Urteil vom Verwaltungsgericht Düsseldorf - 10 K 4824/18.A
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Tatbestand:
2Der Kläger wendet sich gegen den ihm gegenüber ergangenen ablehnenden Asylbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).
3Der Kläger ist russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 28. Oktober 2014 auf dem Landweg über Polen in die Bundesrepublik und stellte am 21. Juli 2015 einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes. Bei seiner Meldung als Asylsuchender am 4. November 2014 gab er an, T. N. zu heißen (Bl. 26 der Bundesamtsakte). In seiner Anhörung beim Bundesamt am 5. April 2016 stellte er dann klar, dass sein richtiger Name S. W. sei, nachdem er zuvor bei der Ausländerbehörde seinen Führerschein mit seinem richtigen Namen vorgelegt hatte. Er schilderte, dass er im Jahr 1999 mit seinem Bruder bei einer Straßenkontrolle festgenommen worden sei. Man habe ihn anhand eines Buches mit Bildern erkannt. Er sei in diesem Buch in Uniform und mit Waffe abgebildet gewesen. Anschließend sei er zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sein Bruder zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt worden. Danach sei es immer wieder zu Festnahmen und Hausdurchsuchungen gekommen. Man habe versucht, Informationen aus ihm herauszubekommen. Der letzte Vorfall habe sich im Jahr 2008 ereignet. Tschetschenische und russische Kräfte der Antiterroreinheit seien bei ihm zuhause eingedrungen, hätten ihn festgenommen, geschlagen und gefoltert. Er sei erneut für drei Monate zusammen mit seinem Cousin inhaftiert worden. Seine Geschichte sei veröffentlicht worden und er verfüge über einen USB-Stick mit Videos.
4Am 26. Juni 2016 nahm der Kläger einen Termin bei der Ausländerbehörde wahr (Bl. 89 der Ausländerakte). In der Folge führte die Ausländerbehörde den L.----weg 00 in E. als postalische Adresse des Klägers. Am 27. November 2017 vermerkte die Beklagte (Bl. 62 der Bundesamtsakte):
5Laut Frau H. vom AVS E1. ist die neue Anschrift:
6L.----weg 00,00000 E.
7Mit Bescheid vom 6. April 2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab (Ziffer 1 und 2 des Bescheides) und verwehrte sowohl die Gewährung subsidiären Schutzes (Ziffer 3 des Bescheides) als auch die Feststellung eines Abschiebungsverbots (Ziffer 4 des Bescheides). Zur Begründung führte es aus, dass die Verhaftungen keine Verfolgung begründen würden. Die Befragungen und Festnahmen hätten nicht per se einen politischen Einschlag. Es handele sich um grundsätzlich menschenrechtlich unbedenkliche Maßnahmen, die in einer staatlichen Friedensordnung unverzichtbar seien. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern der Kläger einen Politmalus erleide und nicht lediglich wegen kriminellen Unrechts verhaftet worden sei. Der Kläger habe nichts geäußert, was auf eine politische Aktivität hindeute. Zudem sei der Kläger mit seinem Personalausweis legal ausgereist, was nicht möglich gewesen sei, wenn er staatlich verfolgt gewesen sei, da im Fall der Ausreise eine Ausweispflicht bestehe. Der Kläger sei auf der Internetseite des Ministeriums für innere Sicherheit nicht zur Fahndung ausgeschrieben. Er habe zunächst den Namen T. N1. als Alias angegeben, so dass ihm unterstellt werden müsse, bewusst über seine Identität getäuscht zu haben. Es sei auch nicht ersichtlich, warum der Kläger ins Visier der Behörden geraten sein soll. Er sei von 2008 bis 2014 in der Ukraine gewesen. Es bleibe die Frage offen, wie er fast sechs Jahre in der Ukraine habe leben können. Es wäre zu erwarten gewesen, dass der Kläger nach der Rückkehr nach Tschetschenien einen Neustart versuche, stattdessen habe er sofort einen Schleuser aufgesucht. Dies deute auf asylfremde Gründe hin. Der Kläger sei als „Zeuge in eigener Sache“ den Anforderungen an einen glaubhaften Sachvortrag nicht gerecht geworden. Die Schilderungen seien sehr oberflächlich. Er habe nicht überzeugend dargestellt, dass man ihm eine Straftat habe unterschieben wollen. Es sei genauso gut