Beschluss vom Verwaltungsgericht Düsseldorf - 13 L 213/14.A
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 13 K 606/14.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Januar 2014 wird angeordnet.
Dem Antragsteller wird für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt L. aus L1. bewilligt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der am 31. Januar 2014 sinngemäß bei Gericht anhängig gemachte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Januar 2014 anzuordnen,
4zu dessen Entscheidung die Einzelrichtern gemäß § 76 Absatz 4 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) berufen ist, hat Erfolg. Er ist zulässig und begründet.
5Der hier gestellte Antrag nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist statthaft, da nach § 34a Absatz 2 Satz 1 AsylVfG in seiner durch Artikel 1 Nummer 27 Buchstabe b des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013, BGBl. I S. 3474, geänderten und nach § 77 Absatz 1 AsylVfG hier auch zu beachtenden Fassung solche Eilanträge gegen die Abschiebungsanordnung nunmehr zugelassen sind und der in der Hauptsache erhobenen Klage nach § 80 Absatz 2 Satz 1 Nummer 3 VwGO i.V.m § 75 Satz 1 AsylVfG keine aufschiebende Wirkung zukommt.
6Der Antragsteller hat den Eilantrag auch innerhalb von einer Woche nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 28. Januar 2014 und damit fristgerecht im Sinne von § 34a Absatz 2 Satz 1 AsylVfG gestellt. Der auf die Unzulässigkeit des Asylantrags gemäß § 27a AsylVfG gestützte Bescheid wurde ausweislich der im Verwaltungsvorgang enthaltenen Postzustellungsurkunde am 30. Januar 2014 gemäß § 31 Absatz 1 Satz 4 AsylVfG dem Antragsteller persönlich zugestellt. Er hat am 31. Januar 2014 innerhalb der Wochenfrist den Eilantrag gestellt und Klage erhoben.
7Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg.
8Das Gericht folgt der bislang zu § 34a Absatz 2 AsylVfG n.F. ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unzulässig oder unbegründet gemäß § 36 Absatz 4 Satz 1 AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Eine derartige Einschränkung der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis hat der Gesetzgeber für die Fälle des § 34a Absatz 2 AsylVfG gerade nicht geregelt. Eine solche Gesetzesauslegung entspräche auch nicht dem Willen des Gesetzgebers, denn eine entsprechende Initiative zur Ergänzung des § 34a Absatz 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine Mehrheit;
9vgl. hierzu bereits mit ausführlicher Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens Verwaltungsgericht Trier, Beschluss vom 18. September 2013 – 5 L 1234/13.TR -, juris Rn 5 ff. m.w.N.; Verwaltungsgericht Göttingen, Beschluss vom 17. Oktober 2013 –2 B 844/13 – juris Rn 3 f; siehe auch bereits Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschlüsse vom 7. Januar 2014 – 13 L 2168/13.A – und vom 24. Februar 2014 – 13 L 2685/13.A -, beide in juris.
10Die danach vorzunehmende Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers hat sich maßgeblich ‑ nicht ausschließlich ‑ an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich nach summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zu Gunsten des Antragstellers aus, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamtes begegnet nach diesen Maßstäben durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
11Diese ergeben sich vorliegend zwar nicht hinsichtlich der Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers als unzulässig nach § 27a AsylVfG (I.), wohl aber hinsichtlich der Durchführbarkeit der Abschiebung, § 34a Absatz 1 Satz 1 a. E. AsylVfG (II).
12I. Das Bundesamt hat den Asylantrag des Antragstellers zu Recht als unzulässig abgelehnt und geht von der Zuständigkeit Italiens für dessen Prüfung aus. Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Antragsgegnerin den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34a Absatz 1 Satz 1 AsylVfG).
13Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (im Folgenden: Dublin II-VO). Diese findet auf den Asylantrag des Antragstellers Anwendung, obwohl gemäß § 77 Absatz 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. in Eilverfahren auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen ist und die Nachfolgevorschrift der Dublin II-VO, die Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO), bereits am 19. Juli 2013 in Kraft getreten ist. Denn gemäß Artikel 49 Absatz 2 Satz 2 Dublin III-VO bleibt die Dublin II-VO weiter anwendbar für Asylanträge, die vor dem 1. Januar 2014 gestellt werden. Anderes gilt nur im Falle von Gesuchen um Aufnahme oder Wiederaufnahme, die – anders als vorliegend – ab dem 1. Januar 2014 gestellt werden (Artikel 49 Absatz 2 Satz 1 Dublin III-VO),
14vgl. bereits Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschlüsse vom 7. Januar 2014 – 13 L 2168/13.A –, vom 12. Februar 2014 – 13 L 2428/13.A –, vom 24. Februar 2014 – 13 L 2685/14.A- und vom 26. Februar 2014 – 13 L 171/14.A -, alle in juris und NRWE.
15Nach den Vorschriften der Dublin II-VO ist Italien der zuständige Staat für die Prüfung des durch den Antragsteller gestellten Asylantrags. Der Antragsteller hat ausweislich der Abfrage des Bundesamtes in der Eurodac-Datenbank bereits am 10. September 2011 in Italien (Mailand) einen Asylantrag gestellt und auch im Rahmen der Anhörung durch das Bundesamt am 14. August 2013 selbst angegeben, in Italien Asyl beantragt und dort vorübergehend in einer Unterkunft für Asylbewerber gelebt zu haben. Nachdem Italien auf das am 5. November 2013 vom Bundesamt gestellte Ersuchen um Wiederaufnahme des Antragstellers nach Artikel 16 Absatz 1 Bst c Dublin II-VO nicht innerhalb der nach Artikel 20 Absatz 1 Satz 1 Bst c Dublin II-VO im Falle eines EURODAC-Treffers maßgeblichen Frist von 2 Wochen nach Stellung des Wiederaufnahmeersuchens, mithin bis zum 19. November 2013, seine Zuständigkeit erklärt hat, ist nach Artikel 20 Absatz 1 Satz 1 Bst c Dublin II-VO davon auszugehen, dass Italien die Wiederaufnahme des Antragstellers akzeptiert hat. Italien ist daher gemäß Artikel 20 Absatz 1 Satz 1 Bst d Dublin II-VO grundsätzlich verpflichtet, den Antragsteller innerhalb einer Frist von sechs Monaten, nachdem es die Wiederaufnahme akzeptiert hat, bzw. innerhalb von sechs Monaten nach der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat, wieder aufzunehmen. Diese Frist ist noch nicht abgelaufen.
16Der Überstellung nach Italien steht entgegen der Auffassung des Antragstellers auch nicht entgegen, dass zwischen der Antragstellung am 14. Mai 2013 und der Stellung des Übernahmeersuchens an Italien am 5. November 2013 knapp 6 Monate vergangen sind. Fristvorgaben enthält die Dublin-II-VO insoweit allein für Aufnahmeersuchen (Artikel 17 Absatz 1 Dublin II-VO), also Ersuchen, die darauf gerichtet sind, dass der erstmalige Asylantrag von einem anderen Mitgliedstaat geprüft werde. Wird wie hier nach der Stellung eines Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat (Italien) ein weiterer Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland gestellt und ersucht die Antragsgegnerin daraufhin den Staat der ersten Asylantragstellung um Übernahme des Asylbewerbers, handelt es sich um ein Wiederaufnahmeersuchen nach Artikel 20 Dublin II-VO, das nicht der Fristregelung des Artikel 17 Dublin II-VO unterfällt,
17vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 6. Februar 2014 – 17 L 150/13.A -, juris Rn 40; Verwaltungsgericht Regensburg, Beschluss vom 5. Juli 2013 – RN 5 S 13.30273-, juris Rn 24; Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 7. Oktober 2013 – 33 L 403.13 A -, juris Rn 8.
18Es liegt auch kein Fall vor, in dem es zum Schutz der Grundrechte des Antragstellers aufgrund einer unangemessen langen Verfahrensdauer der Antragsgegnerin verwehrt ist, sich auf die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates zu berufen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat der an sich nach der Dublin II-VO unzuständige Mitgliedstaat darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO selbst prüfen,
19vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. -, juris Rn 108.
