Urteil vom Verwaltungsgericht Freiburg - A 14 K 900/22

Tenor

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23.03.2022 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig.
Der Kläger reiste nach eigenen Angaben vor Weihnachten 2021 über die Türkei und Bulgarien über die weitere Balkanroute auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Er gab an, 1996 geborener afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit zu sein. Er stellte am 29.11.2021 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 17.03.2022 gab der Kläger ausweislich des in den Akten befindlichen Protokolls an, Afghanistan ca. eine Woche nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 verlassen zu haben. Er habe in der Stadt Kundus gelebt, wo sich seine Eltern, zwei Brüder und eine Schwester bis jetzt aufhalten würden. Nach zwölf Jahren Schulbesuch, die er mit dem Abitur abgeschlossen habe, sei er zum Militär gegangen. Die Taliban würden jetzt nach allen Leuten suchen, die für die Regierung gearbeitet haben, und Angehörige von Polizei und Militär wie er würden von ihnen immer als Gegner der Taliban angesehen. Er würde daher mit hundertprozentiger Sicherheit verhaftet und in der Haft gefoltert, anschließend zum Tode verurteilt und getötet werden.
In Bulgarien sei er zur Asylantragstellung gezwungen worden. Zwei Polizisten der Grenzpolizei hätten ihn geschlagen und zu einem Polizeirevier gebracht. 32 Tage lang sei er dann im Gefängnis gewesen; dort habe man ihm gesagt, dass er einen Asylantrag stellen müsse, wenn er nicht nach Afghanistan abgeschoben werden wolle. Im Gefängnis habe er dann auch eine Anhörung gehabt, man habe ihn nach seinem Reiseweg und zu seinen Fluchtgründen gefragt. Dort habe er gesagt, dass er nach Deutschland gehen möchte. Es sei ihm nicht gut gegangen, er habe Schmerzen aufgrund der erlittenen Schläge insbesondere in der Schulter gehabt. Er habe so viel erlebt, dass er psychisch angeschlagen sei, er wolle sich deshalb behandeln lassen. Einen schriftlichen Bescheid habe er in Bulgarien nicht erhalten.
Das Bundesamt richtete am 20.01.2022 ein Wiederaufnahmeersuchen nach der Dublin III-VO an Bulgarien. Die bulgarischen Behörden antworteten nach Feststellung des Bundesamts nicht fristgerecht, damit ging die Zuständigkeit mit Ablauf des 03.02.2022 gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO auf Bulgarien über. Die österreichischen Behörden lehnten mit Schreiben vom 24.01.2022 das Übernahmeersuchen unter Verweis auf die Zuständigkeit Bulgariens ab.
Mit Bescheid vom 23.03.2022, zugestellt ausweislich der Postzustellungsurkunde am 28.03.2022, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Bulgarien wurde angeordnet (Nr. 3), das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Am 28.03.2022 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Freiburg erhoben und zugleich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung beantragt. Zur Begründung hat er sich auf die bisherigen Angaben im Asylverfahren bezogen und sodann ergänzend vorgetragen, von zwei Grenzpolizisten der Art geschlagen worden zu sein, dass er 32 Tage später bei Entlassung aus dem Gefängnis immer noch unter Schmerzen, insbesondere an der Schulter, gelitten habe. Die Misshandlung durch die Grenzpolizei und die 32-tägige Haft hätten ihm nicht nur körperlich, sondern auch psychisch zugesetzt, mit Folgen, die bis heute andauern. So löste die Vorstellung, nach Bulgarien zurück zu müssen, Angstzustände aus. Weiter wird auf die geringe Schutzquote afghanischer Flüchtlinge in Bulgarien hingewiesen, die ein Bruchteil der Schutzquote in der EU insgesamt betrage. Es bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Abschiebung des Klägers aus Bulgarien nach Afghanistan unter Verletzung des Refoulement-Verbots. Zur Unterstützung seines Vortrags hat der Kläger einen Auszug aus Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, von Mathias Fiedler und Marc Speer, Juni 2020, übersandt.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23.03.2022 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
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die Klage abzuweisen.
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Das Verwaltungsgericht Freiburg hat mit Beschluss vom 25.04.2022 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet (A 14 K 901/22).
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Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 05.07.2022 auf mündliche Verhandlung verzichtet, der Kläger mit Schreiben vom 07.09.2022.
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Dem Gericht liegen die einschlägigen Akten des Bundesamts vor. Diese Akten werden ebenso wie die Erkenntnismittel, die in der mit dem Schreiben vom 24.06.2022 mitgeteilten und auf der Homepage des VGH Mannheim veröffentlichten und jeweils aktualisierten Liste (Bulgarien, Quartal 3 - 2022) aufgeführt sind, zum Gegenstand der Entscheidung gemacht.
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Hierauf sowie auf die Gerichtsakte und die gewechselten Schriftsätze wird wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
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Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis gegeben haben (§ 87 a Abs. 2 und 3 sowie § 101 Abs. 2 VwGO).
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I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2017 - 1 C 9.17 - NVwZ 2017, 1625).
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II. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 23.03.2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Das Bundesamt durfte den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen. Die Voraussetzungen für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig liegen im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor. Nicht Bulgarien, sondern Deutschland ist für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständig.
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1. Zwar durfte das Bundesamt gemäß der sekundären Zuständigkeitskriterien der Art. 18 Abs. 1 b) und 25 Abs. 2 Dublin III-VO zunächst davon ausgehen, dass Bulgarien für die Wiederaufnahme des Klägers und die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig ist, nachdem Bulgarien das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 20.01.2021 nicht fristgerecht beantwortet hatte. Eine weitere Überprüfung der Zuständigkeit Bulgariens erfolgt insoweit nicht, da nach der Formulierung in Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO sowie nach der im Wiederaufnahmeverfahren strukturell gegebenen vorrangigen Prüfungskompetenz des Erstantragsstaats eine Überprüfung der primären Zuständigkeit durch den Zweitantragsstaat im Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich nicht vorgesehen ist (EuGH, Urteil vom 02.04.2019 - Rs C-582/17 – , juris Rn. 58 ff; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, AsylG § 29 Rn. 28).
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2. Es kommt aber vorliegend die Regelung des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO zum Tragen. Danach darf ein Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht überstellt werden, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen. In diesem Fall ist – wenn sich die Zuständigkeit eines weiteren Mitgliedstaats nicht feststellen lässt – gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat auch zur Prüfung des Antrags in der Sache berufen. Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO sind im Fall des Klägers sogar unter mehreren Gesichtspunkten erfüllt, denn das bulgarische Asylsystem leidet unter systemischen Mängeln in Hinsicht auf afghanische Asylantragsteller im Besonderen sowie im allgemeinen aufgrund der Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte, zumal bei besonderer Vulnerabilität.
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a) Bereits die Aufnahmebedingungen in Bulgarien während eines laufenden Asylverfahrens genügen nicht den Anforderungen des Art. 4 GrCh. Das Asylverfahren in Bulgarien weist in den Fällen, in denen ein Asylbewerber aus dem Herkunftsstaat Afghanistan in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hat, systemische Schwachstellen auf.
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Dabei bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass Bulgarien weder während eines Asylverfahrens noch nach dem bestandskräftigen Abschluss eines Asylverfahrens die aus Art. 3 EMRK folgenden Rechte der (abgelehnten) Asylbewerber wahrt bzw. bei der Durchführung von Abschiebungen berücksichtigt. Insbesondere ist die Beachtung des sog. Refoulment-Verbots (Art. 33 Abs. 1 GFK), wonach keine Abschiebung in ein Land erfolgen darf, in dem das Leben oder die Freiheit des Betroffenen aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmen Bevölkerungsgruppe oder politischen Ansichten in Gefahr wären, in Bulgarien nicht gewährleistet.
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Der Kläger muss damit rechnen, dass sein Asylantrag in Bulgarien in Abwesenheit abgelehnt worden ist. Dies entspricht dem grundsätzlichen Verfahren der bulgarischen Behörden hinsichtlich von afghanischen Staatsangehörigen gestellten Asylanträgen. Bulgarien hat 2016 insgesamt 2,5% sowie 2017 nur 1,5 % der afghanischen Asylantragsteller die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzstatus zuerkannt, im Jahr 2019 ansteigend auf 4 %, allerdings größten Teils erst aufgrund gerichtlicher Entscheidungen (AIDA, Country Report Bulgaria 2021, 21.02.2020, S. 49), im Jahr 2020 dann erneut lediglich 1,15 % (AIDA, aaO). Unionsweit betrug die Anerkennungsquote im Jahr 2016 hingegen 56 % (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, S. 6, aufrufbar: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/DG-HOME-Letter-to-BG-6-July-2017.pdf), im Jahr 2019 46% (AIDA, aaO, S. 49 f.). Die Europäische Kommission hatte im Juli 2017 ein Ermahnungsschreiben an Bulgarien gerichtet (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, aaO, S. 6 f.), das Grund für den kurzzeitigen Anstieg im Jahr 2019 gewesen sein dürfte. Der Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 von Amnesty International führt an, dass es zu Diskriminierung bei der Anerkennung von Asylsuchenden komme. Staatsbürger aus Pakistan, dem Irak und Algerien würden eine automatische Ablehnung erhalten. Zudem sei die Anerkennungsquote von Asylsuchenden aus Afghanistan signifikant niedriger als im Rest der EU (AI 2020: Human Rights Review in Europe – Review of 2019 – Bulgaria, S. 1, verfügbar in der Asyldokumentation). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) gelten Anträge von Asylsuchenden aus Afghanistan, der Türkei, der Ukraine, China und Algerien für die Asylbehörde SAR als offensichtlich unbegründet. Asylsuchende aus diesen Ländern liefen zudem Gefahr, dass ihr Antrag während der Administrativhaft geprüft wird. Diese Praxis werde als Abschreckungsmethode angewandt (SFH (2019): Bulgarien – Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, S. 17). Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich dies nach der Machtübernahme der Taliban geändert haben könnte, aktuelle Erkenntnismittel stellen vielmehr fest, dass die Asylanträge der afghanischen Asylwerber weiterhin in beschleunigten Verfahren ganz überwiegend sogar als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, da Bulgarien die Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklärt hat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 9).