möglich, dass er tatsächlich straffällig geworden sei. Die Erklärung, dass man die Verurteilung auf eine Verwandtschaft zu einem Rebellen namens S1. W1. gestützt habe, überzeuge nicht, weil eine Verwandtschaft zu Rebellen auch in der Russischen Föderation für sich allein genommen nicht für einer Strafverfolgung ausreiche. Gegen eine wirkliche Furcht vor Verfolgung spreche, dass er erst sechs Jahre nach der letzten Inhaftierung geflohen sei. Ansonsten lägen glaubhafte Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger die Todesstrafe oder ein sonstiger ernsthafter Schaden drohe, nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich. Der Kläger habe zehn Jahre Schulbesuch vorzuweisen und als Taxifahrer und Gelegenheitsarbeiter gearbeitet. Auch in der Ukraine habe er sich finanzieren können. In der Russischen Föderation gebe es zudem staatliche Unterstützung. Deshalb sei davon auszugehen, dass er sich auch nach Rückkehr sein Existenzminimum sichern könne. Darüber hinaus könnten sein Vater, ein Bruder, zwei Schwestern und die Großfamilie, die sämtlich im Heimatland verblieben seien, ihn unterstützen. Die attestierten Erkrankungen der chronischen Gastritis und Schrumpfniere seien behandelbar, wobei ohnehin nicht von einer Gefahr der erheblichen Verschlechterung auszugehen sei.
8Am 11. April 2018 wurde vergeblich versucht, den Ablehnungsbescheid unter der Adresse L.----weg 00, 00000 E. , beim Kläger zuzustellen. Ausweislich der Postzustellungsurkunde (Bl. 107 der Bundesamtsakte) war der Kläger unter der angegebenen Adresse nicht zu ermitteln. Das Bundesamt unternahm in der Folge einen zweiten Zustellungsversuch und war unter derselben Adresse per Botenzustellung am 22. Mai 2018 erfolgreich (Bl. 113 der Bundesamtsakte).
9Mit Schriftsatz vom 1. Juni 2018 hat der Kläger Klage erheben lassen. Eine Klagebegründung ist nicht eingegangen.
10Der Klägervertreter hat in der mündlichen Verhandlung beantragt,
111. die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2018, Az. 0000000 - 160, zu verpflichten, ihn als Flüchtling anzuerkennen,
122. hilfsweise die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2018, Az. 0000000 - 160 zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
132. hilfsweise die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 06.04.2018, Az. 0000000 - 160 zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
14Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 11. Juni 2018 (Bl. 31 d.A.) den Antrag angekündigt,
15die Klage abzuweisen.
16Der Kläger ist zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen. Der Klägervertreter hat zu Protokoll gegeben, dass er vergeblich versucht habe, Kontakt zu seinem Mandanten aufzubauen.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt der Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Ausländerbehörde der Stadt E. ergänzend Bezug genommen.
18Entscheidungsgründe:
19Der Einzelrichter ist zuständig, nachdem ihm die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen hat (§ 76 Abs. 1 AsylG). Obwohl weder der Kläger persönlich noch ein Vertreter der Beklagten zum Termin erschienen ist, konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 5. November 2019 entschieden werden, da in der ordnungsgemäß erfolgten Ladung auf die Möglichkeit, bei Ausbleiben eines Beteiligten entscheiden zu können, ausdrücklich hingewiesen worden ist.
20Die Klage ist zulässig, allerdings sowohl mit dem Hauptantrag als auch mit den Hilfsanträgen unbegründet.
I.
21Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgemäß im Sinne des § 74 Abs. 1 AsylG erhoben worden.
221. Die Klagefrist begann erst mit der erfolgreichen zweiten Zustellung des Ablehnungsbescheids am 22. Mai 2018 zu laufen. Die Zustellungsfiktion aus § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG führte im vorliegenden Fall nicht dazu, dass die Klagefrist wegen des ersten erfolglosen Zustellversuchs am 11. April 2018 bereits zu dem Zeitpunkt zu laufen begann, als der Bescheid erstmalig zur Post gegeben wurde.
