Urteil vom Verwaltungsgericht Freiburg - A 10 K 8179/17

Tenor

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. September 2017 (Az. ...) wird - mit Ausnahme der Ziffer 2 - aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der Kläger ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger vom Volke der Hazara mit schiitisch-islamischer Religionszugehörigkeit und reiste gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin im November 2015 in die Bundesrepublik ein. In Deutschland brachte die Lebensgefährtin des Klägers ein gemeinsames Kind zur Welt, das kurz nach der Geburt verstarb. Am 31. Mai 2017 brachte die Lebensgefährtin des Klägers ein weiteres gemeinsames Kind, ..., zur Welt. Am 22. Juni 2017 hat der Kläger die Vaterschaft anerkannt. Am 11. Dezember 2017 haben der Kläger und seine Lebensgefährtin eine Sorgerechtserklärung nach § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB abgegeben.
Bereits am 17. Juli 2017 stellte der Kläger - gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und seinem Sohn ... - beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
Das Bundesamt hörte den Kläger am 7. August 2017 an. Der Kläger gab dabei im Wesentlichen an: Seine jetzige Frau - gemeint ist seine Lebensgefährtin - sei ein Jahr lang seine Freundin gewesen. Sie seien sich danach nähergekommen und seine Freundin sei schwanger geworden. Eines Tages habe er einen Anruf von der Mutter seiner jetzigen Frau bekommen. Diese habe ihm gesagt, dass seine Frau schwanger sei und der Vater und die Brüder seiner Frau davon wüssten und auf dem Weg zu ihm seien. Er solle schnell zu ihr kommen. Sollte der Vater nach Hause kommen, werde er die Lebensgefährtin des Klägers töten. Er sei davon ausgegangen, dass der Vater auch ihn töten wolle. Er sei mit dem Taxi zu seiner Frau gefahren. Er habe dort gesehen, dass diese geblutet habe. Die Mutter habe schließlich gesagt, er und seine Frau sollten so schnell wie möglich verschwinden. Er sei mit seiner Frau dann zum Busbahnhof im ... Stadtteil ... und von dort weiter nach ... gefahren. Er habe von dort aus seinen Arbeitgeber angerufen und um Hilfe gebeten. Sie seien dann mithilfe eines Schleppers aus Afghanistan ausgereist.
Mit Bescheid vom 11. September 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab (Ziff. 1 und 2 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes ab (Ziff. 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 4 des Bescheids). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. im Falle einer Klageerhebung nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, andernfalls wurde die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat an, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei angedroht (Ziff. 5 des Bescheids). Zudem wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 6 des Bescheids).
Mit Bescheid vom 13. Oktober 2017 erkannte das Bundesamt der Lebensgefährtin des Klägers und dem gemeinsamen Sohn ... die Flüchtlingseigenschaft zu.
Der Kläger hat am 21. September 2017 Klage erhoben. Er nimmt Bezug auf seine Angaben beim Bundesamt. Ergänzend führt er aus: Er habe Anspruch auf Familienasyl. Seinem Sohn sei wegen gegen diesen gerichteter Verfolgung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Nach dem Sinn und Zweck des § 26 Abs. 3 AsylG sei es daher vorliegend geboten, ihm Familienasyl zu gewähren. Darauf, dass sein Sohn erst in der Bundesrepublik zur Welt gekommen ist, komme es nicht an. Jedenfalls aber drohe ihm, dem Kläger, selbst Verfolgung, weil ihm ein Verstoß gegen religiöse und soziale Normen vorgeworfen werde, weil er eine uneheliche Beziehung geführt habe und Vater eines unehelichen Kindes sei.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. September 2017 hinsichtlich der Ziffern 1 und 3-6 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
10 
hilfsweise,
11 
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. September 2017 hinsichtlich der Ziffern 3-6 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
12 
weiter hilfsweise,
13 
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. September 2017 hinsichtlich der Ziffern 4-6 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt.
14 
Die Beklagte beantragt,
15 
die Klage abzuweisen.
16 
Sie nimmt Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
17 
Nach den Angaben des Klägers hat seine Lebensgefährtin 2020 ein weiteres gemeinsames Kind zur Welt gebracht.
18 
Dem Berichterstatter liegt die einschlägige Akte des Bundesamtes bezüglich des Klägers (Az.: 7140655 - 423) sowie bezüglich der Lebensgefährtin des Klägers und deren gemeinsamen Sohnes ... (Az.: 7140655 - 1-423) vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt dieser Akten sowie die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
I.
