Beschluss vom Verwaltungsgericht Freiburg - 10 K 2573/20

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

 
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts seines Freizügigkeitsrechts.
Der Antragsteller ist am ... in der Bundesrepublik Deutschland geboren und kroatischer Staatsbürger. Bis zum ... war er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Der Antragsteller ist wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Im Bundeszentralregister finden sich folgende Eintragungen:
1. Urteil des Amtsgerichts ... vom 15.10.2013 (...): Schuldspruch nach § 27 JGG wegen Unterschlagung unter Einbeziehung einer nicht zentralregisterpflichtigen Entscheidung).
2. Urteil des Amtsgerichts ... vom 03.03.2015 (...): 18 Monate Jugendstrafe wegen Diebstahl in 5 Fällen (unter Einbeziehung der Entscheidung vom 15.10.2013 und einer nicht zentralregisterpflichtigen Entscheidung).
3. Urteil des Amtsgerichts ... vom 29.09.2015 (...): 2 Jahre 10 Monate Jugendstrafe wegen Diebstahl in zwei Fällen, Hehlerei sowie unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln (unter Einbeziehung der Entscheidungen vom 15.10.2013 und vom 03.03.2015 und einer nicht zentralregisterpflichtigen Entscheidung).
4. Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom 26.01.2018 (...): 15 Tagessätze Geldstrafe zu je 15 EUR wegen Leistungserschleichung.
5. Urteil des Amtsgerichts ... vom 15.05.2018 (...): 4 Jahre 9 Monate Jugendstrafe wegen schwerer räuberischer Erpressung, versuchter schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen, versuchter Diebstahl in Tateinheit mit Sachbeschädigung, versuchte Gefangenenbefreiung sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (unter Einbeziehung der Entscheidung vom 29.09.2015, einer nicht zentralregisterpflichtigen Entscheidung und der Entscheidungen vom 15.10.2013 und vom 03.03.2015).
6. Urteil des Landgerichts ... vom 10.05.2019 (...): 6 Jahre 9 Monate Jugendstrafe wegen räuberischer Erpressung, gefährlicher Körperverletzung in 2 Fällen, tateinheitlicher Anstiftung zur Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Nötigung (unter Einbeziehung der Entscheidungen vom 15.05.2018, vom 26.01.2018, vom 29.09.2015, einer nicht zentralregisterpflichtigen Entscheidung, der Entscheidung vom 15.10.2013 und der Entscheidung vom 03.03.2015).
Bereits im Hinblick auf die Verurteilung wegen Diebstahls, Hehlerei und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (Ziff. 3) prüfte das Regierungspräsidium Freiburg (im Folgenden: Regierungspräsidium) eine Verlustfeststellung. Es nahm hiervon jedoch Abstand, da es aufgrund des langjährigen Aufenthalts des Antragstellers die Voraussetzungen für nicht erfüllt hielt. Nachdem der Antragsteller wegen schwerer räuberischer Erpressung, versuchter schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen, versuchten Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung, versuchter Gefangenenbefreiung sowie Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig verurteilt worden war (Ziff. 5), teilte das Regierungspräsidium dem Antragsteller mit Schreiben vom 8. Oktober 2018 mit, dass ein Verlustfeststellungsverfahren (noch) eingestellt worden sei, das Regierungspräsidium jedoch bei erneuten Verstößen gegen die Rechtsordnung wieder eine Verlustfeststellung prüfen werde. Zugleich wurde der Antragsteller seitens des Regierungspräsidiums verwarnt.
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Nach Rechtskraft der Verurteilung durch das Landgericht ... (Ziff. 6) hörte das Regierungspräsidium den Antragsteller zur (nunmehr) beabsichtigten Verlustfeststellung an. Mit Schreiben vom 29. April 2020 nahm die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers Stellung. Sie führte aus: Eine Verlustfeststellung verstieße gegen Unionsrecht. Der Antragsteller habe sein gesamtes Leben in der Bundesrepublik verbracht, sodass für ihn die Privilegierung des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU greife. Eine Verlustfeststellung sei insoweit nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit möglich. Der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit umfasse die innere und äußere Sicherheit des Staates und das Funktionieren seiner grundlegenden Einrichtungen. Zwar könnten auch Straftaten im Bereich besonders schwerer Kriminalität eine Bedrohung für die Sicherheit eines Mitgliedstaates sein. Die vom Antragsteller verübten Straftaten erreichten jedoch nicht einen derart hohen Schweregrad. Überdies sei die Dauer des Aufenthalts des Antragstellers in der Bundesrepublik ebenso zu berücksichtigen wie seine familiären Bindungen zur Mutter und zum Stiefvater, sowie dass er eine Suchttherapie anstrebe.
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Mit Beschluss vom 11. Mai 2020 (...) stimmte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ... der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG zu, da die Kausalität bei einem nach Bedeutung und Gewicht überwiegenden Teil der Einheitsjugendstrafe zugrundeliegenden Taten gegeben gewesen sei.
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Mit - der Prozessbevollmächtigten des Klägers am 3. Juli 2020 zugestelltem - Bescheid vom 1. Juli 2020 stellte das Regierungspräsidium fest, dass der Antragsteller das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Freizügigkeitsrecht) in der Bundesrepublik Deutschland verloren hat (Ziff. I des Bescheids), drohte ihm die Abschiebung nach Kroatien oder in einen anderen Staat an, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist, jedoch nicht vor Ablauf von einem Monat nach Bekanntgabe der Entscheidung (Ziff. II des Bescheids), ordnete die Abschiebung aus der Haft an (Ziff. III des Bescheids), forderte den Antragsteller für den Fall, dass eine Abschiebung aus der Haft nicht möglich ist, auf, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche zu verlassen, und drohte für den Fall, dass der Aufforderung nicht nachgekommen wird, die Abschiebung nach Kroatien oder in einen anderen Staat an, in den der Antragsteller einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist (Ziff. IV des Bescheids), befristete das mit der Verlustfeststellung verbundene Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 8 Jahre ab Ausreise/Abschiebung (Ziff. V des Bescheids) und ordnete die sofortige Vollziehung der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts an (Ziff. VI des Bescheids).
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Der Antragsteller hat am 3. August 2020 Klage erhoben (10 K 2572/20) und zugleich den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt.
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Der Antragsteller beantragt sachdienlich formuliert,
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die aufschiebende Wirkung seiner Klage - 10 K 2572/20 - gegen Ziff. I des Bescheids des Regierungspräsidiums vom 1. Juli 2020 wiederherzustellen und hinsichtlich der Ziffern II bis IV anzuordnen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wiederholt und vertieft er die im Verwaltungsverfahren vorgebrachten Argumente.
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Der Kammer liegt die einschlägige Ausländerakte (2 Bände) sowie die Gerichtsakte des Klageverfahrens (10 K 2572/20) vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf diese Akten sowie die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
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1. Die Kammer legt den Antrag sachdienlich dahin aus (vgl. §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO), dass der Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage (10 K 2572/20) gegen die Verlustfeststellung (Ziff. I des Bescheids) sowie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung und die Anordnung der Abschiebung aus der Haft (Ziff. II, III und IV des Bescheids) begehrt. Dagegen ist die Befristungsentscheidung (Ziff. V des Bescheids) nicht Gegenstand des Verfahrens des vorläufigen Rechtschutzes, da es dem Antragsteller (derzeit) ersichtlich allein um die Verhinderung seiner Ausreisepflicht und deren zwangsweiser Durchsetzung geht und nicht um die vorzeitige Wiedereinreise nach einer erfolgten Ausreise/Abschiebung.
21 
2. Der so verstandene Antrag ist zulässig. Soweit der Antragsteller sich gegen die Verlustfeststellung (Ziff. I des Bescheids) wendet, ist sein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1; Abs. 2 Nr. 4 VwGO statthaft, soweit er sich gegen die Abschiebungsandrohung und die Anordnung der Abschiebung aus der Haft wendet (Ziff. II, III und IV des Bescheids) ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1; Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 12 LVwVG statthaft. Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere liegt mit der am 3. August 2020 erhobenen Klage (10 K 2572/20) ein tauglicher - insbesondere nicht offensichtlich unzulässiger - Rechtsbehelf vor, dessen aufschiebende Wirkung wiederhergestellt bzw. angeordnet werden kann.
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3. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
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a) Soweit der Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Verlustfeststellung (Ziff. I des Bescheids) begehrt, ist der Antrag unbegründet, weil die Anordnung des Sofortvollzugs den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO entsprechend schriftlich begründet wurde (aa.), bei der nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Interessenabwägung das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung das private Interesse des Antragstellers, vom Sofortvollzug einstweilen verschont zu bleiben, überwiegt, weil sich die beanstandete Verlustfeststellung bei der im einstweiligen Rechtsschutz allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als voraussichtlich rechtmäßig erweist (bb.) und auch ein besonderes Sofortvollzugsinteresse vorliegt (cc.).