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In Bezug auf afghanische Staatsangehörige leidet das bulgarische Asylverfahren somit an grundlegenden Mängeln, afghanische Schutzsuchende müssen zu fast 100 % davon ausgehen, dass ihr Asylgesuch faktisch ohne inhaltliche Prüfung abgelehnt wird. Hier liegt gerade nicht der Fall vor, dass dem Asylantragsteller unter Zuerkennung subsidiären Schutzes lediglich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft systematisch und ohne echte Prüfung verweigert wird, der daraus folgende Verstoß gegen die Pflichten des Mitgliedsstaates nach Art. 18 der EU-GrCh jedoch nicht einer Beurteilung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig entgegensteht (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a., Rn. 85 über juris – Ibrahim, Rn. 99 f.). Vielmehr besteht in Fällen der systematischen Ablehnung des Asylgesuchs ohne echte inhaltliche Prüfung im zunächst aufnehmenden Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen das Refoulementverbot durch Abschiebung in den Herkunftsstaat.
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b) Sollte das Asylverfahren des Klägers in Bulgarien mittlerweile aufgrund seiner Ausreise aus Bulgarien abgelehnt worden sein, ist dem Kläger lediglich die Möglichkeit gegeben, einen Folgeantrag zu stellen. In Bulgarien ist jedoch kein Anspruch auf ein faires und substantielles Asylfolgeverfahren für Antragsteller aus dem Herkunftsland Afghanistan gegeben
27 
Nach den vorliegenden Erkenntnissen drohen für im Dublin-Verfahren rücküberstellte Asylantragsteller, nach der Ankunft bis zum Erhalt einer Registrierungskarte als Asylsuchende in Vorabschiebehaft genommen zu werde; dabei werden sie jedoch nicht über ihre Rechte und Pflichten informiert (Valeria Ilareva, Rechtsgutachten zum Rechtsstatus der Dublin-Rückkehrer nach Bulgarien, 30.06.2016, S. 7). Nach neueren Erkenntnissen erhalten Folgeantragsteller hingegen keine Registrierungskarte und haben auch kein Recht auf materielle Versorgung. Sie haben lediglich ein Recht auf Übersetzerleistungen, während die Zulässigkeit ihres Folgeantrags im Eilverfahren geprüft wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 10). Soweit eine Entscheidung über das Asylgesuch in Abwesenheit gefällt und zugestellt worden ist, muss der Betroffene ohnehin damit rechnen, in Administrativhaft genommen zu werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 18). Zudem besteht ein relevantes Risiko von Personen aller Herkunftsländer, ohne sachliche Prüfung ihres Asylbegehrens als Folgeantragsteller behandelt und in einer Hafteinrichtung festgehalten zu werden, wo ihnen eine erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-GrCh droht (so für Personen, die sich während der Prüfung ihres Antrags in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, auch VG Freiburg, Urteil vom 04.02.2016 - A 6 K 1356/14 -, VG Minden, Urteil vom 21.09.2016 - 3 K 2346/15.A -, VG Göttingen, Urteil vom 14.03.2017 - 2 A 141/16 -; jeweils juris; VG Sigmaringen, Beschluss vom 09.06.2017 - A 2 K 3727/17 -).
28 
c) Darüber hinaus ist bei der Beurteilung der Dublin-Rückführung auch bereits die Situation nach einem erfolgreichen Asylantrag mit in den Blick zu nehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 - juris, Rn. 87 ff.), so dass sich auch hieraus der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nach Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt.
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Es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannte Antragsteller in Bulgarien die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Dies hat zur Folge, dass keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540 und 541/17 – Adel Hamid und Amar Omar, NVwZ 2020, 137) und damit vorliegend auch keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ergehen darf.
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Dabei gilt nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Kontext des gemeinsamen europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 und der EMRK steht. An die Widerlegung dieser Vermutung sind wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat für Asylantragsteller aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass auch dem Antragsteller im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GrCh droht. Es müssen also Defizite vorliegen, die vorhersehbar sind, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und daher wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizierbar sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 37, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 9.
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aa) Der EuGH (hierzu und zum Folgenden: Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 – Jawo, Rn. 87 f.; Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a. – Ibrahim, Rn. 86 f.) hat nunmehr geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach der Dublin III-Verordnung zulässig ist. Diese Maßgaben sind auch auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Danach darf das nationale Gericht die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta und Art. 3 EMRK nur annehmen, wenn es auf einer entsprechenden Tatsachengrundlage feststellt, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist dagegen selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Die Feststellung des Fehlens von Formen familiärer Solidarität oder von Mängeln bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten vermögen keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass im Fall der Überstellung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta bestünde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.2019 – A 4 S 1329/19).
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dabei für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten gesehen, weil sich diese durch die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31 S. 18) (heute: Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [ABl. L 180 S. 96]) zur Gewährleistung bestimmter Minimalstandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet haben. Bei diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis können schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erfüllen, wenn die Betroffenen – in einem vollständig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit und Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland - juris Rn. 250 ff.; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 24).
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Diese Rechtsprechung ist auf international Schutzberechtigte zu übertragen, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Anerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 -1 B 25.18 - juris Ls. 1 und Rn. 11). Auch für diesen Personenkreis ergibt sich eine gesteigerte Schutzpflicht der EU-Mitgliedstaaten, der sie sich in Gestalt der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) unterworfen haben. Auch bei ihnen kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht sein, wenn sie ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Dabei bedarf es der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2020, 1 C 4.19, juris, Rn. 36-38; VG Freiburg, Urteil vom 05.11.2020, A 1 K 3022/20).
34 
bb) Dabei ist im Falle des Klägers zu berücksichtigen, dass er bereits eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung in Bulgarien erfahren hat, die gegen Art. 3 EMRK verstößt. Er wurde von der bulgarischen Grenzpolizei geschlagen und erlitt dadurch nachhaltige Schmerzen in der Schulter, zudem sei er jetzt psychisch angeschlagen und wolle sich deshalb behandeln lassen. Sein Vortrag hinsichtlich gewaltsamer Übergriffe durch Grenzbeamte findet seine Bestätigung in Berichten von Hilfsorganisationen über Erlebnisse anderer Flüchtlinge und aufgrund eigener Beobachtungen dieser Organisationen (siehe hierzu Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, 24.07.2020, S. 15f.; Mathias Fiedler und Marc Speer, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, S. 42-47 mit einzelnen Berichten; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 12-14).
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cc) Hinsichtlich Bulgarien ist festzustellen, dass dort Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden Einzelnen, in Abhängigkeit von seiner konkreten, persönlichen Situation, insbesondere bei besonderer Vulnerabilität, das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein. Diese Einschätzung wird in jüngster Zeit von einigen Verwaltungsgerichten geteilt (so etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19 für eine Familie mit Kindern; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17 für Vulnerable; auch für arbeitsfähige junge Männer VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, VG Oldenburg, Urteil vom 29.04.2020, 12 A 6134/17, und VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19; anders z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20; VG Bayreuth, Beschluss vom 10.02.2021, B 7 K 20.31318 und VG Freiburg, Urteil vom 24.02.2020, A 7 K 5400/18). Ebenso wie die genannten Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Köln, Oldenburg und Hannover aus dem Jahr 2020 stellt das VG Potsdam unter Berücksichtigung der Situation in Bulgarien seit Ausrufung der Pandemielage mit Urteil vom 11.01.2022 fest, dass dies sogar für nicht vulnerable, gesunde und arbeitsfähige anerkannt Schutzberechtigte gilt.
36 
Die Situation für anerkannte Schutzberechtigte stellt sich in Bulgarien in dem Kontext des dortigen Asylsystems derzeit wie folgt dar:
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dd) Anerkannt Schutzberechtigte sehen sich in Bulgarien einer Situation gegenüber, die man als aussichtslos (wie das VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25) oder auch als prekär bezeichnen kann (Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Bulgarien: Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, nachfolgend: Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21).
38 
2021 war ein weiteres Jahr der „Null-Integration“. Dies bedeutet, dass auch im letzten Jahr keine staatlichen Unterstützungsprogramme für die Integration internationaler Schutzberechtigter durchgeführt worden sind (vgl. AIDA Country Report: Bulgaria, 01.02.2022, S. 88). Es gibt zwar nach dem Auslaufen des nationalen Integrationsprogramms im Jahr 2013 seit dem 19.07.2017 eine Integrationsverordnung, die den Abschluss von Integrationsvereinbarungen zwischen anerkannten Berechtigten und den Bürgermeistern von Gemeinden zu allen wichtigen Lebensbereichen wie z.B. Unterkunft, Sprachkurse und Schule vorsieht. Diese Integrationsverordnung ist jedoch in der Praxis völlig wirkungslos, denn Kommunen haben Vorbehalte, derartige Integrationsvereinbarungen abzuschließen (Bordermonitoring, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, nachfolgend: Bordermonitoring 2020, S. 73 ff.; die sachverständige bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva, Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien, Auskunft an das Nds. OVG vom 07.04.2017, im Folgenden Dr. Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 3). Laut einer Umfrage des bulgarischen Meinungsforschungsinstituts „Sova Harris“ im Februar 2016 hätte die Hälfte der Befragten (fast 51%) es für inakzeptabel gehalten, Flüchtlinge als Mitarbeiter oder Nachbarn zu haben (Bordermonitoring 2020, S. 74 f.). Auch dies wirkt sich negativ auf die Bereitschaft der Bürgermeister aus, Integrationsmaßnahmen mit anerkannten Flüchtlingen ins Auge zu fassen.