19 
Die Entscheidung ergeht nach § 87a Abs. 2, Abs. 3 VwGO durch den Berichterstatter. Dieser konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte nicht erschienen war, denn auf diese Möglichkeit ist in der Ladung hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
II.
20 
Die zulässige Klage ist begründet.
21 
1. Soweit das Bundesamt den Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt hat (Ziff. 2 des Bescheids), hat der Kläger dies nicht angegriffen. Ziff. 2 des Bescheids ist somit nicht Streitgegenstand des Verfahrens.
22 
2. Der Kläger hat in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Soweit das Bundesamt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt hat (Ziff. 1 des Bescheids), ist der Bescheid daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
23 
Nach § 26 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 AsylG ist den Eltern eines minderjährigen ledigen Kindes, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, auf Antrag die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn die Anerkennung unanfechtbar ist, die Familie i.S.d. Art. 2 Buchstabe j RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestand, in dem der als Flüchtling Anerkannte verfolgt wird, die Eltern vor der Anerkennung des Ausländers eingereist sind oder den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben und die Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.
24 
Diese Voraussetzungen sind im Streitfall im Hinblick auf den Kläger gegeben. Dem minderjährigen, unverheirateten Sohn des Klägers, ..., ist unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Der Kläger hat seinen Asylantrag vor der Anerkennung seines Sohnes gestellt. Auch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Anerkennung des Sohnes des Klägers zu widerrufen oder zurückzunehmen wäre. Schließlich hat die Familie auch schon i.S.d. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG im Herkunftsstaat bestanden. Dem stehet weder entgegen, dass der Sohn des Klägers erst in der Bundesrepublik geboren worden ist, noch, dass der Kläger nicht bereits in Afghanistan mit der Mutter seines Sohnes in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat.
25 
a) § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG verlangt nicht zwingend, dass der Stammberechtigte bereits im Herkunftsstaat geboren wurde (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 9. Oktober 2018 - A 1 K 3294/18 -, juris, Rn. 17 ff.; VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Mai 2017 - A 3 K 3301/16 -, juris, Rn. 25 f.; VG Stuttgart, Urteil vom 11. März 2019 - A 17 K 9210/17 -, juris, S. 5; VG Dresden, Urteil vom 26. Juli 2019 - 11 K 3416/17.A -, juris, Rn. 22 ff.; Schröder, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 26 AsylG, Rn. 28; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition [Stand März 2020], § 26 AsylG, Rn. 23b; Broscheidt, ZAR 2019, 174 <176 ff.>; a.A. Bayerischer VGH, Urteil vom 5. September 2019 - 21 B 16. 31043 -, juris, Rn. 27; VG Würzburg, Urteil vom 29. August 2017 - W 4 K 17.31679 -, juris, Rn. 15 f.; Epple, in: GK-AsylG, § 26 AsylG [124. EL Dezember 2019], Rn. 63).
26 
aa) Der Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG, der verlangt, dass „die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird“, nötigt nicht zur Annahme, der Stammberechtigte müsse zwingend schon im Herkunftsstaat geboren sein. Denn mit dem Begriff der „Familie“ kann auch lediglich die „Restfamilie“, d.h. - wie hier - insbesondere die Eltern des sodann in der Bundesrepublik Deutschland geborenen minderjährigen Kindes, welches im vorliegenden Fall stammberechtigt ist, gemeint sein (vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Mai 2017 - A 3 K 3301/16 -, juris, Rn. 25; VG Freiburg, Urteil vom 9. Oktober 2018 - A 1 K 3294/17 -, juris, Rn. 18; a.A. Epple, in: GK-AsylG, § 26 AsylG [124. EL Dezember 2019], Rn. 63). Dies bestätigt auch ein Vergleich mit § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG. Denn während nach dieser Norm die Ehe oder Lebenspartnerschaft schon im Herkunftsstaat bestanden haben muss, verlangt § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG lediglich das Bestehen der „Familie“, nicht aber etwa der „Elternschaft“ (vgl. Schröder, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 26 AsylG, Rn. 28; Broscheidt, ZAR 2019, 174 <176>). Entscheidend ist demnach, dass der Stammberechtigte in eine bereits im Herkunftsstaat existente (Kern-)Familie hineingeboren wird (vgl. Broscheidt, ZAR 2019, 174 <178>).