24 
aa) Das Regierungspräsidium hat die Anordnung des Sofortvollzugs in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet. Das formale Erfordernis einer schriftlichen Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung verlangt eine auf die Umstände des konkreten Falles bezogene Darlegung des besonderen Interesses gerade an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts. Insbesondere muss die Vollziehbarkeitsanordnung erkennen lassen, dass sich die Behörde des rechtlichen Ausnahmecharakters der Anordnung bewusst ist (vgl. W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 80 Rn. 84; Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 80 [22. EL September 2011], Rn. 247). Dies ist vorliegend der Fall. Den Ausführungen des Regierungspräsidiums, dass die Anordnung des Sofortvollzugs geboten sei, weil sich das Verfahren bei Ausschöpfung eventueller Rechtsmittel über das Haftende hinaus erstrecken könne und angesichts des bisher seitens des Antragstellers gezeigten Verhaltens ohne Anordnung des Sofortvollzugs die mit der Verlustfeststellung bezweckte Verhinderung schwerer Rechtsverletzungen vereitelt würde, lässt sich hinreichend deutlich entnehmen, dass diesem der rechtliche Ausnahmecharakter der Anordnung des Sofortvollzugs bewusst war und bezieht sich auch auf den konkreten Einzelfall. Ob diese Argumente inhaltlich zutreffend sind, ist keine Frage der formellen Rechtmäßigkeit (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Januar 2019 - 10 S 1919/17 -, juris, Rn. 4; Beschluss vom 10. Dezember 2010 - 10 S 2173/10 -, juris, Rn. 3).
25 
bb) Die Verlustfeststellung erweist sich - im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.07.2015 - 1 C 22.14 -, juris, Rn. 11) - als voraussichtlich rechtmäßig.
26 
(1) Die Verlustfeststellung ist voraussichtlich formell rechtmäßig. Das Regierungspräsidium ist nach § 6 Abs. 3 AAZuVO sachlich und nach § 3 Abs. 1, Abs. 3 AAZuVO örtlich zuständig. Der Antragsteller wurde vor Erlass der Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 8 Satz 1 FreizügG/EU angehört.
27 
(2) Die Verlustfeststellung findet ihre Rechtsgrundlage jedenfalls in § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 FreizügG/EU.
28 
Zur Beantwortung der Frage, ob ein Unionsbürger i.S.v. § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, ist auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die Verlustfeststellung ergeht (vgl. EuGH, Urteil vom 17. April 2018 - C-316/16 und C-424/17 -, juris, Rn. 88; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. November 2018 - 11 S 2019/18 -, juris, Rn. 7). Dies war vorliegend der 1. Juli 2020. Ausgehend hiervon ist fraglich, ob der Antragsteller seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren vor der Verlustfeststellung in der Bundesrepublik hatte.
29 
Zwar wurde dieser am 15. Februar 1998 in der Bundesrepublik geboren und hat sich - soweit ersichtlich - ununterbrochen in der Bundesrepublik aufgehalten. Für die Anwendung des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU genügt aber nicht der bloß tatsächliche Aufenthalt, dieser muss vielmehr auch rechtmäßig gewesen sein (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. September 2016 - 18 B 816/16 -, juris, Rn. 4; Hailbronner, Ausländerrecht, § 6 FreizügG/EU [100. Aktualisierung März 2017], Rn. 35).
30 
Nach Aktenlage gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller sich seit seiner Geburt zu irgendeinem Zeitpunkt unrechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten haben könnte. Auch dürfte es nicht darauf ankommen, dass Kroatien erst seit dem 1. Juli 2013 Mitgliedstaat der Europäischen Union ist. Der Gerichtshof der Europäischen Union geht - ebenso wie das Bundesverwaltungsgericht - davon aus, dass sich ein Recht auf Daueraufenthalt auch aus Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat ergeben kann, bevor der Drittstaat der Europäischen Union beigetreten ist, sofern der Betroffene nachweisen kann, dass diese im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG zurückgelegt wurden (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-424/10 u.a. -, juris, Rn. 62; BVerwG, Urteil vom 31. Mai 2012 - 10 C 8.12 -, juris, Rn. 17). Es dürfte einiges dafür sprechen, dass dies auch hinsichtlich der Berechnung der Zehnjahresfrist des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU gilt (vgl. Kurzidem, in: BeckOK Ausländerrecht, § 6 FreizügG/EU [26. Edition 1. Juli 2020], Rn. 24; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 6 FreizügG/EU, Rn. 64). Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller sich seit seiner Geburt nicht im Einklang mit den Voraussetzungen des Unionsrechts in der Bundesrepublik aufgehalten hätte, bestehen nach Aktenlage nicht.
31 
Der Kläger befand sich jedoch wiederholt in Jugendhaft. Insoweit könnte einiges dafür sprechen, dass die Inhaftierung den Zehnjahreszeitraums unterbrochen hat, weil insoweit die Integrationsbande abgerissen sind (vgl. hierzu: EuGH, Urteil vom 16. Januar 2014 - C-400/12 -, juris, Rn. 34 ff.; Urteil vom 17. April 2018 - C-316/16 u.a. - juris, Rn. 76 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. November 2018 - 11 S 2019/18 -, juris, Rn. 8; OVG Saarland, Urteil vom 30. April 2015 - 2 A 265/14 -, BeckRS 2015, 53103, Rn. 26; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 6 FreizügG/EU, Rn. 60). Die Kammer braucht diese Frage jedoch nicht zu beantworten. Denn auch wenn davon ausgegangen wird, dass die Integrationsbande des Antragstellers durch die Haftzeiten nicht unterbrochen wäre und folglich eine Verlustfeststellung nur unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU erfolgen kann, wären diese Voraussetzungen voraussichtlich erfüllt.
32 
(3) Nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG darf eine Verlustfeststellung nur erfolgen, wenn zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit dies gebieten. Mit der genannten Norm greift der Gesetzgeber die Vorgabe von Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG auf, wonach einer Ausweisung privilegierter Unionsbürger eine Entscheidung beruhend „auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden“, zugrunde liegen muss (vgl. Kurzidem, in: BeckOK Ausländerrecht, § 6 FreizügG/EU [26. Edition 1. Juli 2020], Rn. 25). Hierzu gehören die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen (vgl. EuGH, Urteil vom 23. November 2010 - C-145/09 -, juris, Rn. 44 m.w.N.). Allerdings können auch Straftaten im Bereich besonders schwerer Kriminalität als Bedrohung für die Sicherheit eines Mitgliedstaats angesehen werden, wenn diese geeignet sind, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, weil die Art und Weise der Begehung besonders schwerwiegende Merkmale aufweist (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Mai 2012 - C-348/09 -, juris, Rn. 28; Urteil vom 23. November 2010 - C-145/09 -, juris, Rn. 44 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. April 2018 - 11 S 428/18 -, juris, Rn. 5; OVG Saarland, Urteil vom 30. April 2015 - 2 A 265/14 -, BeckRS 2015, 53103, Rn. 28 ff.; Bayerischer VGH, Beschluss vom 17. Dezember 2015 - 10 ZB 15.1394 -, juris, Rn. 7). Ergänzend setzt die Annahme eines zwingenden Grundes der öffentlichen Sicherheit voraus, dass der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde (§ 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU).
33 
(4) Die Voraussetzungen der Verlustfeststellung liegen ausgehend von diesem Maßstab beim Antragsteller voraussichtlich vor.
34 
(a) Der Antragsteller wurde zuletzt rechtskräftig vom Landgericht ... wegen vorsätzlicher Straftaten zu einer Jugendstrafe von 6 Jahren und 9 Monaten verurteilt. Die Verhängung einer mindestens fünfjährigen Jugendstrafe wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten (§ 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU) liegt damit vor.
35 
(b) Es liegen wohl auch zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit vor, die die Verlustfeststellung gebieten.
