die Mitglied der Organisation der Volksmujaheddin gewesen sei. Damals habe man ihm den neuen Namen A. B. gegeben. Nach seiner Ausreise aus Iran habe er sich in verschiedenen Ländern aufgehalten. Nach Deutschland sei er eigenen Angaben zufolge am 24. September 2017 auf dem Landweg eingereist. Am 5. Oktober 2017 stellte er bei der Beklagten einen Asylantrag, damals noch unter dem Namen A. B., geboren am 16. Dezember 1981 in Qaemshahr/Iran. Nach Vorlage einer abweichenden Geburtsurkunde hat er während des laufenden Klageverfahrens Ende 2019 seinen heutigen Namen angenommen. Die Geburtsdaten wurden geändert in: geboren am 20. September 1981 in Ghaemshahr/Iran.
3Im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 9. Oktober 2017 gab der Kläger zur Begründung seines Asylantrags im Wesentlichen an: Er sei im Alter von zehn Monaten von seiner leiblichen Familie getrennt worden. Seine neuen Eltern seien bei den Volksmujaheddin gewesen. Bis zu seinem vierten Lebensjahr habe er in Pakistan, der Türkei und in Frankreich gelebt, danach wieder ein Jahr lang in Pakistan und ein bis zwei Monate in der Türkei. Dann sei er ein erstes Mal im Camp Ashraf im Irak gewesen. Im Alter von 9 Jahren sei er mit seiner Familie in die USA gegangen, wo sie acht Jahre lang gelebt hätten. Von 1998 bis 2015 sei er wieder im Camp Ashraf gewesen. Bei den Volksmujaheddin sei er nie richtiges Mitglied, sondern lediglich ein „Kandidat der Mitgliedschaft" gewesen, da er bereits mit 18 Jahren begonnen habe, das System der Volksmujaheddin kritisch zu hinterfragen. Aufgrund der Differenzen zwischen ihm und der Organisation sei er nie ein vollwertiges Mitglied der Volksmujaheddin geworden. An Angriffen oder anderen offensiven Maßnahmen sei er nie beteiligt gewesen. Eine wichtige Rolle innerhalb der Organisation habe er auch nicht eingenommen. Er habe sechs Jahre lang für den Nachrichten- und Fernsehsender der Volksmujaheddin gedolmetscht und zwischen 2004 und 2005 bei Beschaffungen geholfen und als Verkäufer fungiert. Sie hätten nach der Besetzung des Irak von den Amerikanern Klimaanlagen und Trinkwasser gekauft und dieses weiterverkauft. Sie hätten auch Kleidung für die irakische Armee eingekauft. Die Volksmujaheddin habe er im Oktober 2015 aufgrund der vielen Differenzen schließlich endgültig verlassen. Deswegen sei er von ihnen in Albanien, wohin die Volksmujaheddin 2015 gebracht worden seien, gedemütigt worden. Dort sei es dann auch zu Problemen mit den Behörden gekommen. Probleme mit der Polizei oder anderen Behörden im Irak habe er nicht gehabt. Von den iranischen Behörden sei er ebenfalls zu keiner Zeit persönlich kontaktiert bzw. bedroht worden. Es sei aber zu Kontaktaufnahmen zu seiner leiblichen Familie gekommen. Vor etwa ein oder eineinhalb Jahren habe seine leibliche Familie einen Brief der iranischen Behörden erhalten. Man habe ihn aufgefordert, die Volksmujaheddin zu verlassen. Zudem habe es mehrere telefonische Kontaktaufnahmeversuche gegeben. Die Behörden hätten über seine leibliche Familie versucht, ihn zu einer Mitarbeit zu bewegen. Er habe sich aber aus allem heraushalten wollen. Woher der iranische Staat wisse, dass er bei den Volksmujaheddin tätig gewesen sei, könne er sich nicht erklären. In die Öffentlichkeit geraten sei er mit seiner Arbeit nicht. Bei einer Rückkehr nach Iran fürchte er, von den iranischen Behörden unter Druck gesetzt zu werden. Bei fehlender Kooperation erwarte ihn eine Gefängnisstrafe, im schlimmsten Fall sogar die Todesstrafe. Wegen der weiteren Einzelheiten der Anhörung wird auf die hierüber gefertigte Niederschrift verwiesen (Bl. 63-73 der Bundesamtsakte).
4Mit Bescheid vom 10. November 2017 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.) und auf Asylanerkennung (Ziffer 2.) als unbegründet ab. Zudem wurde dem Kläger der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Ziffer 3.) und es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4.). Überdies wurde der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung beziehungsweise unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall, dass er die Ausreisefrist nicht einhalte, wurde die Abschiebung nach Iran oder in einen anderen Staat angedroht, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Ziffer 5.). Schließlich wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6.).