23Nach § 10 Abs. 2 AsylG muss ein Ausländer – wenn er weder einen Bevollmächtigten noch einen Empfangsberechtigten benannt hat – eine Zustellung unter der letzten Anschrift,
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die auf Grund seines Asylantrags oder (§ 10 Abs. 2 Satz 1 HS 1 Alt. 1 AsylG)
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aufgrund seiner Mitteilung bekannt ist oder (§ 10 Abs. 2 Satz 1 HS 1 Alt. 2 AsylG)
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durch eine öffentliche Stelle mitgeteilt wurde (§ 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG)
gegen sich gelten lassen, bzw. bei Unzustellbarkeit wird die Zustellung als bewirkt fingiert (§ 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG). Wurde die Zustelladresse von einer öffentlichen Stelle mitgeteilt, so muss sie im Moment der Mitteilung außerdem richtig sein.
29Zum Erfordernis der Richtigkeit der Adresse, wenn die Adresse nicht vom Asylbewerber selbst mitgeteilt wurde: OVG NRW, 12. Dezember 2018 – 11 A 1017/16.A, Rn. 10 – juris; VG Trier, 19. März 2019 – 6 K 10671/17.TR.
30a) Zwar hatte der Kläger zum Zeitpunkt der erfolglosen ersten Zustellung keinen Bevollmächtigen und keinen Empfangsberechtigten – der Klägervertreter wurde erst zur Klageerhebung mandatiert – benannt. Auch war die Adresse L.----weg 00 offenbar korrekt; denn die zweite Zustellung dort war erfolgreich.
31b) Die Adresse wurde jedoch nicht von einer öffentlichen Stelle mitgeteilt.
32Die Beklagte erhielt die Adresse L.----weg 00 laut Aktenvermerk durch Frau H. vom Ausländerverfahrenssekretariat („B. “, Bl. 62 der Bundesamtsakte). Wie Frau H. konkret an diese Daten kam, konnte die Beklagte nicht aufklären. Ein telefonischer Rückruf beim Bundesamt ergab, dass die Beklagte in derartigen Zweifelsfällen im Regelfall von sich aus einen eigenhändigen Abruf im Ausländerzentralregister (fortan: AZR) tätigt, um aktuelle Daten der Asylbewerber zu erhalten.
33aa) Ob eine Adressabfrage aus dem AZR als eine Mitteilung einer öffentlichen Stelle i.S.d. § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG aufzufassen ist, wird – soweit ersichtlich – unterschiedlich beurteilt. Während das VG Aachen die vorherige Mitteilung einer Behörde an das AZR als eine „Mitteilung einer öffentliche Stelle“ ansieht,
34VG Aachen, 20. Februar 2017 – 4 K 38/17.A – Juris, Rn. 38 ff..
35bewertet das VG Berlin die im AZR gespeicherten Adresse eines Ausländers nicht als eine i.S.d. § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG durch eine öffentliche Stelle dem Bundesamt mitgeteilte letzte bekannte Anschrift
36VG Berlin, 34 K 1401/17.A, Rn. 18 – juris; VG Berlin, 20. Oktober 2017 – 34 L 1400/17.A, Rn. 19 – juris; dem folgend Funke-Kaiser, in: Fritz/Vomeier, Gemeinschaftskommentar AsylG, Loseblattsammlung, Stand Juni 2018, § 10 AsylG, Fn. 266.1.
37Folge der Ansicht des VG Berlin ist, dass nach einer Abfrage beim AZR durch das Bundesamt eine Zustellfiktion nicht stattfinden kann. Beim VG Berlin, a.a.O., heißt es ausdrücklich:
38„Eigene Ermittlungen hatte das Bundesamt nicht anzustellen. § 10 Abs. 2 Satz 1 bis 3 AsylG entbindet das Bundesamt davon (VG Berlin, 9. Februar 2018 – 34 K 1401.17 A –, Rn. 20, juris; VG Berlin, 28. August 2017 – 32 L 652/17.A, Rn. 17 – juris).