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Der Antragsteller hat zahlreiche schwerwiegende Straftaten begangen, die von außerordentlicher Gewaltbereitschaft und Rohheit geprägt waren. Im Urteil des Landgerichts ... vom 10. Mai 2019 (...) wird zur Person des Antragstellers ausgeführt:
37 
„Nach seiner Einschulung im Jahr 200... fiel der Angeklagte immer wieder als verhaltensauffällig auf. Sein delinquentes Verhalten begann bereits im Alter von neun Jahren, weshalb seine Mutter Hilfe zur Erziehung beantragte. Obwohl der Angeklagte zu seiner Mutter ein gutes Verhältnis hatte, konnte sie ihren Sohn erzieherisch nicht mehr erreichen, weshalb es von Februar 200... bis Juni 200... zu einer teilstationären Unterbringung in der Jugendhilfeeinrichtung ... kam. Dort besuchte ... eine Schule für Erziehungshilfe mit angegliederter Tagesgruppe. Eine anschließende probeweise Beschulung in der öffentlichen Schule ist im Oktober 200... gescheitert und es folgte von Dezember 200... bis März 20... eine Beschulung in der ...-Schule mit angeschlossener Tagesgruppe im Kinder- und Familienzentrum. Ab April 20... war der Angeklagte bis Dezember 20... vollstationär in einem Kinderheim untergebracht. Auch diese Maßnahme konnte nicht andauern, da der Angeklagte dort nicht kooperierte. Im Sommer 20... folgte letztlich die Befreiung von der allgemeinen Schulpflicht, woraufhin der Angeklagte ca. 3-4 Monate in der Firma seines Stiefvaters gearbeitet hat.
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Der Angeklagte fiel durchgängig durch Schuleschwänzen auf und konsumierte ab seinem 14. Lebensjahr regelmäßig Drogen, hauptsächlich Cannabis. Im Alter von 14 Jahren trat der Angeklagte seinen ersten Arrest an. Mit 17 Jahren kam er für 2 Jahre in Jugendhaft, die er zunächst zur Durchführung einer Drogentherapie in der Außenstelle der JVA ... in ... verbrachte. Dort konnte er 20... einen Hauptschulabschluss mit der Durchschnittsnote 1,7 erlangen. Der Versuch dieser Therapie musste jedoch nach acht Monaten vorzeitig abgebrochen werden, da es zu gewalttätigen Konflikten mit anderen Insassen gekommen ist, der Angeklagte wurde daraufhin nach ... verlegt. Nach der Haftentlassung im August 20... gelang es dem Angeklagten, der zunächst bei seiner Mutter und seinem Stiefvater lebte, nicht, auch in Freiheit drogenfrei zu leben. Nach eigenen Angaben hatte er „viel durchzumachen“ und unter anderem Todesfälle im Bekannten- und Verwandtenkreis zu bewältigen, weshalb er sich erneut den alten Freunden angeschlossen habe. Ein halbes Jahr nach seiner Haftentlassung wurde der Angeklagte zur Vollstreckung von U Haft im Januar 20... in der JVA ... aufgenommen. Mittlerweile verbüßt er seine Jugendstrafe in der JVA ..., wo er sich derzeit in der Absonderung befindet, da er mit zur Weitergabe bestimmtem Spice und einem Handy erwischt wurde. Zuvor hielt sich der Angeklagte nach eigenen Angaben 9 Monate meldungsfrei. ... hat einen Reinigungskurs besucht, eine Ausbildung absolviert er nicht. Betäubungsmittel hat er seit seiner Inhaftierung im Januar 20... nicht mehr konsumiert.
39 
Der Angeklagte ist vorbestraft:
40 
[...]
41 
Am 15.10.2013 erkannte das Amtsgericht ... (...) den Angeklagten der Unterschlagung für schuldig und setzte die Entscheidung der Verhängung der Jugendstrafe gemäß § 27 JGG für 2 Jahre zur Bewährung aus.
42 
Dieser Verurteilung lag folgender Sachverhalt zu Grunde:
43 
Am 09.07.20... gegen 16:00 Uhr - somit im Alter von 15 Jahren - nahm der Angeklagte am Bahnhof ... das unverschlossen abgestellte Mountainbike der Marke ... der Geschädigten [...] im Wert von 600 EUR an sich, um es auf Dauer als eigenes zu behalten. Dieses Fahrrad war durch einen bislang unbekannten Täter am 12.06.2013 im Zeitraum zwischen 13:00 Uhr und 16:00 Uhr an der Dualen Hochschule [...] zurückgelassen worden. Bei Tatbegehung besaß der Angeklagte die gemäß § 3 erforderliche Reife, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
44 
Am 03.03.2015 wurde der Angeklagte erneut von dem Amtsgericht ... (...) verurteilt. Unter Einbeziehung der Entscheidung vom 15.10.20... (siehe oben) wurde der Angeklagte wegen Diebstahls in fünf Fällen zu einer Jugendstrafe von 18 Monaten verurteilt.
45 
Die der Verurteilung zu Grunde liegenden Sachverhalte stellen sich wie folgt dar:
46 
1. Am 07.11.2013 gegen 10:00 Uhr verschaffte sich der Angeklagte ... ... Zutritt zu den Lagerräumen der Gaststätte ... [...], indem er an der rückwärtigen Seite des Lagerschuppens die Blechverkleidung abschraubte und sich durch die entstehende Öffnung in den Lagerraum zwängte, um dort Leergut zu entwenden. Sodann entnahm er aus dem Lagerraum drei Kisten Leergut im Wert von 9,90 EUR, um diese auf Dauer als eigene zu behandeln und in einem Lebensmitteldiscounter gegen Auszahlung des Pfandgeldes abzugeben.
47 
2. Am 02.01.2013 in der Zeit zwischen 13:30 Uhr und 18:25 Uhr drang der Angeklagte ... ... in den in der Tiefgarage [...] abgestellten Pkw, Mazda Tribute, amtliches Kennzeichen: [...] der Geschädigten [...] gewaltsam ein, in dem er das Fenster an der Beifahrerseite einwarf, um daraus Stehlenswertes zu entwenden. Sodann entwendete er die Handtasche der Geschädigten, in welcher sich ein Schminkset ... und deren Geldbeutel mit Bargeld in Höhe von 46,30 EUR, ihrem Bundespersonalausweis, ihrem Führerschein, dem Fahrzeugschein, einer EC-Karte der Kreissparkasse ... sowie einer AOK-Versichertenkarte befanden. Der Wert des Diebesgutes, das der Angeklagte ... ... für sich behalten wollte, betrug ungefähr 700 EUR. Der am Fahrzeug verursachte Sachschaden beläuft sich auf 200 EUR.
48 
3. Im Zeitraum vom 11.03.2014, 18.00 Uhr, und dem 13.03.2014, 09.00 Uhr, entwendete der Angeklagte ... ... das in der Tiefgarage [...] abgestellte mit Lenkradschlosses gesicherte Kleinkraftrad der Marke A GM, 7 amtliches Kennzeichen [...] im Wert von ungefähr 350 EUR, indem er das Lenkradschloss aufbrach, den Roller kurzschloss und sich sodann mit diesem entfernte. Er beabsichtigte hierbei, der Roller dauerhaft als eigenen zu behandeln. An dem Roller entstand Sachschaden in Höhe von ca. 250 EUR.
49 
4. Im Zeitraum vom 31.01.2014, 18:00 Uhr, bis zum 02.02.2014, 13.45 Uhr, warf der Angeklagte ... ... auf der Suche nach stehlenswerten Gut mit einem Stein das Fenster zum Büro des Schuldirektors in der ...schule [...] ein, öffnete das Fenster und kletterte hierdurch in das Schulgebäude. Anschließend durchsuchte er das Büro des Schuldirektors sowie das angrenzende Sekretariat und riß den Hebel zu einem Stahltresor ab. Die Tür zum Lehrerzimmer öffnete er gewaltsam mit einer Handsäge und zwei Schraubenziehern. Hier entwendete der Angeklagte sodann insgesamt 80 EUR Bargeld und mehrere Schlüssel, um diese für eigene Zwecke zu verwenden. Sachschaden entstand in Höhe von ca. 900 EUR.
50 
5. Im Zeitraum vom 17.04.2014 bis zum 21.04.2014 gelangte der Angeklagte auf der Suche nach stehlenswerten Gegenständen auf nicht näher bekannter Art und Weise in die Räumlichkeiten der Fachhochschule ... [...] und brach dort den Schlüsselkasten auf, um den dort befindlichen Generalschlüssel für sich zu behalten und für eigene Zwecke zu verwenden, namentlich mithilfe des Schlüssels Zugang zu den abgeschlossenen Räumlichkeiten der Fachhochschule zu erlangen und dort Gegenstände zu entwenden. Dem Tatplan entsprechend brach der Angeklagte im Studiensekretariat Büroschränke und -container auf und entwendete einen Kleintresor mit verschiedenen Dienstsiegeln. Weiter entwendete der Angeklagte aus verschiedenen Räumen sodann jedenfalls ein Hiltimessgerät, zwei Notebooks und zwei Fotoapparate nebst Zubehör im Gesamtwert von ca. 3495,04 EUREUR, um diese Gegenstände für eigene Zwecke zu verwenden. Sachschaden entstand in Höhe von ca. 5.000 EUR, die Kosten für den Einbau einer neuen Schließanlage betragen ca. 270.000 EUR.