39 
Seit 2013 haben alle anerkannten Schutzberechtigten keinerlei Integrationsunterstützung erhalten, mit Ausnahme von 13 Inhabern eines Schutzstatus, die jedoch alle aus einem EU-Programm finanziert und nicht im Rahmen der Integrationsverordnung unterstützt wurden (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Bulgarien, Gesamtaktualisierung am 24.07.2020, nachfolgend BFA 2020, S. 19). Der - ohne Angabe der Primärquellen gefertigten – Aussage der Deutschen Botschaft in Bulgarien, im Jahr 2017 seien 38, 2018 insgesamt 44 und 2019 insgesamt 79 Integrationsprofile angelegt worden, ist nicht zu entnehmen, dass aus der – allein auf dem Wunsch der Betroffenen beruhende - Anlage dieser Profile auch nur eine einzige Vereinbarung mit einer Gemeinde resultierte (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 2-3).
40 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung zu Bulgarien als Aufnahmeland festgestellt wird (siehe z.B. VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32), dass es zwar nicht viele Gemeinden gebe, die solche Vereinbarungen treffen wollen, aber es gebe welche, und dabei handele es sich meistens um Kommunen aus der Provinz, die unter dem Rückgang der Wohnbevölkerung litten, und insbesondere Unternehmen auf dem Land Interesse an Integrationsvereinbarungen ihrer Gemeinde zur Aufnahme von Flüchtlingen zeigen würden, beruht dies offenbar auf einer einzigen Quelle nämlich der Auskunft der deutschen Botschaft Sofia an das Auswärtige Amt vom 01.03.2018 (S. 2). Laut dieser Auskunft bestehe kaum Bereitschaft, sich in der bulgarischen Provinz niederzulassen. Es werden jedoch keine Kommunen oder Unternehmen, die zur Integration von Flüchtlingen bereit sind, konkret benannt. An diesem Mangel krankt auch der aktualisierte Bericht der Deutschen Botschaft in Bulgarien vom Mai 2020, der ebenfalls keine einzige Quelle benennt. Auf diese nicht verifizierten Angaben, die das Auswärtige Amt wiederum in seine Auskunft etwa vom 26.04.2018 an das VG Trier übernommen hat (S. 4), stützt sich insbesondere die Beklagte, aber auch manche der Verwaltungsgerichte (so VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20, Rn. 45).
41 
Eine aktuelle Recherche im Mai 2021 hat keine offiziellen Studien bzw. Zahlen zur Integration von Migranten in Bulgarien ermitteln können. Ebenso hat sich die behauptete fehlende Bereitschaft zur Niederlassung in ländlichen Regionen nicht anhand von konkreten Quellen verifizieren lassen. Im Rahmen einer Studie des Europäischen Ausschusses der Regionen (European Committee of the Regions, 2020: Integration of migrants in middle and small cities and in rural areas in Europe, S. 60, verfügbar unter: https://cor.europa.eu/en/engage/studies/Documents/Integration%20of%20Migrants.pdf) werden zwei Fallstudien zur Integration von Migranten in zwei Städten in ländlichen Räumen in Bulgarien vorgestellt. Dabei waren Interviews mit den Verantwortlichen vor Ort nicht möglich, so dass die Autoren ihre Informationen nur im Rahmen von Internetrecherchen gewinnen konnten. Beiden Städten, der Kleinstadt Nova Zagora und der mittelgroßen Stadt Haskovo, ist gemeinsam, dass die jeweilige Stadtverwaltung in keinerlei Aktivitäten zur Integration von Migranten involviert ist. Insbesondere das Bulgarische Rote Kreuz führt an beiden Orten einzelne Pilotprojekte durch, die aber jeweils nur auf einen begrenzten Zeitraum ausgerichtet sind, wie zehntägige Intensivkurse zur Vermittlung von Kenntnissen über die Rechte von Migranten und das Sozialsystem. Das Projekt in Haskovo wiederum wird von der Europäischen Kommission im Rahmen von Notfallmaßnahmen zur Abfederung des Migrationsdrucks in Bulgarien bezahlt. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass es für Migranten möglich sein kann, in einer Gemeinde, die sich von der demographischen Entwicklung benachteiligt sieht, eine existenzsichernde Arbeitsstelle zu finden und sich dort niederzulassen.
42 
ee) In Bulgarien anerkannt Schutzberechtigte sind daher auf sich selbst gestellt. Mit Schwierigkeiten bei der Unterkunftssuche verbunden ist bereits die Registrierung unter einer Meldeadresse. Diese Registrierung ist Voraussetzung für zahlreiche staatliche Leistungen wie den Erhalt von Identitätsdokumenten, den Abschluss eines Mietvertrages und den Abschluss einer Krankenversicherung und die Beantragung von Sozialleistungen (z.B. BFA 2020, S. 19). Die bulgarische Flüchtlingsagentur SAR lässt seit dem Jahr 2016 nicht mehr zu, dass die Adressen der Aufnahmezentren als Meldeadresse angegeben werden (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 90; vgl. ebenso Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21 f.); Bordermonitoring 2020, S. 75). Diese Schwierigkeiten können zu einem Teufelskreis bei der Wohnungssuche führen, da gültige ID-Dokumente Voraussetzung für den Erhalt eines Mietvertrages seien, gültige ID-Dokumente aber wiederum nur mit einer Meldeadresse zu erhalten seien. Dies führe zu korrupten Praktiken wie gefälschten oder fiktiven Mietverträgen und falscher Adressregistrierung (AIDA 2022, S. 90; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2020, S. 21 f.; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 6)). Soweit teilweise aus dem Umstand, dass die bulgarischen Behörden nachweislich Ausweisdokumente für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte ausgestellt haben, gefolgert wird, dass die Eintragung in das nationale Melderegister und damit auch der Abschluss eines Mietvertrages nicht unmöglich ist (z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2 1760/18. A, Rn. 318), kann das erkennende Gericht dem nicht folgen. Offenbar kann eine solche Eintragung auf illegalen Wegen erlangt werden, es kann jedoch nicht von den Betroffenen verlangt werden, diesen Weg einzuschlagen, zumal dies mit dem Risiko verbunden sein dürfte, gegen Strafvorschriften zu verstoßen.
43 
In den ersten sechs Monaten nach Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter besteht zwar die Möglichkeit, vorübergehend in den Aufnahmezentren für Asylbewerber aufgenommen zu werden, solange ausreichend Kapazitäten vorhanden sind (z.B. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF vom 25.03.2019, S. 2; AIDA Country Report Bulgaria 2021, S. 87; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; BFA 2020, S. 20), Dem Gericht liegen keine gesicherten Informationen darüber vor, ob diese Möglichkeit auch schutzberechtigten Rückkehrern aus dem Ausland, die ihre frühere Aufnahmeeinrichtung bei ihrer Ausreise aus Bulgarien verlassen hatten, offensteht. Einige Quellen verneinen dies (Raphaelswerk 2019, S. 10; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 8 f.; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S.8) bzw. teilen mit, dass dieser Personenkreis keinen Anspruch auf Unterbringung in einer SAR-Einrichtung hat (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), woraus man folgern könnte, dass die Aufnahme zumindest möglich ist (VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 27). Dem könnte allerdings entgegenstehen, dass der 6-Monats-Zeitraum in dem Moment der Schutzgewährung beginnt und daher bei Rückkehr des Schutzberechtigten aus dem Ausland nach seiner Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat in der Regel abgelaufen sein wird (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 8).
44 
Selbst wenn anerkannt schutzberechtigte Personen temporär in einem solchen Aufnahmezentrum nach Rückkehr aus dem Ausland aufgenommen werden, sichert ihnen dies eine Unterkunft nur für maximal sechs Monate, zudem wird diesem Personenkreis kein Essen zur Verfügung gestellt (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; Raphaelswerk 2019, S. 10; Bordermonitoring 2020, S. 70). Die Möglichkeit, in einem der landesweit zwölf „Zentren für temporäre Unterbringung“ Unterkunft zu finden, besteht lediglich für maximal drei Monate und kann daher ebenfalls nur einen kurzen Zeitraum bis zur Anmietung einer eigenen Wohnung eine Hilfe bedeuten. (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand 2018, S.9). Es erübrigt sich daher die Klärung der Frage, inwieweit die Unterbringungsbedingungen in den Aufnahmezentren überhaupt zumutbar sind - die Lebensbedingungen in den staatlichen Aufnahmezentren werden durchgehend als schlecht und unter den Mindeststandards liegend beschrieben; inadäquat sein insbesondere die hygienischen Umstände, die regelmäßig zu Gesundheitsproblemen führen (BFA 2020, S. 16; Bordermonitoring 2020, S. 51-63, mit ausführlichem Bericht über die einzelnen offenen Lager; Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bulgarien: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Mai 2019, S. 3). Zudem könnte der Bericht, dass den Recherchierenden im Jahr 2018 durch die bulgarischen Behörden der Zutritt zu Aufnahmeeinrichtungen trotz rechtzeitiger Anfrage verwehrt wurde (Bordermonitoring 2020, S. 51 f.), Anlass zu der Vermutung geben, dass die Aufnahmezentren sich möglicherweise in einem Zustand befunden haben, der von den bulgarischen Verantwortlichen nicht als vorführwürdig eingeschätzt wurde.