5Der Kläger hat am 17. November 2017 - entsprechend der dem Bescheid vom 10. November 2017 beigefügten Rechtsmittelbelehrung zunächst beim Verwaltungsgericht Köln - Klage erhoben (16 K 14893/17.A).
6Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 26. Mai 2020 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen. Mit weiterem Beschluss vom 1. September 2021 erklärte sich das Verwaltungsgericht Köln für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Aachen.
7Zur Begründung seiner Klage nimmt der Kläger im Wesentlichen Bezug auf sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren. Ergänzend führt er aus, er habe sich von 1998 bis Oktober 2015 im Camp Ashraf/Camp Liberty der Organisation der Volksmujaheddin im Irak aufgehalten. Er habe in dieser Zeit Aufgaben für die Organisation übernommen, obwohl er nicht vollständig deren politische Linie geteilt habe. Ihm sei von der Organisation auch nicht erlaubt worden, den Irak wieder zu verlassen. Selbstverständlich habe der iranische Staat ein Interesse daran, jeden früheren Bewohner des Camps Ashraf intensiv zu befragen und gegebenenfalls zu inhaftieren. Die iranischen Sicherheitskräfte würden unterstellen, dass jede Person, die sich im Camp Ashraf bzw. Camp Liberty aufgehalten habe, ideologisch mit der Organisation der Volksmujaheddin verbunden sei. Dies werde vor allem für eine Person wie ihn gelten, die 17 Jahre lang im Camp gelebt habe. Von besonderem Interesse für die iranischen Sicherheitskräfte seien auch Informationen über die Aktivitäten und Aufenthaltsorte von anderen Mitgliedern der Volksmujaheddin in Iran. Er werde für die iranischen Sicherheitskräfte als Auskunftsperson in Frage kommen. Sollte er nicht zur Zusammenarbeit mit den iranischen Sicherheitskräften bereit sein, werde er mit einer menschenrechtswidrigen Behandlung durch die iranischen Sicherheitskräfte zu rechnen haben. Er sei ein Gegner des iranischen Regimes und aus diesem Grund auch nicht bereit, mit den iranischen Sicherheitskräften zusammenzuarbeiten. Das Interesse des iranischen Geheimdienstes an den Aktivitäten der Volksmujaheddin sei weiterhin sehr groß. Dies zeige sich auch daran, dass dieser bereits mehrfach Personen im Bundesgebiet angeworben habe, damit sie das Umfeld der Organisation der Volksmujaheddin ausspähten. Regelmäßig würden ehemalige Bewohner des Camps Ashraf durch das Bundesamt überdies auch anerkannt. Warum dies bei ihm nicht der Fall sei, sei nicht nachvollziehbar. Im Übrigen sei er in Deutschland auch exilpolitisch tätig. Er habe am 6. Januar 2018 an einer Demonstration in Köln gegen das iranische Regime teilgenommen.
8Der Kläger beantragt,
9die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. November 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen,
10hilfsweise,
11ihm subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen,
12weiter hilfsweise
13festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
14Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
15die Klage abzuweisen.
16Sie bezieht sich zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids. Ergänzend weist sie darauf hin, im Fall des Klägers könne nach ausführlicher Würdigung der Umstände seines Einzelfalls eine Verfolgungsgefahr nicht angenommen werden. Insbesondere sei er eigenen Angaben zufolge kein herausragendes Mitglied der Organisation der Volksmujaheddin gewesen.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamts Bezug genommen.
18E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
19Die Klage, über die der Einzelrichter trotz Nichterscheinens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden kann, weil sie auf diese Möglichkeit mit der ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden ist (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO), hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber nicht begründet.
20Der Bescheid des Bundesamts vom 10. November 2017 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) im angefochtenen Umfang als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf die mit dem Hauptantrag begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch auf die mit den Hilfsanträgen verfolgte Zuerkennung subsidiären Schutzes oder die Feststellung von Abschiebungsverboten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot erweisen sich ebenfalls als rechtmäßig (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
21I. Der Hauptantrag ist unbegründet. Die Voraussetzungen für die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor. Ziffer 1. des Bescheids des Bundesamts erweist sich daher als rechtmäßig.
221. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
23Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten zunächst Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), ferner Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). § 3a Abs. 2 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlungen beispielhaft u. a. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, sowie gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden.
24Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG der Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatliche Akteure, sofern die in Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
25Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von §§ 3 Abs. 1 und 3b AsylG und der Verfolgungshandlung bzw. den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen, wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse, oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinen Verfolgern zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt.
26Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 ‑ 10 C 52.07 -, juris, Rn. 22 und 24.
27Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, juris, Rn. 32.
29Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden jedoch durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie privilegiert. Danach besteht bei ihnen die tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 31.18 -, juris, Rn. 16 f., m. w. N.
31Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (sog. objektive Nachfluchtgründe) oder auf einem Verhalten bzw. Aktivitäten des Ausländers nach seiner Ausreise aus dem Herkunftsland (sog. subjektive Nachfluchtgründe). Ein Indiz für die Glaubhaftigkeit subjektiver Nachfluchtgründe liegt vor, wenn die Aktivitäten, auf die sich der Antragsteller stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.