51 
Bei Begehung aller Taten besaß der Angeklagte die gemäß § 3 JGG erforderliche Reife, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
52 
[...]
53 
Mit Urteil des Amtsgericht ... vom 29.09.2015 (...) wurde der Angeklagte wegen Diebstahls in 2 Fällen, Hehlerei, sowie unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln unter Einbeziehung der Entscheidungen vom 15.10.2013 und vom 03.03.2015 zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe wurde mit Entscheidung vom 25.02.2016 zurückgestellt bis zum 22.03.2018. Die Zurückstellung der Vollstreckung wurde widerrufen und der Rest der Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt bis zum 15.08.2019.
54 
Aufgrund eines Strafbefehles vom 26.01.2018 des Amtsgerichts ... wurden gegen den Angeklagten wegen Leistungserschleichung 15 Tagessätze zu je 15 EUR verhängt. Mangels Zahlung dieser Strafe wurde für den Angeklagten die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe als Überhaft notiert.
55 
Am 15.05.2018 verurteilte das Amtsgericht ... (...) den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung, versuchter schwerer räuberischer Erpressung in 2 Fällen, versuchten Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung, versuchter Gefangenenbefreiung sowie wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Jugendstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten, in die die Entscheidungen vom 20.09.2015, vom 15.10.2013 und vom 03.03.2015 einbezogen wurden. Von einer Einbeziehung der Geldstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts ... wurde abgesehen.
56 
Die Sachverhalte, die dieser Verurteilung zu Grunde lagen, liegen zeitlich innerhalb der damals offenen Bewährung des Angeklagten und stellen sich wie folgt dar:
57 
Am 29.10.2017 kam es in der Innenstadt von ... zu folgenden Taten:
58 
1. Gegen 05:30 Uhr sprach der Angeklagte den ... ... [...] in der ... Innenstadt an und forderte nach einer kurzen Konversation und der Bedrohung „ich leg dich um, mit 9mm“ unter Androhung von Gewalt die Herausgabe der Handschuhe, die der ... ... zu diesem Zeitpunkt trug. Während der Forderung nahm er einen großen Pflasterstein, den er in einer Tasche bei sich trug, in die Hand, holte aus und äußerte „gib mir jetzt die Handschuhe, Tod oder Handschuhe“, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Der ... ... übergab dem Angeklagten schließlich seine Handschuhe, woraufhin der Angeklagte sich mit diesen vom Tatort entfernte, um diese auf Dauer ohne Berechtigung für sich zu behalten.
59 
2. Gegen 06:00 Uhr sprach der Angeklagte die ... ... an, die sich zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Fahrrad zwischen dem Anwesen ... und ... in ... ... befand, und forderte sie unter Androhung von Gewalt auf, ihm ihr Fahrrad zu überlassen. Dabei drohte er, sie mit dem großen Pflasterstein, den er in einer Tasche bei sich trug und zwischenzeitlich herausholte und holte damit aus, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Zudem äußerte der Angeklagte der ... ... gegenüber, dass er eine Pistole und ein Messer dabei habe und sie erschießen bzw. erstechen würde und auch wisse, wo sie und ihre Tochter wohnen.
60 
Nachdem die ... ... um Hilfe rief und sich aufgrund dessen eine Passantin näherte, ließ der Angeklagte, der nun erkannte, dass die ... ... ihm das Fahrrad nicht übergeben würde, aufgrund des nunmehr erhöhten Entdeckungsrisikos von der weiteren Tatbegehung ab und rannte [...] weg.
61 
3. Kurze Zeit nach dem vorgenannten Vorfall 2 nahm der Angeklagte, der sich mittlerweile vor der Schaufensterscheibe des Schmuckgeschäfts „...“ [...] aufhielt, den in seiner Tasche befindlichen großen Pflasterstein heraus und schlug mit diesem auf die Scheibe ein um verschiedene Gegenstände aus der Auslage zu entnehmen und diese ohne Berechtigung auf Dauer für sich zu behalten. Als der Angeklagte erkannte, dass er die aus bruchfestem Glas bestehende Scheibe nicht durchschlagen würde können, gab er die weitere Tatausführung auf und entfernte sich vom Tatort. Dass durch seine Handlungen die Scheibe beschädigt und ein Schaden in Höhe von etwa 1.200,00 EUR entstehen würde, sah der Angeklagte voraus und nahm dies billigend in Kauf.
62 
4. Gegen 06:40 Uhr stieg der Angeklagte am Taxistand vor dem Bahnhof in ... in das Taxi des ... ... ein und forderte von diesem unter Anwendung von Gewalt die Herausgabe von Geld, ansonsten schlage er zu. Währenddessen hatte er einen großen Pflasterstein in der Hand und holte damit aus. Der ... ... stieg daraufhin aus seinem Taxi aus und entfernt sich von diesem. Währenddessen folgte ihm der Angeklagte und forderte ein weiteres Mal mit erhobenem Pflasterstein die Herausgabe von Geld. Nachdem der ... ... daraufhin um Hilfe rief und sich aufgrund dessen ein weiterer Taxifahrer näherte, ließ der Angeklagte, der nun erkannte, dass der ... ... ihm kein Geld übergeben wird, aufgrund des nunmehr erhöhten Entdeckungsrisikos von der weiteren Tatbegehung ab und entfernte sich vom Tatort.
63 
Anklage vom 19.04.2018 (...)
64 
Am 26.11.2017 kam es um 02:45 Uhr in der ... Straße sowie vor dem Rathaus ... in ... zu folgenden Taten
65 
1. (Das Verfahren wurde bezüglich dieser Tat vor der Hauptverhandlung nach § 154 StPO eingestellt).
66 
2. Nachdem der Angeklagte mit dem Roller in Richtung ... vor einem Streifenwagen geflüchtet war, stellte sich der Zeuge ..., ein Bekannter des Angeklagten, dem Streifenwagen in den Weg und beleidigte die Beamten. Die Beamten stiegen aus und forderten die Personalien des Herrn .... Dieser verweigerte die Angabe der Personalien und kam in einer bedrohlichen Haltung auf die Beamten zu. Daraufhin wurde der sich heftig zur Wehr setzen Herr ... vorläufig festgenommen und unter großem Kraftaufwand in den Streifenwagen verbracht. Als die Türe des Streifenwagens geschlossen war und die Beamten im Begriff waren einzusteigen, kam der Angeklagte aus dem Dunkeln angerannt und riss die Tür des Streifenwagens hinten rechts wieder auf und versuchte den vorläufig festgenommenen ... zu befreien. Diesem gelang es zunächst auszusteigen. Als er wegrennen wollte, stießen die Beamten den Angeklagten weg und setzten Herrn Doll wieder in den Streifenwagen. Der Angeklagte riss weiter am Türhebel und versuchte Herrn ... zu befreien, was nicht gelang, da die Türen verriegelt waren und die Beamten davon fuhren. Der Angeklagte handelte in der Absicht, Herrn ... aus dem formell rechtmäßigen, staatlichen Gewahrsam zu befreien.
67 
3. Die Beamten der Streife forderten Unterstützung an, welche den Angeklagten vor dem Rathaus in ... antrafen. Ein Alkomattest ergab um 3:03 Uhr einen Atemalkoholwert von 0,81 mg/l. Dem Angeklagten wurde daraufhin eröffnet, dass er nun mit zum Polizeirevier ... gehen müsse. Der Angeklagte weigerte sich und rannte weg. Der Angeklagte konnte durch die Beamten gestellt werden. Mittels unmittelbarem Zwang wurde der Angeklagte zu Boden gebracht und arretiert. Hierbei wehrte er sich gegen das Schließen. Der Angeklagte sperrte die Arme gegen das auf den Rücken verbringen und versuchte die Beamten zu zwicken. Nur durch Anwendung unmittelbaren Zwangs konnte der Angeklagte geschlossen werden. In der Jackentasche führte der Angeklagte während der gesamten Zeit griffbereit ein Messer mit einer Klingenlänge von 11,5 cm mit sich. Dies war dem Angeklagten auch bewusst.