27 
bb) Auch Sinn und Zweck des Gesetzes sprechen dagegen anzunehmen, der Stammberechtigte müsse bereits im Herkunftsstaat geboren sein. Zweck des Familienasyls ist es zum einen, das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte zu entlasten, zum anderen soll die Integration naher Familienangehöriger gefördert werden (vgl. BT-Drs. 11/690, S. 29 f.; BT-Drs. 17/13063, S. 21; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition [Stand Juli 2020], § 26 AsylG, Rn. 2; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 26 AsylG, Rn. 2). Die Wahrung des Familienverbandes ist auch Zweck von Art. 23 RL 2011/95/EU, der mit § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG umgesetzt wird (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 21).
28 
Diese Interessenlage kann - wie der vorliegende Fall zeigt - auch dann vorliegen, wenn der Stammberechtigte im Bundesgebiet geboren wird. So liegt beim Kläger eine vergleichbare Bedrohungslage (vgl. zu diesem Aspekt: BT-Drs. 17/13063, S. 21) wie beim Stammberechtigten vor. Das Bundesamt hat im Vermerk zur Anerkennung der Lebensgefährtin des Klägers und dessen Sohn, ..., unter anderem ausgeführt:
29 
„Die Antragsteller haben vor der Ausreise eine uneheliche Beziehung gehabt und haben ein Kind gezeugt, was nach der afghanischen Tradition als ein verbotenes Kind gilt. Zudem sollte die Antragstellerin zwangsverheiratet werden, wenn sie nicht ausgereist wäre. Eine uneheliche Beziehung wird in ganz Afghanistan, als eine Verschmutzung der Ehre angesehen. Deshalb wird dies mit der Steinigung bestraft.“
30 
Der Kläger war Teil der unehelichen Beziehung und ist der Vater des als „verboten“ angesehenen Kindes. Er weist damit eine erhebliche Nähe zum Verfolgungsgeschehen auf.
31 
Auch der Aspekt der Familieneinheit ist vorliegend in gleicher Weise berührt, wie wenn der Sohn des Klägers in Afghanistan geboren worden wäre. Der Berichterstatter hat keine Zweifel daran, dass die Angabe des Klägers, seine Lebensgefährtin habe 2020 eine gemeinsame Tochter zur Welt gebracht, der Wahrheit entspricht. Auch steht für den Berichterstatter außer Frage, dass der Kläger gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin sowie den beiden Kindern in häuslicher Gemeinschaft lebt. Das Interesse des Stammberechtigten am Erhalt der Familieneinheit ist damit nicht weniger schutzwürdig, als wenn er bereits in Afghanistan zur Welt gekommen wäre.
32 
Unabhängig von der Frage, ob sich die Annahme, in der gezielten Zeugung eines Kindes könne ein Missbrauch des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG liegen (so VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juni 2019 - A 10 K 9441/17 -, juris, Rn. 32) nicht ohnehin verbietet, kann vorliegend keine Rede davon sein, dass der Kläger aus asyltaktischen Gründen Vater geworden wäre. Dies belegt bereits die erste - zur Flucht führende - Schwangerschaft der Lebensgefährtin des Klägers.
33 
b) Eine Familie kann auch schon i.S.d. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG im Herkunftsstaat bestanden haben, wenn die Eltern eines in der Bundesrepublik geboren Kindes im Herkunftsstaat nicht verheiratet waren und in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt, jedoch bereits eine Beziehung geführt haben, die aufgrund flüchtlingsrelevanter Umstände im Geheimen stattfinden musste.