32Vgl. Marx, AsylG, Kommentar, 10. Auflage 2019, § 28 Rn. 28.
33Es ist Sache des Schutzsuchenden, von sich aus unter Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).
34Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e AsylG allerdings nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftsstaates keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2), sog. inländische Fluchtalternative.
352. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe droht dem Kläger in Iran keine flüchtlingsrelevante Verfolgung. Zur Überzeugung des Gerichts steht vielmehr fest, dass dem im Kleinkindalter unverfolgt aus Iran ausgereisten Kläger bei einer Rückkehr nach Iran keine politische Verfolgung droht, vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
36a. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen sind generell die Teile der iranischen Bevölkerung, die öffentlich Kritik an Missständen üben oder sich für Menschenrechtsthemen engagieren, der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt.
37Vgl. etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 28. Januar 2022 (Stand: 23. Dezember 2021), S. 4; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran (Stand: 22. Dezember 2021), S. 9 f., 35.
38Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder islamische Grundsätze infrage stellt. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weitgefasste Straftatbestände sowie Staatsschutzdelikte. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der Islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden.
39Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 28. Januar 2022 (Stand: 23. Dezember 2021), S. 7; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran (Stand: 22. Dezember 2021), S. 9 f., 35.
40Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Insbesondere bei politisch motivierten Verfahren gegen Oppositionelle erheben Gerichte oft Anklage aufgrund konstruierter oder vorgeschobener Straftaten. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe).
41Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 28. Januar 2022 (Stand: 23. Dezember 2021), S. 7, 11; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran (Stand: 22. Dezember 2021), S. 26 f.; amnesty international, Report Iran 2020 (Stand: Januar 2021), S. 3 f.
42Entsprechenden Gefahren waren in der Vergangenheit auch Führer, Mitglieder und Sympathisanten der Volksmujaheddin ausgesetzt. Die Volksmujaheddin (oder: Volksmudschahedin), auch bekannt als „Mojahedin-e Khalq“ (MKO oder MEK) bzw. als „People´s Mojahedin Organization of Iran“ (PMOI), galten viele Jahre als die schlagkräftigste und militanteste iranische Oppositionsgruppe. Sie wurden 1965 als linksradikale islamische Organisation in Teheran gegründet. Während der Revolution 1979 unterstützten sie zunächst die islamische Revolutionsbewegung. In den auf die Revolution folgenden Wirren begaben sie sich in Opposition zu Khomeinis Regime und verübten eine Serie tödlicher Attentate auf zahlreiche führende Figuren des Regimes. Ihr Ziel war die gewaltsame Beseitigung des Mullah-Regimes im Iran. 1981 wurden sie offiziell verboten. Der Hauptsitz wurde nach Paris verlegt, wo Ma'sud Rajavi 1981 den „Nationalen Widerstandsrat“ (shura-ye melli-ye muqawamat), einen politischen Arm der Volksmujaheddin, gründete, den heute seine Ehefrau Marjam Rajavi führt. 1986 wurde das Operationszentrum während des Iran-Irak-Kriegs nach Irak in das etwa 80 km nördlich von Bagdad gelegene „Camp Ashraf“ verlegt und mit irakischer Unterstützung eine „Nationale Befreiungsarmee“ zum Kampf gegen das Regime in Teheran gegründet. Bis in die 1990er Jahre verübten die Volksmujaheddin regelmäßig Anschläge mit vielen Todesopfern auf staatliche Einrichtungen und Vertreter Irans im In- und Ausland, zum Teil auch mit irakischer Unterstützung. Eine Fortsetzung dieser Aktivitäten war seit 2001 nicht mehr zu beobachten. Dennoch stellt Iran die Organisation bis heute als existentielle Bedrohung für die Sicherheit des Landes dar. Oppositionelle werden oft zu Unrecht in die Nähe der Volksmujaheddin gerückt; entsprechende Verbindungen werden als Rechtfertigung für Todesurteile herangezogen. Auch Teilnehmern an oppositionellen Protesten wurde seit den Präsidentschaftswahlen 2009 immer wieder eine vermeintliche Mitgliedschaft bei den Volksmujaheddin unterstellt. Zwischen 2002 und Anfang 2009 standen die Volksmujaheddin auf der EU-Liste terroristischer Organisationen. Seit Januar 2009 werden sie dort nicht mehr gelistet. Iran beobachtet den Umgang des Auslands mit den Volksmujaheddin sehr genau und reagiert in der Regel äußerst sensibel auf alle Tendenzen, die Organisation aufzuwerten oder zu entkriminalisieren. Die Volksmujaheddin im Irak ließen sich ab 2011 im Rahmen einer von UNHCR unterstützten Umsiedlung mehrheitlich in Albanien nieder. Im September 2016 sollen die letzten Volksmujaheddin ihr Lager in Irak verlassen haben.