68 
[...]“
69 
Der Verurteilung des Antragstellers durch das Landgericht ... am 10. Mai 2019 lagen folgende Feststellungen zum Tatgeschehen zu Grunde:
70 
Tat Nummer 1:
71 
Am 24.05.20... traf der zur Tatzeit 20- jährige Angeklagte, der sich auf dem Transport von der Justizvollzugsanstalt ... in die Justizvollzugsanstalt ... befand, in der Transportzelle der JVA ... [...] zusammen mit ... ... auf den Geschädigten .... Die drei Häftlinge wurden zu dritt untergebracht, wobei der Angeklagte die räumliche Situation nutzte, um einen Schnellhefter des Geschädigten ... ohne dessen Einverständnis an sich zu nehmen, um sich den darin befindlichen Inhalt gegen den Willen des ... durchzulesen. In den Unterlagen des ... befand sich auch eine Anklage gegen diesen, weshalb der Angeklagte in Erfahrung brachte, dass dem Geschädigten ... der Vorwurf eines Sexualdelikts - von dem er später freigesprochen wurde - gemacht wird. Da ein solcher Vorwurf nicht die Billigung des Angeklagten und ... fand, kamen die beiden überein, den Geschädigten ... gemeinsam zu schlagen, um ihn zu verletzen und ihm Schmerzen zuzufügen. Diesen Tatentschluss setzten der Angeklagte und ... unmittelbar in die Tat um und schlugen gemeinsam handelnd zumindest zweimal mit der Faust gegen den Körper des Geschädigten ..., wodurch dieser Schmerzen und Hämatome erlitt, worauf es dem Angeklagten und ... ankam.
72 
Tat Nummer 2:
73 
Im Juni 20... wurde der Geschädigte ... in die Justizvollzugsanstalt ... [...] verlegt, in der sich bereits der zum Tatzeitpunkt 20-jährige Angeklagte und seine Mitinsassen ..., ... und ... befanden. Als der Angeklagte mitbekam, dass ... nunmehr auch in der JVA ... untergebracht ist, verbreitete ... nach Eintreffen des ... in der JVA ... das Wissen um den Vorwurf eines Sexualdeliktes gegen den damals 16-jährigen ... unter anderem unter den Häftlingen ... und .... Dabei wusste der Angeklagte, dass ein Häftling, dem dieser Tatvorwurf gemacht wird, in der Gefangenenhierarchie weit unten steht.
74 
Der Angeklagte nahm das Wissen um den Vergewaltigungsvorwurf gegen ... zum Anlass am 21.06.20... auf diesen zuzugehen. ... drohte ... an, ihn weiter zu schlagen, wenn er nicht seinen Einkauf zur Besorgung vorher durch den Angeklagten ausgewählter Artikel nutzt. Der Angeklagte kreuzte auf dem Einkaufszettel des Geschädigten einen Haarreif, 2 Beutel Tabak, Papers und 10 Beutel chinesische Nudeln im Wert von insgesamt 20 EUR an und gab dem Geschädigten diesen Einkaufzettel mit der Drohung, er werde ihn schlagen, wenn er diese Waren nicht für ihn einkauft und kostenlos an ihn übergibt. Wie von dem Angeklagten geplant und beabsichtigt kaufte der Geschädigte aus Angst vor weiteren Schlägen durch den Angeklagten, von dem der Geschädigte aufgrund der vorangegangenen Gewalttätigkeiten wissen musste, dass es nicht bei einer leeren Drohung verbleiben könnte, beim Einkauf vom 21.06.2018 Tabak, Nudeln, Papers und den Haarreif und übergab die Waren im Gesamtwert von 20 EUR an den Angeklagten, der sie - wie von Anfang an geplant - für sich behielt, ohne den Geschädigten in irgendeiner Form zu entlohnen oder einer rechtmäßigen Anspruch gegen den Geschädigten zu haben.
75 
Tat Nummer 3:
76 
Einen Tag später, am 22.06.20... suchten der 20-jährige Angeklagte und sein Mithäftling ..., der nunmehr auch von dem Vergewaltigungsvorwurf gegen ... wusste, während der Freizeit in der JVA ... im gemeinsam den Haftraum des Geschädigten ... auf, nachdem sie zuvor verabredet hatten, ... zu schlagen und zu treten, um ihm Schmerzen zuzufügen und ihn zu verletzen. Teil des gemeinsamen Tatplans war es auch, den Geschädigten über ihre Absichten zu täuschen, was sie auch taten, indem sie zunächst begannen, mit dem Geschädigten gemeinsam Karten zu spielen. Zum Zwecke des Kartenspielens saßen alle drei Häftlinge in der Haftzelle des Geschädigten auf Stühlen um einen Tisch. Im Laufe des Spiels fragte ... den Geschädigten, ob dieser ein „Vergewaltiger“ sei. Als der Geschädigte dies verneinte trat der Angeklagte ... verbal zur Seite und forderte den Geschädigten auf, dieser solle „nicht lügen“. ... erhob sich daraufhin und trat - wie zuvor mit dem Angeklagten verabredet - gegen den Körper des noch immer auf dem Stuhl sitzenden Geschädigten .... Dieser fiel aufgrund des wuchtigen Trittes mitsamt dem Stuhl zu Boden. Diesen Umstand nutzten der Angeklagte und ... aus, um im gemeinsamen Zusammenwirken den am Boden liegenden Geschädigten zu schlagen und zu treten, wobei sie auf den Kopf des Geschädigten, den dieser mit seinen Händen zu schützen versuchte, zielten. Dieser notdürftige Schutz des Geschädigten reicht jedoch nicht aus, um einen Tritt gegen seine Oberlippe abzuwehren. Der Geschädigte erlitt eine Prellung an der Oberlippe, Hämatome und Schmerzen, die im Bereich der Oberlippe zwei Wochen anhielten. Es kam dem Angeklagten und ... darauf an, den Geschädigten zu verletzen und ihm Schmerzen zuzufügen, wobei sie auch billigend in Kauf nahmen, dass die Schmerzen über einen gewissen Zeitraum anhalten würden.
77 
Tat Nummer 4:
78 
Nachdem der bisherige Zellengenosse von ... verlegt wurde, zog ... am Abend des 22.06.2018 in seine Zelle ein. In der Nähe dieses Haftraumes befanden sich die Hafträume des zu diesem Zeitpunkt 20-jährigen Angeklagten und .... Nach dem Einschluss gegen 18:30 Uhr spielte ... mit dem Geschädigten bis ca. 21:00 Uhr Karten, anschließend legte sich ... in sein Bett.
79 
Der Angeklagte hatte sich nunmehr entschlossen, ... über die geöffneten Zellenfenster aufzufordern, ... mit Schlägen und folterähnlichen Quälereien zu misshandeln.
80 
... begab sich an das Fenster seines Haftraumes und begann kurz nach 21 Uhr, sich mit dem Angeklagten über das Fenster zu unterhalten. Bei dieser Gelegenheit erklärte der Angeklagte dem ..., dass sein neuer Zellengenosse ... ein „Vergewaltiger“ sei und forderte ... zunächst auf, den Geschädigten deshalb im Schrank einzusperren. Dem Angeklagten, der aufgrund des Einschluss nicht mehr eigenhändig vorgehen konnte, kam es darauf an, dass ... die von ihm während der Freizeit begonnenen Misshandlungen zum Nachteil des ... fortführte. Der Angeklagte ging dabei davon aus, dass ..., sobald er wisse, dass der Geschädigte ein „Vergewaltiger“ sei, seine Anweisungen durchführen und seine Anregungen annehmen würde. So kam es auch, dass wie von dem Angeklagten vorgeschlagen und gewollt, ... den Geschädigten aufforderte, die unverschraubt eingelegten Bretter des in der Zelle befindlichen Einbauschrankes zu entnehmen und sich in den Schrank zu kauern. ... drohte dabei dem Geschädigten damit, es werde „wehtun“, wenn er nicht freiwillig in den Schrank kletterte. Aus Angst vor Schlägen kam der Geschädigte der Aufforderung des ... nach, nahm die Bretter aus dem Schrank heraus und kletterte in diesen hinein. In dem Schrank konnte der Geschädigte nicht aufrecht sitzen, was ... und der Angeklagte wussten, jedoch billigenden Kauf nahmen. Nachdem sich der Geschädigte im Schrankinneren eingefunden hatte, versperrte ... die Schranktür mit einer Gabel, die er durch die Befestigungsösen des Vorhängeschlosses schob, damit der Geschädigte nicht mehr eigenständig herauskommen kann. Dem Geschädigten war es aufgrund der Verriegelung nicht möglich, eigenständig aus dem Schrank zu gelangen. ... kam es dabei ebenso wie dem Angeklagten bei seiner Aufforderung darauf an, dass sich der Geschädigte nicht mehr frei im Haftraum bewegen kann.