45 
Die generelle Wohnsituation in Bulgarien ist dadurch gekennzeichnet, dass die meisten Bulgaren in ihren „eigenen vier Wänden“ leben, die Wohnungseigentumsquote betrug im Jahr 2019 84,1 % (zum Vergleich: Deutschland 51,1%; siehe hierzu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155734/umfrage/wohneigentumsquoten-in-europa/). Daraus folgt, dass der Wohnungsmarkt in Bulgarien sich auf einen kleinen Teil der Bevölkerung richtet und dabei auf die großen Städte konzentriert, in denen große Wohnblocks in der sozialistischen Ära erstellt wurden. Der Wohnungsbestand ist allerdings von großem Renovierungs- und Instandsetzungsbedarf gekennzeichnet, die erklärt auch die großen Leerstände (UNHCR, Bulgaria, 2020: Municipal Housing Policies: A Key Factor For Successful Integration At The Local Level, S.6, nachfolgend UNHCR 2020, Municipal Housing Policies). Außerhalb der großen Städte sind Wohnungen eher bei privaten Vermietern zu finden.
46 
Eine Studie des UNHCR fasst die Hindernisse, denen sich anerkannte Schutzberechtigte beim Zugang zu Wohnraum gegenübersehen, zusammen: Die größten Hürden sind rechtliche Barrieren beim Zugang zu Sozialwohnungen, Schwierigkeiten beim Zugang zum privaten Wohnungsmarkt infolge hoher Mieten, Diskriminierung und dem Widerwillen von Vermietern, Mietverträge mit Ausländern abzuschließen (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 8). Insbesondere sind vielfach Vorbehalte gegenüber Muslimen auf Seiten der Vermieter festzustellen (Auskunft Auswärtiges Amt vom 18.07.2017, S. 9; UNHCR 2020 aaO; siehe VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 30).
47 
Sozialwohnungen stehen in Bulgarien selbst für die bulgarische Bevölkerung nicht ausreichend zur Verfügung (UNHCR Bulgarien, 2020, S. 6). Nach Angaben der Caritas besteht Zugang zu Sozialwohnungen der Gemeinde nur, wenn mindestens ein Familienmitglied bulgarischer Staatsbürger ist; Schutzberechtigte haben daher üblicherweise keinen Zugang zu diesen Wohnungen (Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 32; BFA 2020, S. 21). Das Auswärtige Amt teilt mit, dass sich anerkannte Flüchtlinge ebenso wie bulgarische Staatsangehörige auf die wenigen vorhandenen Sozialwohnungen bewerben dürfen (AA 16.01.2019; BFA 2020, S. 21). Diese Aussagen befinden sich allerdings nicht in einem Widerspruch zueinander, vielmehr ist festzustellen, dass sich Schutzberechtigte ebenso wie Inländer auf eine Sozialwohnung bewerben dürfen, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen – was im Falle von Migranten jedoch faktisch so gut wie unmöglich ist. Sie befinden sich in Konkurrenz zu bulgarischen Wohnungssuchenden und sind dabei kaum erfolgreich (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9). Die Voraussetzungen für den Zugang zu Sozialwohnungen differieren zudem in den einzelnen Kommunen, vielfach wird vorausgesetzt, dass der Antragsteller seinen Wohnsitz für eine bestimmte Dauer registriert haben muss, teilweise fünf bis 10 Jahre (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 48; Raphaelswerk 2019, S. 11; Bulgarian Council on Refugees and Migrants: Municipal Housing, verfügbar unter: https://www.refugee-integration.bg/en).
48 
Anhand der vorstehenden Auskunftslage bleibt das Problem der Obdachlosigkeit eines der dringendsten Probleme für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien (Bordermonitoring 2020, S. 69; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), der UNHCR geht aktuell unverändert von einem „real risk of homelessness“ aus (UNHCR, Submission For the Office of the High Commissioner for Human Rights, Compilation Report UPR: 3rd Cycle, 36th Session, Bulgaria, vom Januar 2020, nachfolgend: UNHCR, Submission For the Office oft he High Commissioner for Human Rights, 2020). Dabei werden Frauen und Familien mit kleinen Kindern als besonders von Obdachlosigkeit bedroht bezeichnet (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8-9; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9).
49 
Nach Angaben des Auswärtigen Amtes gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche durch Nichtregierungsorganisationen, es gebe in Bulgarien kaum obdachlose Flüchtlinge (AA, Auskunft vom 25.03.2019 an das BAMF, S. 2, und Auskunft vom 16.01.2019 an das VG Köln, S. 2). Dies sei mit der Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen und staatlicher Stellen zu begründen, gepaart mit einer niedrigen Anzahl von in Bulgarien verweigernden Flüchtlingen (so z.B. BFA 2020, S. 21). Die Art der staatlichen Hilfe und der Hilfe der NRO wird jedoch nicht konkret benannt, es gibt keinen Bericht, dem sich eine tatsächliche Vermittlung oder gar Zurverfügungstellung von finanzierbarem Wohnraum entnehmen lässt. Der Verbindungsbeamte des BM.I für Bulgarien übermittelte am 21.05.2021 eine Auskunft der bulgarischen Staatsagentur für Flüchtlinge, aus der sich ergibt, dass es in Bulgarien keine NGO gibt, welche die Unterbringung für einen längeren Zeitraum gewährleistet, es bestehe eventuell die Möglichkeit für eine kurzfristige Unterbringung von bspw. einer Woche (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021, S. 4). Die Caritas als eine jener NGOs, die vor Ort Hilfe anbieten, hat mitgeteilt, dass die Unterbringungskapazitäten nur Platz für knapp 5.700 Menschen böten und längst erschöpft seien (BFA, aaO, 19.07.2021, S. 5).
50 
Nach Auffassung des Gerichts ist jedoch daraus, dass es keine Berichte über eine große Anzahl von obdachlosen Schutzberechtigten in Bulgarien gibt, nicht zu folgern, dass es Schutzberechtigten gelingt, in irgendeiner Weise ein Obdach zu finden. Zunächst ist generell festzustellen, dass in vielen Bereichen durch die bulgarischen Behörden keine zahlenmäßigen Erhebungen vorgenommen werden (siehe z.B. die bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva in ihrer Auskunft vom 17.07.2017 an das OVG NRW, mit der wiederholten Antwort, dass entsprechende Daten durch die bulgarischen Behörden nicht erfasst werden).
51 
Die deutsche Botschaft in Sofia hat zwar mit Bericht zuletzt vom Mai 2020 (Deutsche Botschaft Sofia, Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 4 f.; in Fortführung früherer Berichte) mitgeteilt, dass Schutzberechtigte auch durch Hilfe der Zivilgesellschaft, z.B. von der syrischen oder der muslimischen Gemeinschaft, ein Obdach gewährt werde – allerdings auch hier ohne Angabe der Primärquelle. Das Auswärtige Amt wurde mit Anfrage von dem OVG Hamburg gezielt dahingehend befragt und antwortete mit seiner Auskunft vom 07.04.2021 ausweichend, indem auf das Vorhandensein nur weniger Sozialwohnungen hingewiesen wurde. Auf die Ausgangsfrage hin wurde lediglich mitgeteilt, das konkretere Erkenntnisse nicht vorlägen (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3). Auch zu der Frage nach Obdachlosigkeit oder Hungerleidens von Familien teilte das Auswärtige Amt mit, dass dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Angesichts grundsätzlich eher diplomatischer Feststellungen des Auswärtigen Amtes folgert das Gericht aus dieser Auskunft, dass seitens des Auswärtigen Amtes weder Obdachlosigkeit noch eine mangelhafte Versorgung mit dem zum Leben Nötigsten ausgeschlossen werden kann.
52 
Aus den Erkenntnismitteln folgt vielmehr, dass die überwiegende Mehrheit der Schutzberechtigten der drohenden Obdachlosigkeit durch Weiterreise in andere Unionsländer begegnet (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mai 2019, 4. Seite bei DIN A 4-Format), Entscheidend dürfte also alleine die geringe Zahl von Flüchtlingen sein, die tatsächlich auf Dauer in Bulgarien bleibt; die Mehrheit der Statusinhaber verlässt Bulgarien während des Asylverfahrens oder nach der Anerkennung (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft 07.04.2017, S. 2). Genaue Zahlen werden nicht ermittelt, daher gibt es nur Schätzungen, dass ca. 1.000 bis 2.000 Personen in Bulgarien verbleiben (Bordermonitoring 2020, S. 69; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 5-6;).
53 
Der Erhalt eines Schutzstatus bedeutet daher in der Regel Obdachlosigkeit. Ohne Wohnung ist auch der legale Zugang zu anderen staatlichen und medizinischen Leistungen unmöglich, da hierfür eine Meldeadresse vorgelesen werden muss. Der möglicherweise gegebene Ausweg, durch fiktive oder gefälschte Mietverträge eine Meldeadresse nachzuweisen, wird aus den o.g. Gründen nicht als den Betroffenen zumutbare Option angesehen. Mangels Integrationsprogramm, ohne Sprachkenntnisse und in Abwesenheit von Sozialarbeitern ist es Schutzberechtigten nahezu unmöglich, sich in Bulgarien dauerhaft niederzulassen. Flüchtlinge erhalten faktisch keinerlei finanzielle Unterstützung wie Wohngeld oder Sozialhilfe, so erhielten im Jahr 2017 nur 20 Schutzberechtigte Sozialleistungen ausgezahlt (BFA 2020, S. 20.