39Das VG Leipzig sieht wie das VG Berlin keine Pflicht des Bundesamts für eine eigenständige Adressermittlung, kommt aber zum selben Ergebnis wie das VG Aachen, wenn es feststellt, dass
40das Bundesamt zu einer Aufenthaltsermittlung nicht verpflichtet [sei], sodass die bloße Speicherung einer Anschrift – wie nach dem Vortrag der Antragsteller bei der Meldebehörde – noch keine Mitteilung einer Anschrift im Sinne von § 10 Abs. 1 AsylG ist und für sich genommen auch noch keine durch eine öffentliche Stelle dem Bundesamt mitgeteilte letzte bekannte Anschrift des Ausländers im Sinne von § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG sein kann […]. Nimmt das Bundesamt eine Aufenthaltsermittlung aber gleichwohl vor, handelt es sich bei der durch die registerführende öffentliche Stelle erteilten Auskunft zum Aufenthalt freilich um die Mitteilung einer öffentliche Stelle im Sinne von § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG (VG Leipzig, 18. Dezember 2017 – 6 L 1003/16.A, Rn. 27 – juris).
41bb) Nach Prüfung der Abläufe beim AZR vermag das erkennende Gericht in der Einholung einer Adresse beim AZR keine Mitteilung einer öffentlichen Stelle im Sinne des § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG zu erkennen. In Fällen, in denen das Bundesamt auf eigene Faust Adressen von Asylbewerbern heraussucht, darf die Fiktion aus § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG nicht eingreifen.
42Das Register ist automatisiert und wird vom Bundesamt geführt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AZRG vom 2. September 1994, BGBl. I S. 2265) und vom Bundesverwaltungsamt in Auftrag und nach Weisung des Bundesamts betrieben (§ 10 Abs. 1 Satz 2 AZRG). Neben der Beklagten sind ca. 6.500 Partnerbehörden,
43Zahl nach Wikipedia-Eintrag zu „Ausländerzentralregister“, abgerufen am 10.11.2019.
44darunter u. a. alle Ausländerbehörden, die Aufnahmeeinrichtungen, die örtlichen Gesundheitsdienst, das Bundeskriminalamt, die Polizeivollzugsbehörden, die Staatsanwaltschaften, die Bundesagentur für Arbeit etc. Daten zur Übermittlung von Daten verpflichtet (§ 6 AZRG) und zum automatisierten Zugriff auf die dortigen Daten berechtigt (§ 22 AZRG). Alle Stellen mit automatisiertem Zugriff dürfen im Register zudem „im Wege der Direkteingabe“ gem. § 7 AZRG Veränderungen mit unmittelbarer Wirkung für dessen Datenbestand vornehmen. So legen in der Regel die Ausländerbehörden im Fall der erstmaligen Meldung als Asylbewerber die neuen Datensätze selbst an, bei Umzügen in den Zuständigkeitsbereich anderer Ausländerbehörden („Zuzug“) speichern sie die neue Adresse zum Datensatz dazu. Auch Änderungen des Familienstands werden von den Ausländerbehörden selbständig über den Zugang zum AZR eingepflegt („draufgespeichert“). Der Zugang erfolgt durch eine Bearbeiterkennung auf der digitalen AZR-Oberfläche, die allen berechtigten Behörden zur Verfügung steht.
45Das beschriebene Verfahren offenbart, dass eine Abfrage der Klägeradresse auf eigene Initiative des Bundesamts nicht als Mitteilung einer öffentlichen Stelle qualifiziert werden kann. Das ergibt sich schon aus der Wortlaut-Auslegung. Eine „Mitteilung“ erfordert die aktive Entäußerung einer Information von einem Erklärenden in Richtung an einen Empfänger. Die Ausführung einer Online-Registerabfrage und die Übernahme der neuen Adresse in die Asylverfahrensakte stellt aber keine aktive Handlung einer anderen öffentlichen Stelle gegenüber dem Bundesamt dar, sondern ist eine Handlung der Beklagten selbst. Welche Stelle auch immer die postalische Anschrift in das AZR eingepflegt hat, bleibt passiv und bekommt von der Abfrage nicht einmal etwas mit.