81 
Nachdem der Geschädigte ... 30 Minuten in kauernder Haltung im Schrank ausharren musste, rief der Angeklagte dem ... über das Fenster zu, er solle ... zur Befragung an das Fenster holen. Wie von dem Angeklagten beabsichtigt, kam ... seiner Aufforderung nach, öffnete den Schrank, holte den Geschädigten heraus und zog ihn zum Fenster. Dort angekommen begann der Angeklagte den Geschädigten zu der ihm vorgeworfenen Vergewaltigung zu befragen. Der Geschädigte erklärte ... und dem Angeklagten, dass das mit der Vergewaltigung nicht stimme, was den Angeklagten dazu veranlasste, den noch nicht dazu entschlossenen ... aufzufordern, ... mit den Fäusten zu schlagen. Bei seiner Aufforderung kam es dem Angeklagten darauf an, dass ... diese in die Tat umsetzt. Es war dem Angeklagten völlig gleichgültig, wie ... genau vorgeht und wie schwer ... durch dieses Vorgehen verletzt wird. Wie von dem Angeklagten beabsichtigt kam ... seinem Vorschlag unmittelbar nach. Da der Geschädigte sich jedoch gegen den kommenden Faustschlag zu schützen versuchte, trat ihm ... kräftig mit dem Knie gegen den Oberschenkel, so dass ... Schmerzen verspürte und Hämatome erlitt, worauf es sowohl ... als auch dem Angeklagten ankam. Anschließend sperrte ... den Geschädigten, der unter dem Eindruck des Schlages stand und wegen diesem und dem gesamten gemeinschaftlichen Vorgehen des Angeklagten und seines Zimmergenossen Angst verspürte, wieder in den Schrank ein, wo der Geschädigte zusammengekauert weitere 15 Minuten verbrachte. Abermals war der Schrank über die Gesamtdauer des Einschlusses mit einer Gabe verriegelt, so dass der Geschädigte nicht eigenständig herausklettern konnte, worauf es ... und dem Angeklagten ankam. Aufgrund der unbequemen Haltung im Schrank erlitt der Geschädigte Rückenschmerzen.
82 
Nachdem ... 15 Minuten im Schrank verbleiben musste, holte ... ihn wieder aus dem Schrank und zog ihn zum Fenster. Dort beratschlagte er sich erneut mit dem Angeklagten und auch mit dem nunmehr hinzugekommenen ..., wie sie den Geschädigten weiter quälen könnten. ... hatte sich kurz zuvor dazu entschlossen, an den durch ... ausgeführten Misshandlung mitzuwirken und diesen ebenfalls mit Ideen zu unterstützen und ihn in seinem Tun zu bestärken. ... schlug er ... vor, dem „Vergewaltiger“ ... die „Klobürste in den Arsch (zu) stecken“. Der Angeklagte nahm diesen Vorschlag auf und schwächte ihn dahingehend ab, ... solle den Geschädigten dazu zwingen, „die Klobürste und die Klobrille ab(zu)lecken“, wozu er ... dann aufforderte. Wie von dem Angeklagten und ... beabsichtigt, forderte nunmehr ... den Geschädigten dazu auf, die Toilettenbürste und die Toilettenbrille abzulecken. Um ihn dazu zu bringen dies zu tun drohte ... dem Geschädigten an, ihn im Weigerungsfalle weiter zu schlagen. Aus Angst vor Schlägen kam der Geschädigte der Forderung seiner Mithäftlinge nach und leckte sowohl an der Toilettenbürste als auch an der Toilettenbrille, was er eklig fand. Darauf kam es dem Angeklagten, ... und ... an.
83 
Danach sperrte ... den unter dem Eindruck der vorangegangenen Misshandlung stehenden Geschädigten, der ihm aufgrund dessen keine Gegenwehr mehr entgegenbrachte, für weitere 5 Minuten mithilfe der Gabel in den Schrank ein, um ihn an einer freien Fortbewegung zu hindern und sich mit ... und dem Angeklagten weiter ungestört beraten zu können, wie er den Geschädigten misshandeln könne. Nach Ablauf der 5 Minuten öffnete ... die Schranktür und brachte den Geschädigten vom Schrank wieder an das Fenster, wo dieser - wie zuvor zwischen ..., ... und ... besprochen - erneut von der „Vergewaltigung“ berichten sollte. ..., ... und dem Angeklagten passt es jedoch nicht, dass der Geschädigte noch immer nicht zugab, ein „Vergewaltiger“ zu sein, weshalb ... auf Aufforderung des ... und im Einverständnis mit ... zunächst mehrmals mit der flachen Hand ins Gesicht des Geschädigten schlug. Anschließend verlegte sich ... darauf, mit einem Stoffgürtel auf den Geschädigten einzuschlagen, was ebenfalls die Billigung von ... und dem Angeklagten fand. Durch die Schläge erlitt der Geschädigte Schmerzen, worauf es sowohl ..., als auch ... und dem Angeklagten maßgeblich ankam.
84 
Sodann forderte ... den Geschädigten auch auf, in die Hocke zu gehen und tief ein- und auszuatmen, danach soll er aufstehen und dabei die Luft anhalten, worum es sich um einen „Pilotentest“ handele. Der nunmehr seit über einer Stunde misshandelte Geschädigte kam der Aufforderung des ... aus Angst vor diesem und dessen Gewalttaten nach. Während der Geschädigte Aufstand drückte ... diesem kräftig gegen den Solarplexus, woraufhin der Geschädigte ohnmächtig wurde und zu Boden fiel, was ..., der den Geschädigten nach dessen Erwachen auslachte, gleichgültig war. Erneut besprach sich daraufhin ... am Fenster mit ... und dem Angeklagten, was er dem Geschädigten noch antun könnte.
85 
Im Zuge dieses Gespräches forderte der Angeklagte ... auf, er solle mit dem Geschädigten Karten spielen und der Geschädigte müsse bei einem niedrigeren Kartenwert durchführen, was auch immer ... den Geschädigten befehle. Dem Angeklagten war dabei bewusst, dass ... dem ... auch bei diesem „Spiel“ Schmerzen zufügen wird, was dem Angeklagten jedoch gerade recht war. Der Angeklagte wusste auch, dass ... mit den Quälereien nicht einverstanden war, diese aber nur aus Angst vor dem Angeklagten und ... ertrug.
86 
In Ausführung dieses Tatentschlusses begann ... mit ... Karten zu spielen, worauf sich der Geschädigte aus Angst vor ... einließ. Als ... eine niedrigere Karte zog als ... forderte dieser den Geschädigten auf, seinen Mund zu öffnen. Nachdem der Geschädigte, der es - unter dem Eindruck der vorangegangenen Misshandlung völlig verängstigt - nicht mehr wagte, Widerspruch oder Gegenwehr zu leisten, seinen Mund öffnete, spukte ... ihm in den offenen Mund, woraufhin der Geschädigte sofort ein starkes Ekelgefühl verspürte, was ... und dem Angeklagten gleichgültig war.
87 
Im Zuge dieses Spiels schlug ... dem Geschädigten auch die im Haftraum befindliche Kehrschaufel so heftig auf den Kopf, dass diese dabei kaputtging.
88 
Als ... erneut einen niedrigeren Kartenwert zog, forderte ... diesen auf, sich kochendes Wasser über die Hand zu schütten. Aufgrund seiner großen Angst vor seinem Zellengenossen erhitzte der Geschädigte Wasser und goss es sich noch kochend über die Fingerspitzen, was derart schmerzte, dass er den Wasserkocher unmittelbar fallen ließ. Dies war dem Angeklagten, ... und ... gleichgültig. Aufgrund der großen Schmerzen begann sich der Geschädigte seine Fingerspitzen mit kaltem Wasser zu kühlen.
89 
Erst gegen 4:00 Uhr in der Nacht endeten die Misshandlungen des ... und er ließ von dem Geschädigten ab.
90 
Zu einem nicht mehr genau einzuordnenden Zeitpunkt während der Misshandlung in dieser Nacht erklärte ... dem Geschädigten, er müsse ihm „wahrscheinlich die Kehle durchschneiden“, weil dieser ihn bei den Beamten verraten könnte. Diese Drohung sprach ... aus, um den Geschädigten in Angst um sein Leben zu versetzen und ihn so davon abzuhalten, sich den Vollzugsbeamten anzuvertrauen. ... wollte dadurch erreichen, dass sein Tun unentdeckt bleibt. Wie von ... gewollt, vertraute sich der Geschädigte aus Angst vor ihm am nächsten Tag keinem Beamten an.