20Diese Vorgabe ist nach Auffassung des Gerichts auch bei Wiederaufnahmeersuchen nach Artikel 20 Dublin II-VO zu beachten, auch wenn sich der Europäische Gerichtshof im konkreten Verfahren allein auf ein Aufnahmeersuchen nach Erstantragstellung im unzuständigen Mitgliedstaat bezog. Denn die grundrechtliche Belastung, welche durch die unangemessen lange Verfahrensdauer entsteht, dürfte in beiden Fällen vergleichbar sein,
21vgl. Verwaltungsgericht Göttingen, Beschluss vom 11. Oktober 2013 – 2 B 806/13 -, juris, Rn 10; a.A. Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 24. Oktober 2013 – 33 L 450.13 A – juris, Rn 8.
22Anhaltspunkte, ab wann von einer unangemessen langen Verfahrensdauer auszugehen ist, hat der Europäische Gerichtshof nicht gegeben. Nach Auffassung des Gerichts ist insoweit aber zunächst zu berücksichtigen, dass schon die Regelung des Artikel 17 Absatz 2 Dublin II-VO für Aufnahmeersuchen und nunmehr auch Artikel 23 Absatz 2 Dublin-III-VO für Wiederaufnahmeersuchen eine regelmäßige Frist von zwei bzw. drei Monaten vorsieht. Deren Überschreiten kann dabei nicht gleichgesetzt werden mit der vom Europäischen Gerichtshof angesprochenen, die Grundrechte des Asylbewerbers beeinträchtigenden unangemessen langen Verfahrensdauer. Der gesetzlichen Wertung des § 24 Absatz 4 AsylVfG folgend geht das Gericht davon aus, dass frühestens nach dem Verstreichen eines Zeitraums, der der regelmäßigen Frist des Artikel 17 Dublin II-VO von drei Monaten zuzüglich der durch Artikel 24 Absatz 4 AsylVfG für die innerstaatlich für die Entscheidung über den Asylantrag im Regelfall vorgesehene Frist von sechs Monaten, also insgesamt von neun Monaten, entspricht, von einer unangemessen langen Verfahrensdauer ausgegangen werden kann,
23vgl. i.E. VG Düsseldorf, Urteil vom 27. August 2013 – 17 K 4737/12.A -, S. 8 des Urteilsabdrucks, n.v..; Beschluss vom 26. Februar 2014 – 13 L 171/14 – und vom 26. Februar 2014 – 13 L 254/14.A -, beide in juris.
24Hier sind seit der Asylantragstellung am 14. Mai 2013 und der Stellung des Übernahmeersuchens am 5. November 2013 erst knapp 6 Monate verstrichen, so dass unter keinen Umständen von einer unangemessen langen Frist auszugehen ist.
25Die Antragsgegnerin ist vorliegend auch nicht deshalb an der Überstellung des Antragstellers nach Italien gehindert und zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO verpflichtet, weil das italienische Asylsystem systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs aufweist,
26EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C/411/10 et al. -, juris Rn 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, NVwZ 2011, 413.
27Ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Bundesrepublik Deutschland besteht ohnehin nicht. Die Dublin-Verordnungen sehen ein nach objektiven Kriterien ausgerichtetes Verfahren der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten vor. Sie sind im Grundsatz nicht darauf ausgerichtet, Ansprüche von Asylbewerbern gegen einen Mitgliedstaat auf Durchführung des Asylverfahrens durch ihn zu begründen. Ausnahmen bestehen allenfalls bei einzelnen, eindeutig subjektiv-rechtlich ausgestalteten Zuständigkeitstatbeständen (vgl. etwa Art. 7 Dublin II-VO zugunsten von Familienangehörigen). Die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin II-VO begründen zum Zwecke der sachgerechten Verteilung der Asylbewerber vor allem subjektive Rechte der Mitgliedstaaten untereinander. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert daher nur die Überstellung dorthin; sie begründet kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin,
28vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C 4/11-, juris Rn 37; Schlussanträge des GA Jääskinnen vom 18. April 2013 – C 4/11-, juris Rn 57 f.