43Vgl. zu allem Dr. Jörn Thielmann, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen‑Nürnberg, Auskunft von 30. Juli 2010 bzw. 2. August 2010; amnesty international, urgent action vom 5. Januar 2011 zu drohenden Hinrichtungen und vom 3. November 2016 zu verweigerter medizinischer Versorgung einer Inhaftierten; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 12. September 2011 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Iran: Rückkehr von Personen mit Verbindungen zu den Volksmudschahedin (PMOI), Schnellrecherche vom 20. Juli 2018; ACCORD, Iran: COI Compilation, July 2018, S. 29 ff.; vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 9. Dezember 2008 - 2 K 6223/08.A -, juris, Rn. 44 ff.; VG Hannover, Urteil vom 24. August 2009 -, juris, Rn. 8 ff.; VG Stuttgart, Urteil vom 7. Oktober 2010 - 11 K 4710/09 -, juris, Rn. 38 ff., jeweils m. w. N.
44Die Volksmujaheddin werden von den iranischen Behörden als feindliche und terroristische Organisation eingestuft und sind nach wie vor in Iran verboten. Sie werden regelmäßig von den iranischen Behörden beschuldigt, Demonstrationen in Iran anzustiften.
45Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 28. Januar 2022 (Stand: 23. Dezember 2021), S. 15; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran (Stand: 22. Dezember 2021), S. 10 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Iran: Rückkehr von Personen mit Verbindungen zu den Volksmudschahedin (PMOI), Schnellrecherche vom 20. Juli 2018, S. 4.
46In herausgehobener Position tätige Mitglieder der Volksmujaheddin haben bei einer Rückkehr nach Iran weiterhin eine Anklage wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen bewaffneten Organisationsgruppe zu erwarten. Der iranische Staat hat zwar bereits im Jahre 2003 den aus dem Camp Ashraf in den Iran zurückkehrenden Angehörigen der Volksmujaheddin Amnestie angeboten. Auch finden seit 2004 unter der Obhut des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes gezielte Rückführungen ehemaliger Mitglieder nach Iran statt. Darüber hinaus wurde sogar eine iranische Organisation ins Leben gerufen, die damit betraut ist, ehemaligen Angehörigen der Volksmujaheddin bei der Eingliederung in die iranische Gesellschaft behilflich zu sein („Nejad-Organisation“). Die von dieser Organisation Zurückgeführten (etwa 300 Personen) sind bislang von staatlichen Stellen - soweit dies bekannt ist - nicht behelligt worden.
47Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 4. November 2011 (Stand: Juli 2011), S. 19 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 12. September 2011 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, S. 2; vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 9. Dezember 2008 - 2 K 6223/08.A -, juris, Rn. 52; VG Hannover, Urteil vom 24. August 2009 -, juris, Rn. 9 ff.; VG Aachen, Urteil vom 24. Mai 2012 - 5 K 1642/10.A -, S. 10 ff., 12 f. des Urteilsabdrucks (nicht veröffentlicht).
48Dennoch sind die Führungsmitglieder der Organisation weiterhin Repressalien seitens iranischer Behörden ausgesetzt.
49Vgl. etwa Dr. Jörn Thielmann, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen‑Nürnberg, Auskunft von 30. Juli 2010 bzw. 2. August 2010; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 4. November 2011 (Stand: Juli 2011), S. 19 f.; VG Aachen, Urteil vom 24. Mai 2012 - 5 K 1642/10.A -, S. 12 f. des Urteilsabdrucks (nicht veröffentlicht).
50b. Dies zugrunde gelegt ist der Kläger zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) mit Blick auf seinen Aufenthalt im Camp Ashraf und seine frühere Nähe zu den Volksmujaheddin keiner Verfolgungsgefahr ausgesetzt. Insbesondere ist er - bereits auf der Grundlage seines eigenen Vortrags - nicht in einem Maße nach außen in Erscheinung getreten, dass die Annahme gerechtfertigt ist, dass er iranischen Behörden überhaupt als ernstzunehmender Regimegegner bekannt geworden ist und diese ihn als eine Bedrohung empfinden. Zur Überzeugung der Kammer droht dem Kläger überdies auch aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland und wegen der Nichtableistung des Wehrdienstes oder der Stellung des Asylantrags keine Verfolgung bei einer Rückkehr nach Iran.
51aa. Der langjährige Aufenthalt des Klägers im Camp Ashraf und seine frühere Nähe zu den Volksmujaheddin begründen keine Gefahr politischer Verfolgung. Die Kammer verweist insoweit zur Begründung zunächst auf die Gründe des angefochtenen Bescheids, die sie für zutreffend hält (vgl. § 77 Abs. 2 AsylG).