46Das AZR stellt auch keine öffentliche Stelle i.S.d. § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG dar. Denn das Bundesamt ist selbst die registerführende Stelle (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AZRG) und zeichnet somit für dessen Inhalt verantwortlich. Mit dem Begriff der öffentlichen Stelle kann auch nach teleologischer und systematischer Betrachtung allein eine andere öffentliche Stelle als das im AsylG ansonsten adressierte Bundesamt gemeint sein. Andernfalls würde jede interne Weitergabe einer Adresse innerhalb des Bundesamts die Voraussetzungen von § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG erfüllen und die anderen Fallgruppen aus § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG wären faktisch obsolet, da eine interne Weitergabe von Informationen wohl immer stattfinden dürfte.
47Soweit darauf abgestellt wird, dass das Bundesverwaltungsamt das AZR „betreibe“ und somit eine andere öffentliche Stelle sein könne, so kann selbst das nicht dazu führen, dass die somit aus dem AZR erlangte Adresse die Richtigkeitsgewähr aus § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG erwirbt. Denn die tatsächliche Richtigkeit des AZR liegt gerade nicht in der Verantwortung einer einzelnen Stelle. Vielmehr stellt es eine Informationsquelle dar, die – ähnlich Wikipedia – quasi eine Open-Source-Datenbank darstellt, in welche von verschiedenen Seiten bei entsprechender Authentifizierung Ergänzungen, Änderungen oder Neuerungen eingepflegt werden kann. Das Ausmaß an Verlässlichkeit, das von § 10 Abs. 2 AsylG gefordert ist und auch gefordert werden muss, um die scharfen Rechtsfolgen des § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG zu rechtfertigen, wird bei einer solchen Quelle mit vielerlei Autoren nicht erreicht. Angesichts der Tatsache, dass die Zustellungsfiktion aus § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG eine Besonderheit und Ausnahme im Gegensatz zu sonstigen Zustellungsregelungen darstellt, ist ein restriktives Verständnis zudem geboten.
48c) Die Klage wurde erst am 22. Mai 2018 durch Übergabe des Boten (vgl. Bl. 122 der Bundesamtsakte) zugestellt. Die am 1. Juni 2018 eingereichte Klage hielt die zweiwöchige Klagefrist aus § 74 Abs. 1 AsylG ein.
II.
49Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen der klageweise geltend gemachten Ansprüche. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO.
501. Der Kläger ist kein Flüchtling i.S.d. § 3 AsylG.
51a) Nach § 3 Abs. 1 AsylG erfüllt ein Ausländer die Flüchtlingseigenschaft, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sein Herkunftsland verlässt. Die Flüchtlingseigenschaft wird jedoch nicht zuerkannt, wenn in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung besteht und der Ausländer sicher dorthin reisen kann und die Aufenthaltsnahme dort zumutbar ist (interner Schutz, § 3e AsylG). Es obliegt dem Schutzsuchenden im Asylverfahren, die Furcht vor Verfolgung schlüssig und nachprüfbar darzulegen und unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt glaubhaft zu schildern. Dafür ist erforderlich, dass der Schutzsuchende die behaupteten erlittenen Erlebnisse und sein individuelles Schicksal in einer Art und Weise widergibt, die – bei unterstellter Richtigkeit – geeignet ist, den begehrten Asylanspruch lückenlos zu tragen. Es obliegt der richterlichen Rechtsfindung und der freien Beweiswürdigung, die Glaubhaftigkeit des vom Schutzsuchenden geschilderten Sachverhalts unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsstruktur, des Wissenstandes und der Herkunft zu beurteilen und die volle richterliche Überzeugung zu erlangen.
52Vgl. BVerwG, 21. Juli 1989 – 9 B 239/89; BVerwG, 16. April 1985 – 9 C 109/84; OVG Rheinland-Pfalz, 16. Dezember 2016 – 1 A 10922/16, Rn. 35 – juris; VG Dresden, 3. April 2018 – 7 K 3054/16.A; VG Düsseldorf, 18. Oktober 2017 – 10 K 5685/16.A – nv.
53Ob eine Verfolgung droht, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat. Nur wer vorverfolgt ausgereist ist, kann sich beim Asylantrag auf eine Vermutung für eine fortgesetzte Verfolgung bei Rückkehr berufen.
54Zur Beweiserleichterung bei Vorverfolgung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2001/95/EU: BVerwG, 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 – juris, Rn. 17.