91 
Durch die Gewalthandlungen erlitt der Geschädigte eine Prellung am linken Ohr, ein Hämatom unterhalb der Rippen am Rücken rechts, ein Hämatom am Schienbein rechts, sowie Schmerzen, darauf kam es ... und dem Angeklagten an.“
92 
Aus diesen Ausführungen, die - soweit hier wiedergegeben - nur die Taten betreffen, die (noch) im Bundeszentralregister eingetragen sind, ergibt sich, dass eine ganz erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit vom Antragsteller ausgeht. Dessen Taten waren von außerordentlicher Brutalität, Gewaltbereitschaft und Rohheit geprägt. Obwohl der Antragsteller mehrfach verurteilt wurde, hat er sich die jeweiligen (rechtskräftigen) Verurteilungen nicht zur Warnung gereichen lassen und sie nicht zum Anlass genommen, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland künftig zu achten, sondern er hat im Gegenteil stets neue Straftaten begangen, bei denen er zunehmend skrupelloser vorging. Dass vom Antragsteller eine besonders schwerwiegende Gefahr für Rechtsgüter Dritter, insbesondere für die körperliche Unversehrtheit und das Vermögen bzw. Eigentum ausgeht, wird besonders daran deutlich, dass er nur neun Tage nach seiner Verurteilung am 15. Mai 2018 wegen schwerer räuberischer Erpressung, versuchter schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen, versuchten Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung, versuchter Gefangenbefreiung sowie Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gemeinsam mit einem anderen Gefangenen den damals erst 16-jährigen Mithäftling ... körperlich misshandelt hat und damit zum Ausdruck gebracht hat, dass er keine Hemmungen hat, die körperliche Unversehrtheit anderer zu verletzen. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass er in der Folgezeit in der Haft nicht nur eine schwere räuberische Erpressung zu Lasten des ... begangen, sondern sich auch ganz maßgeblich an folterähnlichen Quälereien zu Lasten des damals erst 16-jährigen ... beteiligt hat. Auch das Landgericht ... geht davon aus, dass vom Antragsteller gleich massive Vorfälle mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in der Zukunft zu erwarten sind, wenn eine längere Gesamterziehung keinen Erfolg hat (vgl. UA des Landgerichts ..., S. 36). Dass der Antragsteller selbst in der Hauptverhandlung die über Stunden andauernden Misshandlungen des ... nach eigenen Angaben „ganz ehrlich“ als „lustig“ bezeichnet hat, er habe vielmehr gar „nicht anders gekonnt“, als diesem „ein paar mitzugeben“ und sich daher nicht in der Lage sah, beim Geschädigten zu entschuldigen (vgl. UA des Landgerichts ..., S. 21), zeigt, dass dieser nicht nur nicht willens und in der Lage ist, die Rechtsordnung einzuhalten, sondern sich auch noch über seine Opfer lustig macht und keine Einsicht zeigt.
93 
Dass es sich bei den vom Antragsteller begangenen Straftaten keineswegs um bloß „durchschnittliche“ Kriminalität handelt, wird schon dadurch deutlich, dass das Landgericht ... sich genötigt sah, eine Einheitsjugendstrafe von 6 Jahren und 9 Monaten zu verhängen, die nur 3 Jahre und 3 Monate unter der möglichen Höchststrafe (vgl. § 18 Abs. 1 JGG) liegt. Auch ist zu sehen, dass es sich bei den vom Antragsteller begangenen Straftaten zu einem erheblichen Teil um solche handelt (Einsteigediebstahl, schwere räuberische Erpressung), die geeignet sind, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Besonders schwerwiegend ist, dass der Antragsteller die Situation der Haft dazu ausgenutzt hat, sich federführend an Misshandlungen an einem minderjährigen Gefangenen zu beteiligen, die folterähnlich waren und darum in besonderer Weise die Menschenwürde angreifen. Soweit der Antragsteller darauf verweist, der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg habe eine schwere räuberische Erpressung als nicht ausreichend angesehen, um eine Verlustfeststellung aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zu rechtfertigen (vgl. Beschluss vom 27. April 2016 - 11 S 2081/15 -, juris, Rn. 27 f.), ist dies - unabhängig davon, ob die Kammer dieser Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg folgen kann - schon deshalb unbehelflich, weil es sich insoweit nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg um eine singuläre Tat mit begrenzter Wirkung gehandelt hatte, von der ein Gefährdungspotential für die Allgemeinheit nicht ausgegangen war und bei der nach dem Tatplan außer der Angestellten einer Spielhalle - die auch nicht unmittelbar physisch zu Schaden gekommen war - keine weiteren unbeteiligten Personen betroffen waren. Davon kann im Fall des Antragstellers keinesfalls ausgegangen werden. Dieser hat vielmehr über Jahre hinweg in gewalttätiger Weise Straftaten begangen und ist auch nicht davor zurückgeschreckt, völlig anlasslos einen Mithäftling, den er zuvor schon mehrfach gewalttätig angegriffen hatte, über Stunden mit folterähnlichen Quälereien zu misshandeln. Ausgehend hiervon ist wohl auch unter Berücksichtigung des langjährigen Aufenthalts des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland sowie seiner familiären Bindungen zu seiner Mutter und seinem Stiefvater und unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK die Verlustfeststellung aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erforderlich. Dem Antragsteller ist eine Rückkehr nach ... zumutbar, zumal er nach eigenen Angaben die kroatische Sprache beherrscht (vgl. Bl. 31 d.A.: „spricht wesentlich besser deutsch als kroatisch“). Daraus, dass - nach Angaben des Antragstellers - die Vorbereitung für eine Entzugstherapie läuft und das Landgericht ... insoweit mit Beschluss vom 11. Mai 2020 der Zurückstellung der Jugendstrafe nach § 35 BtMG zugestimmt hat, folgt nicht, dass die Verlustfeststellung nicht zwingend erforderlich wäre. Vielmehr ist regelmäßig gerade dann, wenn Straftaten auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht auszugehen, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 6. Juni 2019 - 10 C 19.1081 -, juris, Rn. 7). Vorliegend ist das Ergebnis der - angestrebten - Therapie völlig offen. Unabhängig davon sind die Taten, die der letzten Verurteilung des Antragstellers zu Grunde liegen, nicht aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen worden.
94 
Die vom Antragsteller begangenen besonders schwerwiegenden Straftaten und die hieraus folgende Gefährdung für die öffentliche Sicherheit ist wohl auch nicht dadurch „verbraucht“, dass das Regierungspräsidium den Antragsteller mit Schreiben vom 8. Oktober 2018 verwarnt hat. Zwar ist ein Ausweisungsgrund „verbraucht“, wenn die Ausländerbehörde einen ihr zurechenbaren Vertrauenstatbestand geschaffen hat, aufgrund dessen der Ausländer annehmen kann, ihm werde ein bestimmtes Verhalten im Rahmen einer Ausweisung nicht entgegengehalten (vgl. BVerwGE 157, 325 <339 f. Rn. 39>; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15. November 2017 - 11 S 1555/16 -, juris, Rn. 34 ff.). Ob dies auch für Verlustfeststellungsgründe gilt - wofür einiges sprechen dürfte - bedarf hier keiner Entscheidung. Denn jedenfalls begründet das Schreiben des Regierungspräsidiums vom 8. Oktober 2018 kein schutzwürdiges Vertrauen dahingehend, dieses werde dem Antragsteller die bis dahin ergangenen rechtskräftigen Verurteilungen in Zukunft nicht mehr vorhalten. In dem Schreiben heißt es wörtlich:
95 
„[...] das gegen Sie eingeleitete Verlustfeststellungsverfahren haben wir nach abschließender Prüfung (noch) eingestellt. [...]
96 
Sollten Sie in Zukunft die Deutsche Rechtsordnung erneut missachten und eine strafbare Handlung begehen, die zu einer weiteren Freiheitsstrafe führt, wird das Regierungspräsidium erneut eine Verlustfeststellung prüfen. Mit einer Einstellung des Verfahrens und einem Verbleib im Bundesgebiet können Sie dann nicht mehr rechnen. Die daraus resultierenden Folgen (u.a. Reintegration in Kroatien) haben Sie sodann selbst zu vertreten.
97 
Sie werden daher ausdrücklich verwarnt und aufgefordert, sich künftig in der Bundesrepublik Deutschland rechtskonform zu verhalten. [...]“
98 
Diese Formulierung gibt für die Annahme, das Regierungspräsidium wolle dem Antragsteller seine bisherigen strafrechtlichen Verurteilungen künftig nicht mehr vorhalten nichts her. Im Gegenteil weist das Regierungspräsidium ausdrücklich darauf hin, dass bei weiteren Rechtsverstößen eine erneute Prüfung der Verlustfeststellung erfolgen werde. Auch kann der Antragsteller nichts für sich daraus herleiten, dass das Regierungspräsidium von einer „Freiheitsstrafe“ spricht, der Antragsteller tatsächlich jedoch zu einer Jugendstrafe verurteilt worden ist. Es liegt auf der Hand, dass das Regierungspräsidium das Wort „Freiheitsstrafe“ nicht in Abgrenzung zur Jugendstrafe, sondern zur Geldstrafe benutzt hat.