52Ergänzend weist die Kammer auf Folgendes hin:
53Auch das Gericht glaubt dem Kläger, dass er im Alter von nur zehn Monaten seinen leiblichen Eltern weggenommen und mit einem neuen Namen versehen wurde und die Jahre danach durchgehend im Ausland verbracht hat. Ebenfalls hat der Kläger im Rahmen seiner Befragung beim Bundesamt nachvollziehbar geschildert, dass er von 1998 bis 2015 im Camp Ashraf bei den Volksmujaheddin gelebt hat. Den diesbezüglichen Vortrag in seiner Anhörung hat das Bundesamt seiner Entscheidung als glaubhaft zugrunde gelegt. Auch wenn das Gericht mangels Erscheinens des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht die Gelegenheit einer persönlichen Anhörung hatte, besteht keine Veranlassung, von der Bewertung des Bundesamts - zu Lasten des Klägers - abzuweichen. Unter Zugrundelegung des Vortrags des Klägers kann auch davon ausgegangen werden, dass er durch seinen jahrelangen Aufenthalt im direkten Umfeld der Volksmujaheddin im Camp Ashraf und durch seine familiäre Zugehörigkeit zu (ihm zugeteilten) Eltern, die innerhalb der Volksmujaheddin nach seinen Angaben „eine hohe Funktion“ eingenommen haben sollen, „von außen betrachtet“ zu den Volksmujaheddin gehört haben mag. Seinen eigenen Angaben zufolge hat er aber nach den Maßstäben der Volksmujaheddin selbst offenbar nie richtig dazugehört. Er war, wie er es selbst genannt hat, immer nur ein „Kandidat der Mitgliedschaft“. Richtiges Mitglied war er eigenen Angaben zufolge zu keiner Zeit. Dies begründet der Kläger selbst damit, dass er sich über eine längere Zeit, im Grunde bereits seitdem er 18 Jahre alt war, von den politischen und ideologischen Vorstellungen der Volksmujaheddin gelöst hat, es deswegen mit ihnen zu vielen Differenzen gekommen sei, weshalb er sich von der Organisation zunehmend abgewendet habe und es im Oktober 2015 schließlich zum offenen Bruch gekommen sei. Spätestens seitdem hat der Kläger sich selbst nicht mehr zu den Volksmujaheddin gezählt und spätestens seitdem wurde er von ihnen offenbar auch nicht mehr wie ein (angehendes) Mitglied behandelt, sondern wie ein Abtrünniger beleidigt und gedemütigt. Ebenfalls gewinnt Bedeutung, dass der Kläger eigenen Angaben zufolge auch nie eine wichtige Rolle innerhalb der Organisation eingenommen hat, was angesichts der von ihm geschilderten Differenzen und der von ihm offenbar gezeigten Haltung zu den politischen und ideologischen Wertvorstellungen der Organisation nicht verwundert, sondern unmittelbar einleuchtet. Er habe lediglich sechs Jahre lang für den Nachrichten- und Fernsehsender der Volksmujaheddin gedolmetscht und zwischen 2004 und 2005 bei Beschaffungen geholfen und als Verkäufer fungiert. Ausgehend von diesen Feststellungen ist selbst und gerade unter Zugrundelegung der Annahme, dass der iranische Geheimdienst die Aktivitäten der Volksmujaheddin intensiv überwacht, nicht anzunehmen, dass sich der Geheimdienst vom Kläger Informationen erhoffen könnte, über die er nicht längst selbst bereits verfügt. Das Bundesamt geht insoweit im Ergebnis zutreffend davon aus, dass nicht glaubhaft ist, dass der Kläger insbesondere über geheime Informationen verfügen oder wertvolle Kenntnisse (etwa über Strukturen, Personen, Aktionen u. Ä.) besitzen könnte, die dem Geheimdienst aus eigenen Quellen nicht ohnehin schon zur Verfügung stehen. Solche Informationen und Kenntnisse können von jemandem, der sich zwar im Umfeld der Volksmujaheddin bewegt, aber nie an irgendwelchen Aktionen teilgenommen und nie richtig dazugehört hat, nicht erwartet werden. Dass diese Annahme richtig ist, zeigt auch der Umstand, dass der Kläger die Rolle seiner ihm durch die Organisation zugeteilten Eltern nicht einmal im Ansatz beschreiben konnte, sondern sich darauf beschränkt hat, es sei jedenfalls eine hohe Position gewesen. Das spricht für sich. Und das weiß auch der iranische Staat. Wenn der iranische Geheimdienst überhaupt vom Kläger weiß, dann wird er auch wissen, dass der Kläger bei den Volksmujaheddin keine nennenswerte Rolle gespielt und sich ohnehin schon im Oktober 2015 und damit seit nunmehr über sechs Jahren von der Organisation abgewendet und diese verlassen hat. Welches Interesse der iranische Staat ausgerechnet am Kläger jetzt noch haben könnte, ist nach alledem nicht erkennbar. Allein der Umstand, dass sich der Kläger viele Jahre im Camp Ashraf aufgehalten hat, reicht für die Annahme einer Verfolgungsgefahr unter Berücksichtigung der Besonderheiten dieses Einzelfalls deshalb nicht aus.