34 
§ 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG verlangt, dass die Familie schon im Herkunftsstaat bestanden hat. Davon kann nicht die Rede sein, wenn die Familie erst in Deutschland entstanden ist (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 2. April 2019 - 23 ZB 17.31944 -, juris, Rn. 7). Allerdings ist eine bestehende Ehe nicht zwingende Voraussetzung (a.A. Bayerischer VGH, Urteil vom 5. September 2019 - 21 B 16.31043 -, juris, Rn. 27; VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juni 2019 - A 10 K 9441/17 -, juris, Rn. 30; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition [Stand Juli 2020], § 26 AsylG, Rn. 23b). Zwar wird man regelmäßig (nur) von einer im Herkunftsstaat bestehenden „(Kern-)Familie ausgehen können, wenn die Eltern des in der Bundesrepublik geborenen Stammberechtigten bereits im Herkunftsstaat zumindest in eheähnlicher Gemeinschaft zusammengelebt habe. An einer solchen eheähnlichen Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Lebensgefährtin fehlt es vorliegend allerdings nur deshalb, weil die Lebensgefährtin des Klägers mit einem anderen Mann zwangsverheiratet werden sollte und für die beiden somit aus flüchtlingsrelevanten Gründen keine Möglichkeit bestand, eine eheähnliche Lebensgemeinschaft zu führen. Im Rahmen der ihnen verbleibenden Möglichkeiten haben der Kläger und seine Lebensgefährtin ihre Beziehung gepflegt. Auch die Tatsache, dass beide gemeinsam geflohen sind, nachdem die erste Schwangerschaft der Lebensgefährtin offenbar wurde, belegt, dass es sich keinesfalls um eine bloß lockere Beziehung gehandelt hat. Stehen aber lediglich flüchtlingsrelevante vom Willen der Betroffenen unabhängige Gründe der Führung einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft entgegen, steht dies der Annahme einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden (Rest-)Familie nicht entgegen. Insoweit ist abermals auf die gesetzgeberischen Zwecke des Familienasyls zu verweisen. Auch in einer solchen Situation besteht - wenn später ein Stammberechtigter im Bundesgebiet zu Welt kommt - eine besondere Nähe zur Gefährdungssituation und ein schutzwürdiger Familienverband. Auch asyltaktische Motive sind in einer solchen Konstellation ausgeschlossen.
35 
c) Selbständig tragend stützt der Berichterstatter die Entscheidung auch auf folgende Erwägungen: Nimmt man entgegen der hier vertretenen Auffassung an, dass der Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG voraussetzt, dass der Stammberechtigte im Herkunftsstaat geboren sein muss oder dass eine „(Rest-)Familie“ nur im Herkunftsstaat bestanden hat, wenn die Eltern verheiratet sind oder zumindest in häuslicher Gemeinschaft gelebt habe, so wären der Wortlaut insoweit zu weit und teleologisch zu reduzieren.
36 
aa) Das Wesen der teleologischen Reduktion besteht - als Gegenstück zur Analogie - darin, dass sie die auszulegende Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle für unanwendbar hält, weil Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen. Bei einer derart planwidrigen Gesetzeslücke ist eine zu weit gefasste Regelung im Wege teleologischer Reduktion auf den ihr nach Sinn und Zweck zugedachten Anwendungsbereich zurückzuführen (vgl. BVerwGE 164, 179 <188 Rn. 18>).
37 
bb) Ausgehend hiervon ist der Wortlaut „wenn [...] die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird“ - unterstellt, er erfasst die vorliegende Konstellation nicht - zu weit. Denn er schlösse Fälle aus, bei denen eine identische Interessenlage vorliegt. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass dies keine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers war, sondern insoweit eine planwidrige Regelungslücke vorliegt. Wie ausgeführt, liegt in der vorliegenden Konstellation ebenso wie wenn der Stammberechtigte bereits in Afghanistan geboren worden wäre und der Kläger bereits in Afghanistan mit seiner Lebensgefährtin in einer - der Repression unterliegenden - häuslichen bzw. ehelichen Gemeinschaft gelebt hätte, eine Gefährdungsnähe und ein schutzwürdiges Interesse des Stammberechtigten am Verbleib des Klägers im Bundesgebiet vor. Dem steht nicht entgegen, dass der Lebensgefährtin des Klägers und dem gemeinsamen Sohn (auch) deshalb die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, weil zwischen dem Kläger und dessen Lebensgefährtin eine uneheliche Beziehung bestand. Für die Frage, ob die Interessenlage vergleichbar ist, kommt es auf die tatsächlich bestehende Gefährdung an, nicht ob sich diese hypothetisch anders darstellen würde, wenn der Kläger seine Lebensgefährtin hätte heiraten können. Denn das Bestehen einer Ehe kann im Kontext des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG nur dazu dienen, sicherzustellen, dass eine auf Dauer angelegte schutzwürdige Bindung besteht. Dagegen ist es nicht Sinn und Zweck Fälle auszuschließen, in denen eine Ehe aus flüchtlingsrelevanten Umständen nicht eingegangen werden kann (vgl. für den Fall einer aus flüchtlingsrelevanten Gründen nicht möglichen Eingehung einer Lebenspartnerschaft bzw. gleichgeschlechtlichen Ehe im Rahmen des § 26 Abs. 1 AsylG: Epple, in: GK-AsylG, § 26 AsylG [124. EL Dezember 2019], Rn. 44).