29Die Antragsgegnerin ist auch nicht – unabhängig von der Frage der Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO zugunsten des Antragstellers – gehindert, diesen nach Italien zu überstellen. Die Voraussetzungen, unter denen das nach der zitierten Rechtsprechung,
30EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10- et al. -, juris Rn 83 ff., 99, EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09-, NVwZ 2011, 413,
31der Fall wäre, liegen nicht vor. Danach ist die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche der erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 der Grundrechtecharta implizieren,
32EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2911 – C-411/10 et al. -, juris Rn 86.
33Systemische Mängel in diesem Sine können erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Gravität nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können,
34EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al.-, juris Rn 94.
35Der hier noch nicht anzuwendende Art. 3 Absatz 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO hat diese Rechtsprechung normativ übernommen, indem er die Überstellung an den an sich zuständige Mitgliedstaat für unmöglich erklärt, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen.
36Diese Voraussetzungen sind aus den in der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. März 2014 dargelegten Gründen,
37OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A - , juris.
38denen sich das erkennende Gericht anschließt, für Italien nicht gegeben. Sowohl mit Blick auf das Rechtssystem als auch insbesondere die Verwaltungspraxis des Asylverfahrens ist danach davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches trotz ggf. vorliegender einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der „vor Ort“ tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber „im Normalfall“, also bei nach der Erkenntnislage vorhersehbarem Verlauf der Dinge, nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen, namentlich nicht solchen i.S.d. Gewährleistung aus Artikel 4 EUGRCh, rechnen muss.
39II. Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung begegnet aber ungeachtet dessen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Absatz 1 AsylVfG) mit Blick auf ihre Durchführbarkeit rechtlichen Bedenken. Denn gemäß § 34a Absatz 1 Satz 1 a. E. AsylVfG setzt die Anordnung der Abschiebung neben der Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 27a AsylVfG voraus, dass diese auch durchgeführt werden kann. Das bedeutet, dass keine zielstaatsbezogenen oder in der Person des Ausländers bestehenden ‑ innerstaatlichen ‑ Abschiebungshindernisse bestehen dürfen.
40Der Antragsteller leidet ausweislich des im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Arztberichts des Klinikums M. gGmbH vom 29. Januar 2014 und der ärztlichen Atteste der ihn weiterbehandelnden Praxis Dr. L2. vom 11. März 2014 und 24. April 2014 an einer – in den Attesten diagnostisch näher bezeichneten - Herzerkrankung. Diese hat im Januar 2014 einen operativen Eingriff erforderlich gemacht; dem Antragsteller wurden mehrere Stents eingesetzt. Der Antragsteller ist ausweislich der vorgelegten ärztlichen Atteste auch weiterhin kontinuierlich behandlungsbedürftig. Er benötigt neben einer Vielzahl täglich einzunehmender Medikamente eine kontinuierliche ärztliche Überwachung, u.a. durch eine regelmäßige Kontrolle seiner Laborwerte, seines Blutdrucks und des EKGs. Zwar verhalten sich die aktuellen ärztlichen Atteste nicht ausdrücklich zur Reisefähigkeit des Antragstellers. Allerdings enthalten die Atteste Angaben, aus denen sich eine deutlich eingeschränkte körperliche Belastbarkeit des Antragstellers ergibt. So sei er nicht in der Lage, schwere körperliche Arbeit zu verrichten. Ferner solle er ‑ insbesondere in Anbetracht der erhöhten Blutdruckwerte ‑ größere Aufregungen, die mit psychischem Stress einhergehen, vermeiden. Zudem weisen die behandelnden Ärzte ausdrücklich darauf hin, dass der Antragsteller ‑ sofern keine kontinuierliche medizinische Überwachung und Kontrolle erfolge ‑ mit weiteren schweren Folgeschäden bezüglich seiner Herzerkrankung rechnen müsse.
41Da eine Abschiebung regelmäßig mit nicht unerheblichem psychischen Stress verbunden ist und die Abschiebung nach Italien zumeist auf dem Luftweg erfolgt, also ‑ jedenfalls für einen herzkranken Menschen ‑ flugbedingt möglicherweise auch mit einer nicht nur unerheblichen körperlichen Belastung verbunden ist, bedarf es vor diesem Hintergrund weiterer, allerdings dem Hauptsacheverfahren vorbehaltener Aufklärung, ob sich die gesundheitliche Situation des Antragstellers aufgrund seiner Vorerkrankung durch die Belastung der Ausreise bzw. Abschiebung unmittelbar wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern kann, mithin ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis besteht, § 60a AufenthG.