54Angesichts dessen kann dem Kläger auch nicht geglaubt werden, dass der iranische Staat tatsächlich Kontakt zu seinen leiblichen Eltern in Iran aufgenommen und diese mehrfach angerufen und sogar angeschrieben haben soll mit dem Ansinnen, dass der Kläger sich bei den Behörden melden und mit ihnen zusammenarbeiten solle. Es ist schon nicht glaubhaft, dass dem iranischen Staat die leiblichen Eltern des Klägers, der seit dem Kleinkindalter unter einem anderen Namen durchgehend im Ausland gelebt hat, überhaupt bekannt (geworden) sein könnten. Im Übrigen ist angesichts der vorab beschriebenen (fehlenden) Bedeutung des Klägers in der Organisation der Volksmujaheddin zur Überzeugung der Kammer nicht davon auszugehen, dass der iranische Staat ein derart herausgehobenes Interesse am Kläger haben könnte, dass er versucht hat, ihn zur Kontaktaufnahme und zur Zusammenarbeit zu bewegen. Dagegen spricht - selbstständig tragend - überdies der Umstand, dass der Kläger diesen Brief bis heute nicht vorgelegt hat. Ihm hätte sich aber ohne weiteres aufdrängen müssen, dass es sich bei dem Brief als dem einzigen Nachweis einer Kontaktaufnahme der iranischen Behörden um ein Beweismittel handelt, dem sowohl im Bundesamtsverfahren als auch im gerichtlichen Klageverfahren eine erhebliche Bedeutung zukommen kann. Insofern wäre es für den Kläger naheliegend gewesen, seine leiblichen Eltern, die im Besitz des Briefes sein sollen und zu denen er offenbar wieder einen Kontakt aufgebaut hat, um Zusendung jedenfalls einer Kopie oder um Übermittlung eines Fotos dieses Briefes zu bitten, um ihm eine Vorlage dieses Beweismittels bzw. jedenfalls eine Glaubhaftmachung seines Vortrags in seinem Asylverfahren zu ermöglichen. Dass dies seit seiner Einreise im September 2017 bis heute nicht geschehen ist, lässt zur Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass es diesen angeblichen Brief nie gegeben hat.
55bb. Die vom Kläger vorgetragene exilpolitische Aktivität begründet ebenfalls keine Verfolgungsgefahr.
56Grundsätzlich sind zwar auch Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußern und dann nach Iran zurückkehren, von Repressionen bedroht.
57Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 28. Januar 2022 (Stand: 23. Dezember 2021), S. 15.
58Exilpolitische Organisationen im Ausland sowie deren Aktivitäten werden durch den iranischen Sicherheitsdienst genauestens überwacht.
59Vgl. VG Würzburg, Urteil vom 16. Oktober 2017 - W 8 K 17.31567 -, juris, Rn. 25, m. w. N.; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran (Stand: 22. Dezember 2021), S. 12; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Iran: Risiken im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von «kritischen» Informationen in sozialen Netzwerken, 25. April 2019, S. 3 ff.; Dr. Jörn Thielmann, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen‑Nürnberg, Auskunft von 30. Juli 2010 bzw. 2. August 2010, S. 4.
60Ob eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im Falle von exilpolitischen Aktivitäten vorliegt, ist aber regelmäßig nach den konkret-individuellen Gesamtumständen des Einzelfalls zu beurteilen. Ab welcher Intensität der politischen Aktivitäten es zu Verfolgungshandlungen kommt, lässt sich dabei nicht allgemeingültig beantworten. Die passive Mitgliedschaft oder die vereinzelte Teilnahme an Demonstrationen allein genügen in der Regel jedoch nicht. Insoweit erscheint es lebensfremd, dass jede Person, die an Veranstaltungen der Exilopposition teilnimmt, als möglicher Regimekritiker erkannt und verfolgt wird. Auch sind bloße untergeordnete exilpolitische Betätigungen, auch wenn sie im Internet dokumentiert sind, für sich genommen nicht ausreichend, um erhebliche Repressalien bei der Rückkehr befürchten zu lassen. Nach der Erkenntnislage ist iranischen Stellen bekannt, dass eine große Zahl iranischer Asylsuchender aus wirtschaftlichen oder anderen unpolitischen Gründen versucht, im westlichen Ausland dauernden Aufenthalt zu finden, und hierzu Asylverfahren mit entsprechendem Vortrag betreibt. Bekannt ist weiter, dass deshalb auch entsprechende Aktivitäten stattfinden, etwa eine oppositionelle Betätigung in Exilgruppen, die häufig, wenn nicht vorwiegend dazu dienen, Nachfluchtgründe zu belegen. Auch insoweit ist davon auszugehen, dass die iranischen Behörden diese Nachfluchtaktivitäten realistisch einschätzen. Vielmehr können exilpolitische Betätigungen eine asylerhebliche Verfolgungsgefahr nur begründen, wenn nach den konkret-individuellen Umständen des Einzelfalls damit zu rechnen ist, dass der Betroffene für iranische Stellen erkennbar und identifizierbar in die Öffentlichkeit getreten ist und als ein Regimegegner erscheint, von dem aus Sicht der iranischen Behörden eine ernsthafte Gefahr für den islamischen Staat ausgeht. Entscheidend ist, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem Regime in Teheran Unzufriedenen herausheben.