38 
Auch kann von einem asyltaktischen Vorgehen des Klägers keine Rede sein. Es gibt ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber, hätte er diese Situation gesehen, diese nicht gleich behandeln hätte wollen.
39 
3. Ist die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, sind auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Ziff. 5 des angefochtenen Bescheids) rechtswidrig (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG). Auch die Voraussetzungen für die Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Ziff. 6 des angefochtenen Bescheids) liegen insoweit nicht vor. Der Bescheid ist insoweit aufzuheben (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
40 
Aufzuheben ist außerdem die unter Ziff. 4 des Bescheids verfügte negative Feststellung zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Denn von einer Feststellung dieser Art kann nach § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG im Fall der Gewährung internationalen Schutzes abgesehen werden. Das der Beklagten insoweit mit ihrer Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eingeräumte Ermessen hat sie indessen hier nicht ausgeübt, jedenfalls aber entspricht es regelmäßig ordnungsgemäßer Ermessensausübung, wenn das Bundesamt hier von einer Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG absieht (vgl. Heusch, in: BeckOK AuslR, 26. Edition [Stand Juli 2020], § 31 AsylG, Rn. 23). Der Bescheid ist insoweit ermessensfehlerhaft und daher aufzuheben (vgl. §§ 113 Abs. 1 Satz 1, 114 VwGO).
41 
Die Feststellung zur Nichtzuerkennung des subsidiären Schutzes ist ebenfalls rechtswidrig. Über den subsidiären Schutz ist nur bei Nichtzuerkennung der für den Ausländer günstigeren Flüchtlingseigenschaft zu befinden (vgl. Heusch, in: BeckOK AuslR, 26. Edition [Stand Juli 2020], § 31 AsylG, Rn. 12). Auch insoweit war der Bescheid aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
42 
4. Einer Entscheidung über die Hilfsanträge bedarf es angesichts des Erfolgs des Hauptantrages nicht.
III.
43 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

Gründe

 
I.
19 
Die Entscheidung ergeht nach § 87a Abs. 2, Abs. 3 VwGO durch den Berichterstatter. Dieser konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte nicht erschienen war, denn auf diese Möglichkeit ist in der Ladung hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
II.
20 
Die zulässige Klage ist begründet.
21 
1. Soweit das Bundesamt den Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt hat (Ziff. 2 des Bescheids), hat der Kläger dies nicht angegriffen. Ziff. 2 des Bescheids ist somit nicht Streitgegenstand des Verfahrens.
22 
2. Der Kläger hat in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Soweit das Bundesamt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt hat (Ziff. 1 des Bescheids), ist der Bescheid daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
23 
Nach § 26 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 AsylG ist den Eltern eines minderjährigen ledigen Kindes, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, auf Antrag die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn die Anerkennung unanfechtbar ist, die Familie i.S.d. Art. 2 Buchstabe j RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestand, in dem der als Flüchtling Anerkannte verfolgt wird, die Eltern vor der Anerkennung des Ausländers eingereist sind oder den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben und die Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.
24 
Diese Voraussetzungen sind im Streitfall im Hinblick auf den Kläger gegeben. Dem minderjährigen, unverheirateten Sohn des Klägers, ..., ist unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Der Kläger hat seinen Asylantrag vor der Anerkennung seines Sohnes gestellt. Auch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Anerkennung des Sohnes des Klägers zu widerrufen oder zurückzunehmen wäre. Schließlich hat die Familie auch schon i.S.d. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG im Herkunftsstaat bestanden. Dem stehet weder entgegen, dass der Sohn des Klägers erst in der Bundesrepublik geboren worden ist, noch, dass der Kläger nicht bereits in Afghanistan mit der Mutter seines Sohnes in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat.