54 
ff) Ebenso faktisch aussichtslos sind die Möglichkeiten, sich durch Erwerbstätigkeit das Existenzminimum zu sichern. Nur wenige Schutzberechtigte haben bislang überhaupt eine Arbeit gefunden und wenn, dann entweder in schlecht bezahlten unqualifizierten Tätigkeiten oder bei Arbeitgebern gleicher Herkunft, die sich vornehmlich in Sofia ein Geschäft aufgebaut haben (unter Berufung auf eine Stellungnahme der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge: BAMF, Länderinformationsblatt Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Der Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildung steht anerkannt Schutzberechtigten zwar nominell in gleicher Weise wie Inländern automatisch und bedingungslos offen (BFA 2020, S. 21; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 2, und an das OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 4; AIDA 2021, S. 87; Raphaelswerk 2019, S. 13). Die Sprachbarriere und die allgemein schlechte sozioökonomische Lage im Land seien übliche Probleme, ebenso wie der damit einhergehende Mangel an Fortbildungsangeboten und Möglichkeiten der Anerkennung der beruflichen Qualifikationen aus dem Herkunftsland sowie ausländischer Berufserfahrung (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 97). Arbeitsplätze stehen überwiegend in Sofia und Großstädten wie Plovdiv, Burgas und Stara Zagora im Süden sowie Varna im Nordosten des Landes zur Verfügung (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft 24.01.2019, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Die von einigen Gerichten zitierte Aussage, es beständen für arbeitsfähige Schutzberechtigte tatsächliche Möglichkeiten, eine existenzsichernde Arbeit zu finden, und zunehmend würden sich Unternehmer danach erkundigen, wie sie Flüchtlinge beschäftigen können, insbesondere in der Landwirtschaft und in der Gastronomie, es mangele allerdings teilweise an der Bereitschaft der Flüchtlinge, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, beruht allein auf der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26.04.2018 an das VG Trier (S. 3 f.) bzw. der Auskunft der Deutschen Botschaft Sofia vom 01.03.2018 (S. 2, beide in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Diese schildern jedoch zum einen Einzelfälle, jedoch ohne konkrete Angaben, und bewegen sich zum anderen im Bereich von Vermutungen und Prognosen. Sie werden auch nicht ansatzweise von irgendeinem anderen Erkenntnismittel, das sich nicht auf diese Auskunft bezieht, bestätigt.
55 
Die Deutsche Botschaft hat im Mai 2020 von einem Programm der bulgarischen Regierung im Jahr 2016 zur Beschäftigung und Ausbildung von anerkannten schutzberechtigten berichtet, dass bis Ende 2020 verlängert worden sei (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 3). Ausweislich andere Quellen ist der Zugang in der Praxis jedoch de facto nicht möglich, weil der tatsächliche Zugang zu dieser Art von Aus und Weiterbildung die Kenntnis der bulgarischen Sprache voraussetzt, eine Möglichkeit der Übersetzung wird nicht angeboten (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24-25). Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist die Registrierung eines Wohnsitzes (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 43); solange Schutzberechtigte, die aus dem Ausland zurückkehren, keine Wohnung gefunden haben, können sie sich auch nicht bei der bulgarischen Arbeitsmarktbehörde als arbeitssuchend melden (Raphaelswerk 2019, S. 13). Nur wenigen anerkannt Schutzberechtigten gelingt die Integration in den bulgarischen Arbeitsmarkt und dann auch nur zu Löhnen, die keine laufenden Mietzahlungen abdecken (Bordermonitoring 2020, S. 76). Selbst das Auswärtige Amt räumt mit der vagen Formulierung, dass es „sicherlich möglich“ ist, mit dem Lohn für „einige“ dieser Tätigkeiten eine Unterkunft ausreichend finanzieren zu können, ein, dass es keine entsprechenden, belastbaren Erkenntnisse gibt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26.04.2018, S. 4). Bulgarien bietet die niedrigsten Lohn- und Lohnnebenkosten mit (im Jahr 2016) nur 4,49 EUR pro Stunde in der EU (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft, 24.01.2019).
56 
Durch die staatliche Agentur für Arbeit wird keine effektive Hilfe geleistet. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes hätten anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien eine Arbeitsstelle vor allem in der Landwirtschaft und der Gastronomie finden können (Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, Seite 3 f. und BAMF, Länderinformation: Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Demgegenüber berichtet AIDA, dass im Jahr 2019 von 481 Schutzgewährungen lediglich acht anerkannte Schutzberechtigte gemeldet beschäftigt gewesen sein (AIDA, Country Report Bulgaria 01.02.2022, S. 69).
57 
Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere im Jahr 2019 Arbeitsmöglichkeiten für die Gruppe arbeitsfähiger junger Männer als realistisch in Nischenbereichen wie Callcentern für die arabische Sprache angesehen wurden, scheinen diese überbewertet zu sein, wie das VG Köln in seinem Urteil vom 17.06.2020 (20 K 5099/19.A, Rn. 39) nach Auffassung der Berichterstatterin zutreffend anmerkt. Feststellungen dazu, dass sich in der jüngeren Zeit vor Beginn der Corona-Pandemie die wirtschaftliche Lage Bulgariens zunehmend verbessert habe, die Arbeitslosenquote gesunken sei und der Arbeitsmarkt sich dynamisch entwickelt habe (z.B. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2019 – A 4 S 2476/19 –, Rn. 16; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.02.2020 – 7 A 10.903/18 –, Rn. 59 ff.), sind in anderen Erkenntnismitteln nicht in dieser Weise zum Ausdruck gekommen. Selbst wenn es eine geringfügige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation gegeben haben sollte, hat sie sich jedoch mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie ins Gegenteil verkehrt: Die landesweite Arbeitslosenquote sei von 4,2 % im Jahr 2019 auf geschätzt 7,0 % gestiegen (German Trade and Invest, GTAI, Bulgarien vom 01.05.2020, S. 2; European Comission, Spring 2020 Economic Forcast by Country: Bulgaria vom 06.05.2020, S. 1 f.), die deutsche Botschaft teilt in ihrem aktuellen Datenblatt hingegen eine Arbeitslosenquote von 4,7 % im April 2021 mit. Radio Bulgaria, der Auslandsdienst des staatlichen bulgarischen Rundfunks, berichtete am 22.06.2020 unter Berufung auf das nationale Arbeitsamt von einer Arbeitslosenquote von 9,0 % und durchschnittlich neun Arbeitslosen, die sich um einen Arbeitsplatz bewerben würden (Radio Bulgaria, Arbeitslosenrate schwankt je nach Region zwischen 4,4 und 16,5 % von 22.6.2020, https://www.bnr.bg/de/Post/101297605/Arbeitslosenrate-schwankt-je-nach-Region-zwischen-44-und-165). Am härtesten wirke sich die wirtschaftliche Krise auf den Dienstleistungssektor, auf Verkauf, Transport, Hotels, Restaurants, Kultur- und Unterhaltungssektor aus (vgl. European Comission, aaO). Die vor der Pandemie angenommenen besonderen Chancen anerkannter Schutzberechtigter, gerade in der Gastronomie einen Arbeitsplatz zu finden, müssen vor diesem Hintergrund als überholt gelten, führt das VG Karlsruhe zu Recht aus (Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 30; ebenso VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 36; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17, Rn. 45).
58 
Die seitens der bulgarischen Regierung eingeleiteten Maßnahmen gegen die sich abzeichnende Rezession beziehen sich in erster Linie auf die vorhandenen Unternehmen und Arbeitsplätze (hierzu German and Trade Invest [GTAI], Bulgarien will sich mit Tourismus von der Coronakrise erholen, 25.03.2021, aufrufbar in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg) und dürften die Chancen anerkannter Schutzberechtigter erstmals eine Arbeit zu finden, nicht spürbar erhöhen.
59 
Andere Quellen nennen eine Arbeitslosenquote von 6,9 % für den Oktober 2020 und dann einen Anstieg auf 14,2 % am 01.01.2021 (Svetoslav Todorov, 07.01.2021, Bulgaria in 2021: Testing Times for Government, People and Environment). Darüber hinaus sind laut einem Artikel von Balkan Insight vom 17.03.2021 hunderttausende Bulgaren, die im Ausland lebten und arbeiteten – und damit einen Hauptgrund für die relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen Bulgariens bis dahin bedeutet hatten -, aufgrund der COVID-19-Pandemie wieder nach Bulgarien zurückgekehrt; genaue Zahlen bezüglich der Anzahl der Rückkehrer gibt es jedoch nicht (Balkan Insight, 2021: Bulgarians Exiled Young Professionals Mull New Life Back Home). Ein Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) vom März 2021 zitiert eine Erhebung, wonach 10 % der befragten Rückkehrer nach dem Ende der Krise nicht wieder ins Ausland gehen möchten (UNFPA, 2021: Turning The Tide?, S. 2, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Wenig aussagekräftig sind die Ergebnisse verschiedener Umfragen der Deutsch-Bulgarischen Außenhandelskammer zu den Auswirkungen der Pandemie auf die bulgarische Wirtschaft vom Dezember und Juni 2020 (VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A, Rn. 329 + 330), da diese lediglich die augenblickliche Stimmung und Erwartungen der befragten Unternehmer wiedergibt. Dies gilt ebenso für die Hoffnung Bulgariens auf Touristen in den Sommermonaten (GTAI, aaO), der schon entgegenstehen dürfte, dass es der Tourismusbranche noch nicht gelungen ist, sich auf die Bedürfnisse internationaler, insbesondere westlicher Touristen einzustellen, so dass bisher nur vergleichsweise wenige westliche Touristen den Weg nach Bulgarien finden (siehe deutsche Botschaft Sofia, Datenblatt Bulgarien). Weiter wird geschätzt, dass ein erheblicher Teil der von der SAR untergebrachten Flüchtlinge, denen es gelungen war, irgendeine Beschäftigung zu finden (über den Umfang werden keine Aussagen gemacht), in der ersten Pandemiephase ihre Arbeitsstellen verloren haben. Dies wird ausdrücklich für die Gastronomie festgestellt, in der Schutzberechtigte ohne Vertrag – in der Schattenwirtschaft - beschäftigt wurden (Europäische Kommission, Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria, https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures-relatedto-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria).