61Vgl. Schl.-H. OVG, Urteil vom 24. März 2020 - 2 LB 18/19 -, juris, Rn. 35 ff., 39; Bay. VGH, Beschluss vom 9. August 2012 - 14 ZB 12.30263 -, juris, Rn. 5; OVG NRW, Beschlüsse vom 6. August 2010 - 13 A 829/09.A -, juris, Rn. 5 f., und vom 16. Januar 2017 - 13 A 1793/16.A -, juris, Rn. 10 f., m. w. N.
62Ausgehend hiervon ist der Kläger zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) durch die von ihm vorgetragene exilpolitische Aktivität nicht in einer Weise individuell hervorgetreten, dass auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Erkenntnisse die Annahme gerechtfertigt ist, der iranische Staat sehe den Kläger, wenn er überhaupt auf ihn aufmerksam geworden sein sollte, als ernstzunehmenden Regimegegner an. Dem steht bereits entgegen, dass sich die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers nach Aktenlage auf eine vereinzelte Teilnahme an einer gegen das iranische Regime gerichteten Demonstration in Köln am 6. Januar 2018 beschränkt haben. Dass er bei dieser Demonstration eine herausgehobene Stellung eingenommen oder sich in sonstiger Weise exponiert und sich in anderer Weise als durch seine bloße Anwesenheit bei dieser Demonstration betätigt hat, hat er selbst nicht vorgetragen. Dies ergibt sich auch nicht aus den von ihm vorgelegten Lichtbildern. Weitere exilpolitische Aktivitäten hat er nicht geschildert. Eine Gefahr politischer Verfolgung scheidet bei dieser Sachlage aus.
63cc. Dem Kläger droht auch keine politische Verfolgung oder sonstige Gefahr wegen des Umstands, dass er seinen Wehrdienst bislang nicht abgeleistet hat. Selbst eine Wehrdienstentziehung, für die es vorliegend aber an belastbaren Anhaltspunkten (etwa zu einer zwischenzeitlich erfolgten Einberufung) fehlt, begründete nicht die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Gefahr politischer Verfolgung bei einer Rückkehr nach Iran. Die Strafen bei Nichtmeldung zum verpflichtenden Wehrdienst variieren je nach dem, ob sich das Land im Kriegszustand befindet oder nicht. Wehrpflichtige, die sich zu spät melden, sind verpflichtet, zusätzlich drei Monate Wehrdienst zu leisten. Wehrpflichtige, die sich zu spät oder gar nicht melden und aufgegriffen werden, erhalten ihre Bescheinigung über die Wehrdienstableistung teilweise mit erheblicher Verspätung. Ein Freikauf vom Wehrdienst ist durch temporäre Regelungen in unregelmäßigen Abständen immer wieder möglich.
64Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 28. Januar 2022 (Stand: 23. Dezember 2021), S. 12 f.; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran (Stand: 22. Dezember 2021), S. 31 f.; VG Würzburg, Urteile vom 19. August 2019 - W 8 K 19.30846 -, juris, Rn. 37 ff., und vom 23. August 2017 - W 8 K 17.30077 -, juris, Rn. 28 ff.; VG Berlin, Urteil vom 16. Juli 2014 - VG 23 K 252.13 A -, juris, Urteilsabdruck S. 6.
65dd. Die Stellung des Asylantrags löst bei einer Rückkehr nach Iran schließlich ebenfalls keine staatlichen Repressionen aus.
66Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 28. Januar 2022 (Stand: 23. Dezember 2021), S. 21; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran (Stand: 22. Dezember 2021), S. 93 f.; OVG NRW, Urteil vom 7. Juni 2021 - 6 A 2115/19.A -, juris, Rn. 55 ff.
673. Der Umstand, dass dem Kläger seinen eigenen Angaben zufolge während seines Aufenthalts im Camp Liberty durch die amerikanischen Streitkräfte, namentlich die 89th Military Police Brigade, ein Ausweis ausgestellt worden ist, dem zufolge es sich bei ihm um eine „protected person under the agreements and terms oft he fourth Geneva Convention“ handelt, führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Ungeachtet des Umstands, dass schon nicht ausreichend deutlich wird, welche Rechtsqualität der vom Kläger beim Bundesamt vorgelegte Ausweis überhaupt hat, berechtigte selbst die Registrierung einer Person durch den UNHCR als sog. Mandatsflüchtling keineswegs zwangsläufig zu der Annahme, dass dieser die Rechtsstellung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention genießt.