42Vor dem Hintergrund der Erkrankung des Antragstellers, die nach der Attestlage ohne regelmäßige Kontrolluntersuchungen und die erforderliche Medikation zu schweren weiteren Folgeschäden führen kann, besteht ferner Anlass zur ‑ ebenfalls im Hauptsacheverfahren vorzunehmenden ‑ Aufklärung, ob und in welchem Umfang der Antragsteller die aufgrund seines Krankheitsbildes erforderliche medizinische Versorgung zeitnah nach seiner Abschiebung in Italien erhalten kann, ihm also nicht unmittelbar nach der Einreise nach Italien die Gefahr einer erheblichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands i.S.v. § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG droht, weil er eventuell erforderliche ärztliche Untersuchungen dort möglicherweise nicht rechtzeitig erhalten wird. Auch insoweit bestehen Anhaltspunkte, weil der Antragsteller ungeachtet der allgemeinen Situation von Asylbewerbern in Italien, denen nach der Erkenntnislage jedenfalls ein Mindeststandard an medizinischer Versorgung zur Verfügung steht (Notversorgung, unmittelbar erforderliche Behandlungen), einen darüber hinausgehenden regelmäßig wiederkehrenden medizinischen Behandlungsbedarf hat,
43vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris Rn 182, wonach jedenfalls Erkenntnisse vorliegen, die in Zweifel ziehen, ob auch jenseits der Not- bzw. Akutversorgung der allgemeine Zugang zum italienischen Gesundheitssystem, zu dem eine Gesundheitskarte nötig ist, den Asylbewerbern bereits - ggf. landesweit - dann eröffnet ist, wenn sie (noch) nicht über einen ständigen Wohnsitz bzw. eine feste Adresse verfügen.
44Ist die Frage, ob für den Antragsteller ein inlandsbezogenes bzw. zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis vorliegt, danach zumindest als offen zu bezeichnen, führt eine Abwägung der widerstreitenden Interessen, nämlich einer Gefährdung der Gesundheit des Antragstellers und des nur zeitlich gefährdeten Abschiebungsinteresses der Antragsgegnerin vorliegend zu einem Überwiegen des Aussetzungsinteresses des Antragstellers und zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung.
45Da die Rechtsverfolgung aus den vorstehenden Gründen Aussicht auf Erfolg bietet, war auch dem Prozesskostenhilfeantrag stattzugeben, § 166 VwGO, § 114 ZPO.
46Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Absatz 1 VwGO, § 83b AsylVfG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Absatz 1 RVG.
47Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- § 77 Absatz 1 Satz 1 AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- 17 L 150/13 1x (nicht zugeordnet)
- § 24 Absatz 4 AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- § 34a Absatz 2 Satz 1 AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- § 77 Absatz 1 AsylVfG 2x (nicht zugeordnet)
- 13 L 254/14 1x (nicht zugeordnet)
- 13 L 2428/13 1x (nicht zugeordnet)
- § 31 Absatz 1 Satz 4 AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- RVG § 30 Gegenstandswert in gerichtlichen Verfahren nach dem Asylgesetz 1x
- § 27a AsylVfG 4x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- 13 L 2685/13 1x (nicht zugeordnet)
- 5 L 1234/13 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 114 Voraussetzungen 1x
- 2 B 844/13 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 166 1x
- 2 B 806/13 1x (nicht zugeordnet)
- 13 L 171/14 2x (nicht zugeordnet)
- 13 K 606/14 1x (nicht zugeordnet)
- § 34a Absatz 1 Satz 1 AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- § 34a Absatz 2 AsylVfG 3x (nicht zugeordnet)
- § 36 Absatz 4 Satz 1 AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- § 83b AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- § 60a AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 13 L 2168/13 2x (nicht zugeordnet)
- § 80 AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- § 75 Satz 1 AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- 1 A 21/12 2x (nicht zugeordnet)
- § 34a Absatz 2 Satz 1 AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
- 17 K 4737/12 1x (nicht zugeordnet)
- 13 L 2685/14 1x (nicht zugeordnet)