60 
gg) Anerkannt Schutzberechtigte haben zwar unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialhilfe (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 98; Raphaelswerk 2019, S. 11), die Gewährung von Sozialhilfe ist jedoch an nur sehr schwer zu erfüllende Bedingungen geknüpft, so dass es selbst bezugsfähigen bulgarischen Staatsangehörigen nur selten gelingt, diese zu beziehen, und anerkannt Schutzberechtigten fast nie (hierzu Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 7). Für diese ist der Sozialhilfebezug nur möglich, wenn Hilfe von Nichtregierungsorganisationen erhältlich ist, zudem ist ein Dolmetscher nötig (BFA 2020, S. 20), ohne dass jedoch ein Recht auf einen Dolmetscher gegeben ist. So soll im Jahr 2017 lediglich in 20 Fällen Sozialhilfe an Schutzberechtigte gezahlt worden sein (s.o.; Dr. Valeria Ilareva vom 07.04.2017, S. 7; Auskunft des AA an das OVG Weimar vom 18.07.2018, S. 2 und an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 3). Die Sozialhilfe betrug von 2009 bis 2017 unverändert ca. 33 EUR monatlich (s. VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25; BFA 2020, S. 20), 2019 wurde sie auf ca. 38 EUR monatlich angehoben (Auswärtiges Amt, Auskunft 07.04.2021, S. 2). Die Lebenshaltungskosten wurden für das Jahr 2018 mit 305 EUR im Landesschnitt, 397 EUR für Sofia, angegeben (Auskunft des AA an das VG Potsdam vom 16.01.2019, Seite 3), wobei für eine Wohnung in Sofia jedoch mindestens 200 EUR ohne Nebenkosten zu zahlen sind (Bordermonitoring S. 75). Daraus ergibt sich, dass anerkannt Schutzberechtigte ihren Lebensunterhalt in Bulgarien nicht aus staatlichen Sozialleistungen decken könnten, selbst wenn sie im Einzelfall in der Lage sein sollten, Sozialhilfe zu beziehen. Grundsätzlich kann der Lebensunterhalt nur durch Erwerbstätigkeit gesichert werden (Auskunft Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, S. 3).
61 
Es gibt zwar nach Angaben des Auswärtigen Amtes „vielfältiges Programme“ verschiedener internationaler und bulgarischer Nichtregierungsorganisationen, wie Rechtsberatung des Helsinki-Komitees, Hilfe bei der Arbeitsvermittlung und der Wohnungssuche durch das Bulgarische Rote Kreuz und die Caritas (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3; Raphaelswerk 2019, S. 11), jedoch handelt es sich lediglich um kurzfristige und punktuelle Maßnahmen, die sich überwiegend als Hilfe zur Erlangung begehrter Leistungen (Wohnung, Arbeit, Hilfe, etc.) darstellen (s. hierzu auch Raphaelswerk 2019, S. 1). Über die Erfolgsquote wird nicht berichtet, etwa durch Angabe der Anzahl vermittelter Arbeitsverhältnisse oder Mietverträge. Ohnehin zeichnet sich diese Auskunft dadurch aus, dass keine Nachweise bzw. Quellen benannt werden. Aufgrund der Ausgestaltung dieser Programme als unregelmäßig angebotene Projekte mit kurzer Laufzeit, obliegt es dem Zufall, ob ein Schutzberechtigter davon profitieren kann.
62 
hh) Der Zugang zur Gesundheitsversorgung wird vielfach von Gerichten als ausreichend angesehen, da rechtlich Schutzberechtigte auch in dieser Hinsicht Inländern gleichgestellt sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 16; so z.B. VG Freiburg, Urteil vom 12.03.2019, A 5 K 1829/16, Rn. 34; VG Karlsruhe, Urteil vom 30.12.2018, A 13 K 3922/17, juris. Rn. 26 ff.), ist jedoch in der Praxis für Personen mit Schutzstatus ebenfalls nicht gewährleistet. Vom ersten Tag nach Statuszuerkennung an müssen Schutzberechtigte die Krankenversicherungsbeiträge, die bis dahin von der bulgarischen Flüchtlingsagentur entrichtet worden sind, selbst bezahlen, eine staatliche Unterstützung hierfür gibt es nicht (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2021, S. 70 f.). Selbst wenn der Beitrag in Höhe von 22,90 EUR für arbeitslose Personen (AIDA 2021, S. 88; BFA 2020, S. 21) irgendwie aufgebracht werden kann, sind Aufwendungen für Arzneimittel und psychologische Behandlung nicht abgedeckt. Auch kassenfinanzierte Leistungen können kaum in Anspruch genommen werden, da man hierzu auf eine Patientenliste eines Hausarztes gelangen muss, was oft mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist, z.B. mit fehlenden Sprachkenntnissen (BFA 2020, S. 18) . Ohnehin ist das Hauptproblem der Gesundheitsversorgung in Bulgarien der Mangel an Ärzten und medizinischem Personal (Raphaelswerk 2019, S. 12; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 23), der sich durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschärft hat. Das bulgarische Gesundheitswesen ist durch hohe Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen gekennzeichnet, die nicht von Krankenkassenbeiträgen abgedeckt sind – so genannte „Out of Pocket“-Zahlungen, die in Bulgarien im Jahr 2017 46,6 % der gesamten Gesundheitsausgaben gemacht ausgemacht haben und damit den höchsten Anteil in der EU erreichen. Nach Schätzungen sind darüber hinaus mindestens 900.000 Menschen in Bulgarien ohne Krankenversicherung (BFA 2021, S. 21 f.), ein hoher Wert bei einer Gesamtbevölkerung von 6,9 Millionen im Jahr 2020. Dies erklärt sich auch vor dem Hintergrund, dass die Nachzahlung ausstehender Krankenversicherungsbeiträge nötig ist, um Krankenversicherungsschutz zu erhalten, zunächst für drei Jahre rückwirkend, inzwischen ist dies auf fünf Jahre rückwirkend erhöht (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22 f.).
63 
ii) Diese in allen existenziellen Lebensbereichen überaus kritische Situation wird zusätzlich durch die teils abweisende, teils durch Unwissenheit geprägte Einstellung der bulgarischen Gesellschaft gegenüber Migranten und Flüchtlingen verschärft. Aus einem Bericht des UNHCR Bulgarien im November 2020 ergibt sich, dass die Einstellung vieler Bulgaren durch vergangene Erfahrungen, Stereotypen und die mediale Berichterstattung negativ geprägt ist (Bordermonitoring 2020, S. 73), 38 % der Befragten misstrauen Flüchtlingen allgemein, dabei überwiegend die Angst vor Verbrechen, die Angst vor der Verbreitung kultureller bzw. religiöse Überzeugungen, die Angst vor der Verbreitung von Krankheiten und die Angst vor Jobverlust (UNHCR, 2020: Public Attitudes Towards Refugees And Asylum Seekers in Bulgaria, S. 10, nachfolgend UNHCR 2020, Public Attitudes). Dabei sind die Berichte in den Erkenntnismitteln uneinheitlich, so wird einerseits von einer zunehmend wohlwollenden Bewertung der Niederlassung Schutzberechtigter in Gebieten mit demographischen Problemen berichtet (UNHCR 2020, Public Attitudes, S. 12), wobei der Anstieg sich im Rahmen von 18 auf 31 % Zustimmung eher im zurückhaltenden Bereich bewegt und jedenfalls nicht die Mehrheit der Bevölkerung abbildet. Daneben stehen Berichte über Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge, deren Bandbreite von einzelnen Übergriffen staatlicher Organe auf Migranten (BFA 2020, S. 6) bis hin zu Aussagen reicht, es werde gezielt Jagd auf Flüchtlinge gemacht (Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2019, S. 4; Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 36). Im Zentrum der Problematik scheinen dabei Bürgerwehren zu stehen, insbesondere rechtsradikale Gruppierungen wie die „Civil Squads for the Protection of Women and the Faith“ (CSPWF), die „Organization for the Protection of Bulgarian Citizens“ (OPBC), die „Military Union Vasil Levski“ (MU), das „Vasil Levski Committee for National Salvation“ (CNS) und das „Shipka Bulgarian National Movement“ (BNM) (eingehend dazu: Bordermonitoring 2020, S. 26-28).
64 
Diese sollen sich nach einzelnen Berichten 2017 anderen Aktivitäten zugewandt haben, nachdem die Flüchtlingszahlen gesunken sein (Stoynova, Ndya / Dzhekova, Rositsa, 2019, Vigilantism against ethnic minorities and migrants in Bulgaria, S. 170, https://csd.bg/fileadmin/user_upload/publications_library/files/2019_11/Vigilantism_against_Migrants_and_Minorities.pdf). Als beunruhigend wird dabei eingeschätzt, dass diese weitestgehend ungestört durch die bulgarischen Behörden agieren können (Bordermonitoring 2020, S. 26 f.).
65 
Nach Angaben von AIDA waren auch im Jahr 2020 verbale und physische Übergriffe, Angriffe und Diebstähle zulasten von ausländischen Mitbürgern festzustellen, eine Verbesserung sei nicht zu beobachten (AIDA 2020, S. 59). Die Menschenrechtskommissarin des Europarates zeigte sich in ihrem Bericht vom 31.03.2020 besorgt über weitverbreitete Intoleranz gegenüber Minderheiten in Bulgarien, u.a. gegenüber Muslimen, Migranten und Asylsuchenden; der Anstieg an Gewalttaten sei besorgniserregend (Commissioner For Human Rights Of The Council Of Europe (2020): Report Following Her Visit To Bulgaria From 25 to 29 November 2019, S. 6-7, verfügbar unter: https://rm.coe.int/report-on-the-visit-to-bulgaria-from-25-to-29-november-2019-by-dunja-m/16809cde16.; UNHCR, Submisson For the Office of the High Commissioner for Human Rights, 2020, Rn. 35; VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 34 f.).