25 
a) § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG verlangt nicht zwingend, dass der Stammberechtigte bereits im Herkunftsstaat geboren wurde (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 9. Oktober 2018 - A 1 K 3294/18 -, juris, Rn. 17 ff.; VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Mai 2017 - A 3 K 3301/16 -, juris, Rn. 25 f.; VG Stuttgart, Urteil vom 11. März 2019 - A 17 K 9210/17 -, juris, S. 5; VG Dresden, Urteil vom 26. Juli 2019 - 11 K 3416/17.A -, juris, Rn. 22 ff.; Schröder, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 26 AsylG, Rn. 28; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition [Stand März 2020], § 26 AsylG, Rn. 23b; Broscheidt, ZAR 2019, 174 <176 ff.>; a.A. Bayerischer VGH, Urteil vom 5. September 2019 - 21 B 16. 31043 -, juris, Rn. 27; VG Würzburg, Urteil vom 29. August 2017 - W 4 K 17.31679 -, juris, Rn. 15 f.; Epple, in: GK-AsylG, § 26 AsylG [124. EL Dezember 2019], Rn. 63).
26 
aa) Der Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG, der verlangt, dass „die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird“, nötigt nicht zur Annahme, der Stammberechtigte müsse zwingend schon im Herkunftsstaat geboren sein. Denn mit dem Begriff der „Familie“ kann auch lediglich die „Restfamilie“, d.h. - wie hier - insbesondere die Eltern des sodann in der Bundesrepublik Deutschland geborenen minderjährigen Kindes, welches im vorliegenden Fall stammberechtigt ist, gemeint sein (vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Mai 2017 - A 3 K 3301/16 -, juris, Rn. 25; VG Freiburg, Urteil vom 9. Oktober 2018 - A 1 K 3294/17 -, juris, Rn. 18; a.A. Epple, in: GK-AsylG, § 26 AsylG [124. EL Dezember 2019], Rn. 63). Dies bestätigt auch ein Vergleich mit § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG. Denn während nach dieser Norm die Ehe oder Lebenspartnerschaft schon im Herkunftsstaat bestanden haben muss, verlangt § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG lediglich das Bestehen der „Familie“, nicht aber etwa der „Elternschaft“ (vgl. Schröder, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 26 AsylG, Rn. 28; Broscheidt, ZAR 2019, 174 <176>). Entscheidend ist demnach, dass der Stammberechtigte in eine bereits im Herkunftsstaat existente (Kern-)Familie hineingeboren wird (vgl. Broscheidt, ZAR 2019, 174 <178>).
27 
bb) Auch Sinn und Zweck des Gesetzes sprechen dagegen anzunehmen, der Stammberechtigte müsse bereits im Herkunftsstaat geboren sein. Zweck des Familienasyls ist es zum einen, das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte zu entlasten, zum anderen soll die Integration naher Familienangehöriger gefördert werden (vgl. BT-Drs. 11/690, S. 29 f.; BT-Drs. 17/13063, S. 21; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition [Stand Juli 2020], § 26 AsylG, Rn. 2; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 26 AsylG, Rn. 2). Die Wahrung des Familienverbandes ist auch Zweck von Art. 23 RL 2011/95/EU, der mit § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG umgesetzt wird (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 21).
28 
Diese Interessenlage kann - wie der vorliegende Fall zeigt - auch dann vorliegen, wenn der Stammberechtigte im Bundesgebiet geboren wird. So liegt beim Kläger eine vergleichbare Bedrohungslage (vgl. zu diesem Aspekt: BT-Drs. 17/13063, S. 21) wie beim Stammberechtigten vor. Das Bundesamt hat im Vermerk zur Anerkennung der Lebensgefährtin des Klägers und dessen Sohn, ..., unter anderem ausgeführt:
29 
„Die Antragsteller haben vor der Ausreise eine uneheliche Beziehung gehabt und haben ein Kind gezeugt, was nach der afghanischen Tradition als ein verbotenes Kind gilt. Zudem sollte die Antragstellerin zwangsverheiratet werden, wenn sie nicht ausgereist wäre. Eine uneheliche Beziehung wird in ganz Afghanistan, als eine Verschmutzung der Ehre angesehen. Deshalb wird dies mit der Steinigung bestraft.“
30 
Der Kläger war Teil der unehelichen Beziehung und ist der Vater des als „verboten“ angesehenen Kindes. Er weist damit eine erhebliche Nähe zum Verfolgungsgeschehen auf.