68Vgl. Nds. OVG, Urteil vom 7. Dezember 2005 - 11 LB 193/04 -, juris, Rn. 42; OVG NRW, Beschluss vom 27. September 2006 - 8 A 1363/05.A -, juris, Rn. 9; BVerwG, Beschluss vom 3. November 2006 - 1 B 30.06 -, juris, Rn. 2; VG Frankfurt, Urteil vom 16. Juli 2008 - 7 K 325/08.F.A -, juris, Rn. 28 f.
69Es obliegt vielmehr jeweils dem Vertragsstaat, über die Flüchtlingseigenschaft von Personen, die sich auf seinem Hoheitsgebiet befinden, zu entscheiden.
70Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. September 2006 - 8 A 1363/05.A -, juris, Rn. 6.
71Hier liegen die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung aber - wie zuvor im Einzelnen aufgezeigt - nicht vor. Dass der Kläger in einem anderen Vertragsstaat bereits als Flüchtling anerkannt worden ist, trägt er selbst nicht vor.
72II. Der Kläger hat auch nicht den von ihm mit seinen Hilfsanträgen geltend gemachten Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG bzw. auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG. Stichhaltige Gründe für die Annahme, dass ihm in Iran ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG ‑ insbesondere die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1) bzw. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (Nr. 2) ‑ drohen könnte, sind aus den vorgenannten Gründen ebenso wenig gegeben wie Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird ergänzend auf die Begründung zu den Ziffern 3. und 4. des angefochtenen Bescheids Bezug genommen, die das Gericht für zutreffend hält (vgl. § 77 Abs. 2 AsylG).
73III. Die unter Ziffer 5. des angegriffenen Bescheids verfügte Abschiebungsandrohung mit Ausreiseaufforderung unter Fristsetzung von 30 Tagen ist zutreffend auf §§ 34 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG gestützt und rechtlich nicht zu beanstanden.
74IV. Schließlich ist das auf 30 Monate befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffer 6. des angefochtenen Bescheids) rechtlich nicht zu beanstanden. In dieser Befristungsentscheidung, die vor einer Abschiebung des Klägers ergangen ist, liegt die konstitutive Anordnung eines befristeten Einreiseverbots, wie sie nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der seit dem 21. August 2019 geltenden Fassung nunmehr im Aufenthaltsgesetz ausdrücklich vorgesehen ist.
75Vgl. BT-Drs. 19/10047, S. 31 zu Nr. 4.; BVerwG, Urteile vom 21. August 2018 - 1 C 21.17 -, juris, Rn. 20 f., und vom 27. Juli 2017 - 1 C 28.16 -, juris, Rn. 42, sowie Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 -, juris, Rn. 71 f.
76Soweit das Bundesamt sich im angefochtenen Bescheid auf das sich unmittelbar aus § 11 Abs. 1 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Altfassung ergebende gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gestützt hat, dürfte dieses zwar unionsrechtswidrig und daher unanwendbar sein.
77Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 (1 A 4.17) ‑, juris, Rn. 70 f., und vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 (1 A 3.17) -, juris, Rn. 5; VGH Bad.‑Württ., Beschluss vom 22. März 2018 ‑ 11 S 2776/17 -, juris, Rn. 11.
78Die unionsrechtlich geforderte Einzelfallentscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer wird in unionsrechtskonformer Auslegung des Aufenthaltsgesetzes regelmäßig aber in einer behördlichen Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG gesehen werden können. Die Befristung des ‑ vermeintlich bestehenden ‑ gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt ist daher dementsprechend umzudeuten.
79Vgl. BVerwG, Urteile vom 21. August 2018 - 1 C 21.17 -, juris, Rn. 20 f., und vom 27. Juli 2017 - 1 C 28.16 -, juris, Rn. 42, sowie Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 -, juris, Rn. 71 f.; kritisch: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 22. März 2018 - 11 S 2776/17 -, juris, Rn. 15 ff., 21.
80Ausgehend hiervon ist die Ermessensentscheidung des Bundesamts, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen, nach Maßgabe des sich aus § 114 Satz 1 VwGO ergebenden (eingeschränkten) Prüfungsumfangs des Gerichts rechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesamt hat sich mit der Fristbestimmung am Mittelwert der in § 11 Abs. 3 Satz 2 AsylG genannten Frist von bis zu 5 Jahren orientiert. Besondere Umstände, die eine abweichende Befristungsentscheidung nahe legen könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
81Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG, die Entscheidung über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.
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Referenzen
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- Urteil vom Verwaltungsgericht Stuttgart - 11 K 4710/09 1x
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- VwGO § 108 3x
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