66 
Zusammenfassend ist festzustellen, dass zwar formal Schutzberechtigte Inländern in den meisten Bereichen gleichgestellt sind, ihre Situation sich jedoch strukturell und grundlegend unterscheidet (so schon VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 33). Bulgaren steht zu über 84 % eine Unterkunft als Eigentum zur Verfügung, Schutzberechtigte hingegen können sich bei fehlenden Sozialleistungen und einem ihnen nur formal zugänglichen Arbeitsmarkt Wohnraum nicht finanzieren, sofern sie überhaupt einen Vermieter finden, der zur Vermietung an sie bereit ist. Anders als Bulgaren können sie nicht auf andere Arbeitsmärkte in der EU ausweichen, da sie keine Freizügigkeit genießen. Bei fehlenden Sprachkenntnissen, ohne soziale Kontakte oder familiäre Netzwerke bleibt ihnen nur ein Leben, das unmittelbar von Verelendung bedroht ist. Der weit verbreiteten Intoleranz und den zunehmend rassistisch agierenden Gruppierungen begegnet der Staat ebenso gleichgültig wie im Ganzen hinsichtlich einer Integration der Schutzberechtigten. Die „Null-Integration“ seit nunmehr neun Jahren verdeutlicht diese institutionelle Gleichgültigkeit.
67 
d) Vor dem Hintergrund der so durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Situation droht dem Kläger selbst nach den oben dargelegten, strengen Maßgaben in dem Fall der Abschiebung nach Bulgarien unabhängig von seinem Willen ein „Automatismus der Verelendung“ und damit die zumindest beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtcharta. Es erscheint nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an eine Rückkehr nach Bulgarien eine Arbeit findet, die es ihm gestattet, seinen Lebensunterhalt zu sichern und eine Wohnung zu finanzieren.
68 
Der Kläger hat – wie bereits ausgeführt - eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EuGrCH durch körperliche Misshandlungen in Form von Schlägen hinnehmen müssen, mit Folgen für seine körperliche und seelische Gesundheit. Eine solche entwürdigende und erniedrigende Behandlung bleibt nicht ohne Folgen für die Psyche eines jungen Erwachsenen, es ist nachvollziehbar, dass diese Erlebnisse seine psychische Gesundheit bis heute erheblich beeinträchtigen und insbesondere Angstzustände bewirken. Schon vor diesem Hintergrund ist ihm die Rückkehr in das Land, in dem er einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung bereits mehrfach ausgesetzt war, nicht zumutbar. Zudem gehört er der besonders verletzlichen, vulnerablen Personengruppe derjenigen Personen an, die aufgrund der Folgen dieser Behandlung zumindest weitgehend auf Unterstützung angewiesen sind.
69 
Schließlich liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger einer Verelendung in Bulgarien aus individuellen Gründen entgehen könnte. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er in Bulgarien sozial vernetzt ist, ihm nennenswerte finanzielle Mittel zur Verfügung stehen oder er über besondere persönliche Fähigkeiten verfügt, die ihm alsbald nach einer Rückkehr nach Bulgarien trotz der oben dargestellten Hindernisse die Aufnahme einer Arbeit ermöglichen könnten.
70 
3. Da das Bundesamt den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen durfte, fehlt es auch an einer Grundlage für die ferner verfügte Abschiebungsanordnung, die Verneinung von Abschiebungsverboten und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot.
71 
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei gemäß § 83b AsylG.

Gründe

 
16 
Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis gegeben haben (§ 87 a Abs. 2 und 3 sowie § 101 Abs. 2 VwGO).
17 
I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.07.2017 - 1 C 9.17 - NVwZ 2017, 1625).
18 
II. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 23.03.2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
19 
Das Bundesamt durfte den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen. Die Voraussetzungen für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig liegen im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor. Nicht Bulgarien, sondern Deutschland ist für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständig.
20 
1. Zwar durfte das Bundesamt gemäß der sekundären Zuständigkeitskriterien der Art. 18 Abs. 1 b) und 25 Abs. 2 Dublin III-VO zunächst davon ausgehen, dass Bulgarien für die Wiederaufnahme des Klägers und die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig ist, nachdem Bulgarien das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 20.01.2021 nicht fristgerecht beantwortet hatte. Eine weitere Überprüfung der Zuständigkeit Bulgariens erfolgt insoweit nicht, da nach der Formulierung in Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO sowie nach der im Wiederaufnahmeverfahren strukturell gegebenen vorrangigen Prüfungskompetenz des Erstantragsstaats eine Überprüfung der primären Zuständigkeit durch den Zweitantragsstaat im Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich nicht vorgesehen ist (EuGH, Urteil vom 02.04.2019 - Rs C-582/17 – , juris Rn. 58 ff; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, AsylG § 29 Rn. 28).
21 
2. Es kommt aber vorliegend die Regelung des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO zum Tragen. Danach darf ein Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht überstellt werden, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen. In diesem Fall ist – wenn sich die Zuständigkeit eines weiteren Mitgliedstaats nicht feststellen lässt – gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat auch zur Prüfung des Antrags in der Sache berufen. Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO sind im Fall des Klägers sogar unter mehreren Gesichtspunkten erfüllt, denn das bulgarische Asylsystem leidet unter systemischen Mängeln in Hinsicht auf afghanische Asylantragsteller im Besonderen sowie im allgemeinen aufgrund der Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte, zumal bei besonderer Vulnerabilität.
22 
a) Bereits die Aufnahmebedingungen in Bulgarien während eines laufenden Asylverfahrens genügen nicht den Anforderungen des Art. 4 GrCh. Das Asylverfahren in Bulgarien weist in den Fällen, in denen ein Asylbewerber aus dem Herkunftsstaat Afghanistan in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hat, systemische Schwachstellen auf.
23 
Dabei bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass Bulgarien weder während eines Asylverfahrens noch nach dem bestandskräftigen Abschluss eines Asylverfahrens die aus Art. 3 EMRK folgenden Rechte der (abgelehnten) Asylbewerber wahrt bzw. bei der Durchführung von Abschiebungen berücksichtigt. Insbesondere ist die Beachtung des sog. Refoulment-Verbots (Art. 33 Abs. 1 GFK), wonach keine Abschiebung in ein Land erfolgen darf, in dem das Leben oder die Freiheit des Betroffenen aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmen Bevölkerungsgruppe oder politischen Ansichten in Gefahr wären, in Bulgarien nicht gewährleistet.
24 
Der Kläger muss damit rechnen, dass sein Asylantrag in Bulgarien in Abwesenheit abgelehnt worden ist. Dies entspricht dem grundsätzlichen Verfahren der bulgarischen Behörden hinsichtlich von afghanischen Staatsangehörigen gestellten Asylanträgen. Bulgarien hat 2016 insgesamt 2,5% sowie 2017 nur 1,5 % der afghanischen Asylantragsteller die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzstatus zuerkannt, im Jahr 2019 ansteigend auf 4 %, allerdings größten Teils erst aufgrund gerichtlicher Entscheidungen (AIDA, Country Report Bulgaria 2021, 21.02.2020, S. 49), im Jahr 2020 dann erneut lediglich 1,15 % (AIDA, aaO). Unionsweit betrug die Anerkennungsquote im Jahr 2016 hingegen 56 % (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, S. 6, aufrufbar: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/DG-HOME-Letter-to-BG-6-July-2017.pdf), im Jahr 2019 46% (AIDA, aaO, S. 49 f.). Die Europäische Kommission hatte im Juli 2017 ein Ermahnungsschreiben an Bulgarien gerichtet (European Commission, Measures for improvement of the Bulgarian asylum system, 6 July 2017, aaO, S. 6 f.), das Grund für den kurzzeitigen Anstieg im Jahr 2019 gewesen sein dürfte. Der Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 von Amnesty International führt an, dass es zu Diskriminierung bei der Anerkennung von Asylsuchenden komme. Staatsbürger aus Pakistan, dem Irak und Algerien würden eine automatische Ablehnung erhalten. Zudem sei die Anerkennungsquote von Asylsuchenden aus Afghanistan signifikant niedriger als im Rest der EU (AI 2020: Human Rights Review in Europe – Review of 2019 – Bulgaria, S. 1, verfügbar in der Asyldokumentation). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) gelten Anträge von Asylsuchenden aus Afghanistan, der Türkei, der Ukraine, China und Algerien für die Asylbehörde SAR als offensichtlich unbegründet. Asylsuchende aus diesen Ländern liefen zudem Gefahr, dass ihr Antrag während der Administrativhaft geprüft wird. Diese Praxis werde als Abschreckungsmethode angewandt (SFH (2019): Bulgarien – Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, S. 17). Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich dies nach der Machtübernahme der Taliban geändert haben könnte, aktuelle Erkenntnismittel stellen vielmehr fest, dass die Asylanträge der afghanischen Asylwerber weiterhin in beschleunigten Verfahren ganz überwiegend sogar als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, da Bulgarien die Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklärt hat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 9).