31 
Auch der Aspekt der Familieneinheit ist vorliegend in gleicher Weise berührt, wie wenn der Sohn des Klägers in Afghanistan geboren worden wäre. Der Berichterstatter hat keine Zweifel daran, dass die Angabe des Klägers, seine Lebensgefährtin habe 2020 eine gemeinsame Tochter zur Welt gebracht, der Wahrheit entspricht. Auch steht für den Berichterstatter außer Frage, dass der Kläger gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin sowie den beiden Kindern in häuslicher Gemeinschaft lebt. Das Interesse des Stammberechtigten am Erhalt der Familieneinheit ist damit nicht weniger schutzwürdig, als wenn er bereits in Afghanistan zur Welt gekommen wäre.
32 
Unabhängig von der Frage, ob sich die Annahme, in der gezielten Zeugung eines Kindes könne ein Missbrauch des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG liegen (so VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juni 2019 - A 10 K 9441/17 -, juris, Rn. 32) nicht ohnehin verbietet, kann vorliegend keine Rede davon sein, dass der Kläger aus asyltaktischen Gründen Vater geworden wäre. Dies belegt bereits die erste - zur Flucht führende - Schwangerschaft der Lebensgefährtin des Klägers.
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b) Eine Familie kann auch schon i.S.d. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG im Herkunftsstaat bestanden haben, wenn die Eltern eines in der Bundesrepublik geboren Kindes im Herkunftsstaat nicht verheiratet waren und in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt, jedoch bereits eine Beziehung geführt haben, die aufgrund flüchtlingsrelevanter Umstände im Geheimen stattfinden musste.
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§ 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG verlangt, dass die Familie schon im Herkunftsstaat bestanden hat. Davon kann nicht die Rede sein, wenn die Familie erst in Deutschland entstanden ist (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 2. April 2019 - 23 ZB 17.31944 -, juris, Rn. 7). Allerdings ist eine bestehende Ehe nicht zwingende Voraussetzung (a.A. Bayerischer VGH, Urteil vom 5. September 2019 - 21 B 16.31043 -, juris, Rn. 27; VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juni 2019 - A 10 K 9441/17 -, juris, Rn. 30; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition [Stand Juli 2020], § 26 AsylG, Rn. 23b). Zwar wird man regelmäßig (nur) von einer im Herkunftsstaat bestehenden „(Kern-)Familie ausgehen können, wenn die Eltern des in der Bundesrepublik geborenen Stammberechtigten bereits im Herkunftsstaat zumindest in eheähnlicher Gemeinschaft zusammengelebt habe. An einer solchen eheähnlichen Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Lebensgefährtin fehlt es vorliegend allerdings nur deshalb, weil die Lebensgefährtin des Klägers mit einem anderen Mann zwangsverheiratet werden sollte und für die beiden somit aus flüchtlingsrelevanten Gründen keine Möglichkeit bestand, eine eheähnliche Lebensgemeinschaft zu führen. Im Rahmen der ihnen verbleibenden Möglichkeiten haben der Kläger und seine Lebensgefährtin ihre Beziehung gepflegt. Auch die Tatsache, dass beide gemeinsam geflohen sind, nachdem die erste Schwangerschaft der Lebensgefährtin offenbar wurde, belegt, dass es sich keinesfalls um eine bloß lockere Beziehung gehandelt hat. Stehen aber lediglich flüchtlingsrelevante vom Willen der Betroffenen unabhängige Gründe der Führung einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft entgegen, steht dies der Annahme einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden (Rest-)Familie nicht entgegen. Insoweit ist abermals auf die gesetzgeberischen Zwecke des Familienasyls zu verweisen. Auch in einer solchen Situation besteht - wenn später ein Stammberechtigter im Bundesgebiet zu Welt kommt - eine besondere Nähe zur Gefährdungssituation und ein schutzwürdiger Familienverband. Auch asyltaktische Motive sind in einer solchen Konstellation ausgeschlossen.
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c) Selbständig tragend stützt der Berichterstatter die Entscheidung auch auf folgende Erwägungen: Nimmt man entgegen der hier vertretenen Auffassung an, dass der Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG voraussetzt, dass der Stammberechtigte im Herkunftsstaat geboren sein muss oder dass eine „(Rest-)Familie“ nur im Herkunftsstaat bestanden hat, wenn die Eltern verheiratet sind oder zumindest in häuslicher Gemeinschaft gelebt habe, so wären der Wortlaut insoweit zu weit und teleologisch zu reduzieren.