99 
Das Regierungspräsidium dürfte darüber hinaus das ihm eingeräumte Ermessen erkannt und fehlerfrei ausgeübt haben. Insbesondere dürfte sich der Verlustfeststellung wohl (noch) hinreichend entnehmen lassen, dass das Regierungspräsidium von zutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Maßstäben ausgegangen ist. Zwar hat das Regierungspräsidium ausgeführt, vom Antragsteller gehe eine schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. S. 14 des angegriffenen Bescheids), was darauf hindeuten könnte, dass es vom rechtlichen Maßstab des § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU ausgegangen ist. Wie sich aus den Ausführungen zu § 6 Abs. 4 und 5 FreizügG/EU auf Seite 17 des Bescheids ergibt, hat das Regierungspräsidium aber erkannt, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit die Verlustfeststellung tragen können. Indem es ausführte, der Antragsteller sei zu einer Einheitsjugendstrafe von 6 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden und damit lägen die Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung im Falle eines zehnjährigen Mindestaufenthalts vor, hat es hinreichend klar zu erkennen gegeben, dass es seine Ermessensentscheidung (auch) am Maßstab des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ausgerichtet hat. Es dürfte wohl auch nicht zu einem Ermessensfehler führen, dass das Regierungspräsidium zwei Verurteilungen aufgeführt hat, die nicht (mehr) im Bundeszentralregister eingetragen sind. Zwar dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte Eintragungen berücksichtigt werden. Dem Bescheid dürfte sich jedoch hinreichend entnehmen lassen, dass das Regierungspräsidium seine Entscheidung nicht auf Straftaten gestützt hat, die nicht (mehr) im Bundeszentralregister eingetragen sind. Denn es befasst sich in der Begründung der Entscheidung ganz überwiegend mit der Verurteilung durch das Landgericht ... und führt lediglich aus, dass der Antragsteller mehrfach vorbestraft sei, was jedoch auch ohne die nicht im Bundeszentralregister enthaltenen Verurteilung ersichtlich der Fall ist. Auch soweit das Regierungspräsidium - ergänzend - auf weitere Verurteilungen eingeht (vgl. S. 14 des Bescheids) handelt es sich ersichtlich lediglich um solche, die (noch) im Bundeszentralregister eingetragen sind.
100 
cc) Es liegt auch ein besonderes Interesse am Sofortvollzug vor. Dieses setzt ein besonderes öffentliches Interesse gerade an der Aufenthaltsbeendigung vor Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens voraus (vgl. Kurzidem, in: BeckOK Ausländerrecht, § 6 FreizügG/EU [26. Edition 1. Juli 2020], Rn. 37). Davon ist vorliegend auszugehen. Wie ausgeführt geht vom Antragsteller die Gefahr der Begehung schwerster Straftaten aus. Selbst in der Haft war der Antragsteller nicht bereit, sich an die Rechtsordnung zu halten. Dies ergibt sich nicht nur aus einer Vielzahl disziplinarischer Maßnahmen (vgl. Bl. 319- 379 BA), sondern insbesondere auch daraus, dass er sich sogar während seines Aufenthalts in der Justizvollzugsanstalt nicht von der Begehung besonders gravierender Straftaten abhalten ließ. Angesichts dessen besteht ein erhebliches überwiegendes öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers vor Abschluss des Rechtbehelfsverfahrens.
101 
b) Soweit der Kläger sich gegen die Abschiebungsandrohung nach Kroatien und die Anordnung der Abschiebung aus der Haft wendet (Ziff. II, III und IV des Bescheids), ist sein Antrag ebenfalls unbegründet. Das öffentliche Interesse am kraft Gesetzes (vgl. § 80 Abs. 5 Satz 1; Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 12 LVwVG) bestehenden Sofortvollzug der Abschiebungsandrohung bzw. Anordnung der Abschiebung aus der Haft überwiegt das Suspensivinteresse des Antragstellers. Auch insoweit erweist sich der angegriffene Bescheid bei summarischer Prüfung als voraussichtlich rechtmäßig. Gründe, ausnahmsweise gleichwohl die aufschiebende Wirkung anzuordnen, bestehen nicht.
102 
aa) Die in Ziff. II des Bescheids enthaltene Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage ebenso in § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU wie die Anordnung der Abschiebung aus der Haft (Ziff. III des Bescheids). Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg ist Rechtsgrundlage für eine Abschiebungsandrohung im Anwendungsbereich des FreizügG/EU ausschließlich § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU; diese kann nicht auf §§ 58, 59 AufenthG gestützt werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30. April 2014 - 11 S 244/14 -, juris, Rn. 98 ff., a.A.: Hessischer VGH, Urteil vom 18. August 2011 - 6 B 821/11 -, juris, Rn. 20). Nach Auffassung der Kammer gilt dies auch, wenn die Abschiebung aus der Haft angeordnet wird (a.A. Bayerischer VGH, Beschluss vom 30. September 2019 - 10 C 19.1919 -, juris, Rn. 10; VG Augsburg, Urteil vom 14. November 2017 - Au 1 K 17.249 -, juris, Rn. 44 [Rechtsgrundlage ist in § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 58 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 AufenthG zu suchen]). Daraus folgt, dass dem Antragsteller - zwingend - eine Ausreisefrist zu setzen ist (vgl. Epe, in: GK-AufenthG, § 7 FreizügG/EU [38. Lieferung November 2009], Rn. 24; BVerwG, Urteil vom 12. Juni 1979 - I C 70.11 -, juris, Rn. 18 [zur Vorgängervorschrift § 12 Abs. 7 AufenthG/EWG]; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. November 1991 - 13 S 2481/91 -, juris, Rn. 14 [zur Vorgängervorschrift § 12 Abs. 7 AufenthG/EWG]). Dies ist hier geschehen. Dagegen lässt sich der Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 3 und 4 FreizügG/EU nicht entnehmen, dass dem Betroffenen in jedem Fall Gelegenheit zur freiwilligen Ausreise gegeben werden muss. Es ist daher unschädlich, wenn die Ausreisefrist in die Zeit der Haft fällt (vgl. Epe, in: GK-AufenthG, § 7 FreizügG/EU [38. Lieferung November 2009], Rn. 25; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. November 1991 - 13 S 2481/91 -, juris, Rn. 14 [zur Vorgängervorschrift § 12 Abs. 7 AufenthG/EWG).
103 
Keiner Entscheidung bedarf, ob die zur RL 2018/115/EG ergangene Gnandi-Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 19. Juni 2018 - C-181/16 -, juris) und die daran anschließende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 20. Februar 2020 - 1 C 19.19 -, juris) auch im Rahmen der Setzung einer Ausreisefrist nach § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU grundsätzlich erfordert, dass der Lauf der Ausreisefrist erst mit Abschluss eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO beginnt. Denn für den Fall, dass - wie hier - eine Verlustfeststellung aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erfolgt, gebietet das Unionsrecht nicht, dass die Abschiebung vor Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nicht vollzogen wird (vgl. Art. 31 Abs. 2 dritter Spiegelstrich RL 2004/38/EG). Dass nach - nationalem - Recht eine Abschiebung auch in diesen Fällen erst nach Entscheidung über einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zulässig ist (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU), ändert hieran nichts.
104 
bb) Kann - wie ausgeführt - die Zeit der nach § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU zu setzenden Ausreisefrist auch in die Zeit der Haft fallen, dann bedurfte es der ergänzenden Setzung einer (weiteren) Ausreisefrist in Ziff. IV des Bescheids nicht. Dass das Regierungspräsidium dem Antragsteller eine weitere Ausreisefrist von einer Woche gesetzt hat, begünstigt ihn ausschließlich und ist deshalb nicht zu beanstanden. Die Androhung kann insbesondere nicht dahingehend verstanden werden, dass das Regierungspräsidium sich - abweichend von Ziff. I des Bescheids - für den Fall, dass der Antragsteller vor Ablauf der Monatsfrist aus der Haft entlassen wird, vorbehält, dessen Abschiebung vor Ablauf von einem Monat nach Zustellung des Bescheids durchzuführen. Es ergibt sich zweifelsfrei aus dem Bescheid, dass das Regierungspräsidium Ziff. IV des Bescheids als „Ersatzregelung“ für den Fall vorgesehen hat, dass die Abschiebung des Klägers nach Ablauf der Monatsfrist aus der Haft heraus nicht möglich ist.
105 
cc) Gründe, trotz der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit die aufschiebende Wirkung hinsichtlich Ziff. II, III und IV des Bescheids anzuordnen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
106 
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Den Streitwert setzt die Kammer nach §§ 63 Abs. 2; 52 Abs. 2 Nr. 2; 52 Abs. 2 GKG auf 5.000 EUR fest. Dies entspricht dem Streitwert der Hauptsache (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 7. Januar 2020 - 11 S 2544/19 -, juris, Rn. 49). Eine Halbierung des Streitwerts kommt im Hinblick auf den langjährigen legalen Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik nicht in Betracht.

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