55Die Bestimmung der Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis, die bereits vorverfolgt wurden, nur durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung ursprünglich entwickelt worden war. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaß bleibt bei einer etwaigen Vorverfolgung oder bei einem bereits erlittenen, ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU unverändert. Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt, beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten wiederholen. Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden – auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden.
56OVG Bremen, 10. Juli 2012 – 2 A 483/09.A – juris, Rn. 38.
57b) Im streitgegenständlichen Verfahren ist der Kläger nicht vorverfolgt ausgereist. Zwischen der letzten Verfolgungshandlung (2008) und der Ausreise (Oktober 2014) liegen sechs Jahre, in denen der Kläger von möglichen Verfolgungsakteuren i.S.d. § 3c AsylG unbehelligt blieb. Zwar will er sich im ukrainischen Ausland aufgehalten haben, so dass es den Verfolgern schwerer gefallen sein dürfte, ihn zu finden. Gleichwohl kann ein jahrelanger Auslandsaufenthalt nicht dazu führen, dass der Status der Vorverfolgung perpetuiert wird. Bei einer Zeitspanne von sechs Jahren ohne eine einzige beeinträchtigende Maßnahme durch den Verfolger ist eine Vorverfolgung zu verneinen.
58Es ist auch nicht nachvollziehbar, warum der Kläger die sichere Ukraine verließ. Der Kläger begründete die Ausreise von dort im Oktober 2014 damit, dass in der Stadt Sake das ukrainische Militär nicht gut auf Tschetschenen zu sprechen sei (S. 4 der Anhörungsniederschrift). Sollte mit „Stadt Sake“ die Stadt Saky auf der Krim gemeint sein, so passt das Argument des Klägers nicht. Denn seit März 2014 und somit vor der Rückreise des Klägers hatte das russische Militär die Krim annektiert, so dass in Saky kein ukrainisches Militär mehr zu finden gewesen sein dürfte. In der Stadt Saky wohnen 65% Russen,
59Wikipedia-Eintrag zu Saky, am 14. November 2019 abgerufen unter https://de.wikipedia.org/wiki/Saky
60so dass eine Diskriminierung von Russen oder Tschetschenen durch Ukrainer nicht plausibel ist.
61c) Darüber hinaus führt die Möglichkeit zu internem Schutz in der Russischen Föderation, dem flächengrößten Staat der Erde, zum Ausschluss des Anspruchs auf Flüchtlingsschutzes, § 3e AsylG. Selbst bei unterstellter Verfolgung in Tschetschenien ist dem Kläger zumutbar, in anderen Republiken der Russischen Föderation, dem flächengrößten Landes der Erde, eine Existenz aufzubauen. Nach der Erkenntnislage des Gerichts besteht keine erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger dort verfolgt würde.
62Im Übrigen nimmt das Gericht die Begründung des Ablehnungsbescheids des Bundesamtes in Bezug und verzichtet auf einer erneuten Darstellung, § 77 Abs. 2 AsylG.
632. Auch im Hinblick auf subsidiärem Schutz wird auf die Begründung aus dem Ablehnungsbescheid, dem sich das Gericht insofern ausdrücklich anschließt, verwiesen, § 77 Abs. 2 AsylG. Hierbei ist zu erwähnen, dass ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 AsylG nur dann vermutet werden kann, wenn bereits vor Ausreise eine solche Schädigung drohte. Davon kann angesichts des Ablaufs von sechs schadlosen Jahren vor Ausreise nicht ausgegangen werden.
643. Da in der Russischen Föderation keine derart schlechten humanitären Bedingungen bestehen, die in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen können,
65vgl. BayVGH, 3. Januar 2018 – 11 ZB 17.31950, Rn. 6 – juris; OVG Bremen, 10. Juli 2012 – 2 A 483/09.A, Rn. 64 – juris.
66und im Vortrag des Klägers keine konkreten Anhaltspunkte ersichtlich sind, dass für ihn landesweit eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, scheitert der Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus' und der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG.
III.
67Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.
68Wegen des Gegenstandswertes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf § 30 Abs. 1 RVG verwiesen.
69Rechtsmittelbelehrung:
70Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung die Zulassung der Berufung beantragt werden. Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster.
71Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
721. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
732. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
743. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
75Der Antrag ist schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
76Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingereicht werden.
77In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
78Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –).
79Die Antragsschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
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