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aa) Das Wesen der teleologischen Reduktion besteht - als Gegenstück zur Analogie - darin, dass sie die auszulegende Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle für unanwendbar hält, weil Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen. Bei einer derart planwidrigen Gesetzeslücke ist eine zu weit gefasste Regelung im Wege teleologischer Reduktion auf den ihr nach Sinn und Zweck zugedachten Anwendungsbereich zurückzuführen (vgl. BVerwGE 164, 179 <188 Rn. 18>).
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bb) Ausgehend hiervon ist der Wortlaut „wenn [...] die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird“ - unterstellt, er erfasst die vorliegende Konstellation nicht - zu weit. Denn er schlösse Fälle aus, bei denen eine identische Interessenlage vorliegt. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass dies keine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers war, sondern insoweit eine planwidrige Regelungslücke vorliegt. Wie ausgeführt, liegt in der vorliegenden Konstellation ebenso wie wenn der Stammberechtigte bereits in Afghanistan geboren worden wäre und der Kläger bereits in Afghanistan mit seiner Lebensgefährtin in einer - der Repression unterliegenden - häuslichen bzw. ehelichen Gemeinschaft gelebt hätte, eine Gefährdungsnähe und ein schutzwürdiges Interesse des Stammberechtigten am Verbleib des Klägers im Bundesgebiet vor. Dem steht nicht entgegen, dass der Lebensgefährtin des Klägers und dem gemeinsamen Sohn (auch) deshalb die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, weil zwischen dem Kläger und dessen Lebensgefährtin eine uneheliche Beziehung bestand. Für die Frage, ob die Interessenlage vergleichbar ist, kommt es auf die tatsächlich bestehende Gefährdung an, nicht ob sich diese hypothetisch anders darstellen würde, wenn der Kläger seine Lebensgefährtin hätte heiraten können. Denn das Bestehen einer Ehe kann im Kontext des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG nur dazu dienen, sicherzustellen, dass eine auf Dauer angelegte schutzwürdige Bindung besteht. Dagegen ist es nicht Sinn und Zweck Fälle auszuschließen, in denen eine Ehe aus flüchtlingsrelevanten Umständen nicht eingegangen werden kann (vgl. für den Fall einer aus flüchtlingsrelevanten Gründen nicht möglichen Eingehung einer Lebenspartnerschaft bzw. gleichgeschlechtlichen Ehe im Rahmen des § 26 Abs. 1 AsylG: Epple, in: GK-AsylG, § 26 AsylG [124. EL Dezember 2019], Rn. 44).
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Auch kann von einem asyltaktischen Vorgehen des Klägers keine Rede sein. Es gibt ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber, hätte er diese Situation gesehen, diese nicht gleich behandeln hätte wollen.
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3. Ist die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, sind auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Ziff. 5 des angefochtenen Bescheids) rechtswidrig (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG). Auch die Voraussetzungen für die Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Ziff. 6 des angefochtenen Bescheids) liegen insoweit nicht vor. Der Bescheid ist insoweit aufzuheben (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Aufzuheben ist außerdem die unter Ziff. 4 des Bescheids verfügte negative Feststellung zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Denn von einer Feststellung dieser Art kann nach § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG im Fall der Gewährung internationalen Schutzes abgesehen werden. Das der Beklagten insoweit mit ihrer Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eingeräumte Ermessen hat sie indessen hier nicht ausgeübt, jedenfalls aber entspricht es regelmäßig ordnungsgemäßer Ermessensausübung, wenn das Bundesamt hier von einer Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG absieht (vgl. Heusch, in: BeckOK AuslR, 26. Edition [Stand Juli 2020], § 31 AsylG, Rn. 23). Der Bescheid ist insoweit ermessensfehlerhaft und daher aufzuheben (vgl. §§ 113 Abs. 1 Satz 1, 114 VwGO).
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Die Feststellung zur Nichtzuerkennung des subsidiären Schutzes ist ebenfalls rechtswidrig. Über den subsidiären Schutz ist nur bei Nichtzuerkennung der für den Ausländer günstigeren Flüchtlingseigenschaft zu befinden (vgl. Heusch, in: BeckOK AuslR, 26. Edition [Stand Juli 2020], § 31 AsylG, Rn. 12). Auch insoweit war der Bescheid aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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4. Einer Entscheidung über die Hilfsanträge bedarf es angesichts des Erfolgs des Hauptantrages nicht.
III.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

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