25 
In Bezug auf afghanische Staatsangehörige leidet das bulgarische Asylverfahren somit an grundlegenden Mängeln, afghanische Schutzsuchende müssen zu fast 100 % davon ausgehen, dass ihr Asylgesuch faktisch ohne inhaltliche Prüfung abgelehnt wird. Hier liegt gerade nicht der Fall vor, dass dem Asylantragsteller unter Zuerkennung subsidiären Schutzes lediglich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft systematisch und ohne echte Prüfung verweigert wird, der daraus folgende Verstoß gegen die Pflichten des Mitgliedsstaates nach Art. 18 der EU-GrCh jedoch nicht einer Beurteilung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig entgegensteht (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a., Rn. 85 über juris – Ibrahim, Rn. 99 f.). Vielmehr besteht in Fällen der systematischen Ablehnung des Asylgesuchs ohne echte inhaltliche Prüfung im zunächst aufnehmenden Mitgliedstaat die Gefahr eines Verstoßes gegen das Refoulementverbot durch Abschiebung in den Herkunftsstaat.
26 
b) Sollte das Asylverfahren des Klägers in Bulgarien mittlerweile aufgrund seiner Ausreise aus Bulgarien abgelehnt worden sein, ist dem Kläger lediglich die Möglichkeit gegeben, einen Folgeantrag zu stellen. In Bulgarien ist jedoch kein Anspruch auf ein faires und substantielles Asylfolgeverfahren für Antragsteller aus dem Herkunftsland Afghanistan gegeben
27 
Nach den vorliegenden Erkenntnissen drohen für im Dublin-Verfahren rücküberstellte Asylantragsteller, nach der Ankunft bis zum Erhalt einer Registrierungskarte als Asylsuchende in Vorabschiebehaft genommen zu werde; dabei werden sie jedoch nicht über ihre Rechte und Pflichten informiert (Valeria Ilareva, Rechtsgutachten zum Rechtsstatus der Dublin-Rückkehrer nach Bulgarien, 30.06.2016, S. 7). Nach neueren Erkenntnissen erhalten Folgeantragsteller hingegen keine Registrierungskarte und haben auch kein Recht auf materielle Versorgung. Sie haben lediglich ein Recht auf Übersetzerleistungen, während die Zulässigkeit ihres Folgeantrags im Eilverfahren geprüft wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.06.2022, S. 10). Soweit eine Entscheidung über das Asylgesuch in Abwesenheit gefällt und zugestellt worden ist, muss der Betroffene ohnehin damit rechnen, in Administrativhaft genommen zu werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 18). Zudem besteht ein relevantes Risiko von Personen aller Herkunftsländer, ohne sachliche Prüfung ihres Asylbegehrens als Folgeantragsteller behandelt und in einer Hafteinrichtung festgehalten zu werden, wo ihnen eine erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-GrCh droht (so für Personen, die sich während der Prüfung ihres Antrags in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, auch VG Freiburg, Urteil vom 04.02.2016 - A 6 K 1356/14 -, VG Minden, Urteil vom 21.09.2016 - 3 K 2346/15.A -, VG Göttingen, Urteil vom 14.03.2017 - 2 A 141/16 -; jeweils juris; VG Sigmaringen, Beschluss vom 09.06.2017 - A 2 K 3727/17 -).
28 
c) Darüber hinaus ist bei der Beurteilung der Dublin-Rückführung auch bereits die Situation nach einem erfolgreichen Asylantrag mit in den Blick zu nehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 - juris, Rn. 87 ff.), so dass sich auch hieraus der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nach Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt.
29 
Es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannte Antragsteller in Bulgarien die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Dies hat zur Folge, dass keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540 und 541/17 – Adel Hamid und Amar Omar, NVwZ 2020, 137) und damit vorliegend auch keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ergehen darf.
30 
Dabei gilt nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Kontext des gemeinsamen europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 und der EMRK steht. An die Widerlegung dieser Vermutung sind wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat für Asylantragsteller aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass auch dem Antragsteller im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GrCh droht. Es müssen also Defizite vorliegen, die vorhersehbar sind, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und daher wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizierbar sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 37, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 9.
31 
aa) Der EuGH (hierzu und zum Folgenden: Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 – Jawo, Rn. 87 f.; Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a. – Ibrahim, Rn. 86 f.) hat nunmehr geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach der Dublin III-Verordnung zulässig ist. Diese Maßgaben sind auch auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Danach darf das nationale Gericht die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta und Art. 3 EMRK nur annehmen, wenn es auf einer entsprechenden Tatsachengrundlage feststellt, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist dagegen selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Die Feststellung des Fehlens von Formen familiärer Solidarität oder von Mängeln bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten vermögen keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass im Fall der Überstellung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta bestünde (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.2019 – A 4 S 1329/19).
32 
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dabei für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten gesehen, weil sich diese durch die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31 S. 18) (heute: Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [ABl. L 180 S. 96]) zur Gewährleistung bestimmter Minimalstandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet haben. Bei diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis können schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erfüllen, wenn die Betroffenen – in einem vollständig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit und Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland - juris Rn. 250 ff.; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 24).
33 
Diese Rechtsprechung ist auf international Schutzberechtigte zu übertragen, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Anerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 -1 B 25.18 - juris Ls. 1 und Rn. 11). Auch für diesen Personenkreis ergibt sich eine gesteigerte Schutzpflicht der EU-Mitgliedstaaten, der sie sich in Gestalt der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) unterworfen haben. Auch bei ihnen kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht sein, wenn sie ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Dabei bedarf es der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2020, 1 C 4.19, juris, Rn. 36-38; VG Freiburg, Urteil vom 05.11.2020, A 1 K 3022/20).
34 
bb) Dabei ist im Falle des Klägers zu berücksichtigen, dass er bereits eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung in Bulgarien erfahren hat, die gegen Art. 3 EMRK verstößt. Er wurde von der bulgarischen Grenzpolizei geschlagen und erlitt dadurch nachhaltige Schmerzen in der Schulter, zudem sei er jetzt psychisch angeschlagen und wolle sich deshalb behandeln lassen. Sein Vortrag hinsichtlich gewaltsamer Übergriffe durch Grenzbeamte findet seine Bestätigung in Berichten von Hilfsorganisationen über Erlebnisse anderer Flüchtlinge und aufgrund eigener Beobachtungen dieser Organisationen (siehe hierzu Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, 24.07.2020, S. 15f.; Mathias Fiedler und Marc Speer, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, S. 42-47 mit einzelnen Berichten; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, S. 12-14).
35 
cc) Hinsichtlich Bulgarien ist festzustellen, dass dort Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden Einzelnen, in Abhängigkeit von seiner konkreten, persönlichen Situation, insbesondere bei besonderer Vulnerabilität, das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein. Diese Einschätzung wird in jüngster Zeit von einigen Verwaltungsgerichten geteilt (so etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19 für eine Familie mit Kindern; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17 für Vulnerable; auch für arbeitsfähige junge Männer VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, VG Oldenburg, Urteil vom 29.04.2020, 12 A 6134/17, und VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19; anders z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20; VG Bayreuth, Beschluss vom 10.02.2021, B 7 K 20.31318 und VG Freiburg, Urteil vom 24.02.2020, A 7 K 5400/18). Ebenso wie die genannten Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Köln, Oldenburg und Hannover aus dem Jahr 2020 stellt das VG Potsdam unter Berücksichtigung der Situation in Bulgarien seit Ausrufung der Pandemielage mit Urteil vom 11.01.2022 fest, dass dies sogar für nicht vulnerable, gesunde und arbeitsfähige anerkannt Schutzberechtigte gilt.
36 
Die Situation für anerkannte Schutzberechtigte stellt sich in Bulgarien in dem Kontext des dortigen Asylsystems derzeit wie folgt dar:
37 
dd) Anerkannt Schutzberechtigte sehen sich in Bulgarien einer Situation gegenüber, die man als aussichtslos (wie das VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25) oder auch als prekär bezeichnen kann (Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Bulgarien: Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, 30.08.2019, nachfolgend: Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21).
38 
2021 war ein weiteres Jahr der „Null-Integration“. Dies bedeutet, dass auch im letzten Jahr keine staatlichen Unterstützungsprogramme für die Integration internationaler Schutzberechtigter durchgeführt worden sind (vgl. AIDA Country Report: Bulgaria, 01.02.2022, S. 88). Es gibt zwar nach dem Auslaufen des nationalen Integrationsprogramms im Jahr 2013 seit dem 19.07.2017 eine Integrationsverordnung, die den Abschluss von Integrationsvereinbarungen zwischen anerkannten Berechtigten und den Bürgermeistern von Gemeinden zu allen wichtigen Lebensbereichen wie z.B. Unterkunft, Sprachkurse und Schule vorsieht. Diese Integrationsverordnung ist jedoch in der Praxis völlig wirkungslos, denn Kommunen haben Vorbehalte, derartige Integrationsvereinbarungen abzuschließen (Bordermonitoring, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020, nachfolgend: Bordermonitoring 2020, S. 73 ff.; die sachverständige bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva, Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien, Auskunft an das Nds. OVG vom 07.04.2017, im Folgenden Dr. Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 3). Laut einer Umfrage des bulgarischen Meinungsforschungsinstituts „Sova Harris“ im Februar 2016 hätte die Hälfte der Befragten (fast 51%) es für inakzeptabel gehalten, Flüchtlinge als Mitarbeiter oder Nachbarn zu haben (Bordermonitoring 2020, S. 74 f.). Auch dies wirkt sich negativ auf die Bereitschaft der Bürgermeister aus, Integrationsmaßnahmen mit anerkannten Flüchtlingen ins Auge zu fassen.
39 
Seit 2013 haben alle anerkannten Schutzberechtigten keinerlei Integrationsunterstützung erhalten, mit Ausnahme von 13 Inhabern eines Schutzstatus, die jedoch alle aus einem EU-Programm finanziert und nicht im Rahmen der Integrationsverordnung unterstützt wurden (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Bulgarien, Gesamtaktualisierung am 24.07.2020, nachfolgend BFA 2020, S. 19). Der - ohne Angabe der Primärquellen gefertigten – Aussage der Deutschen Botschaft in Bulgarien, im Jahr 2017 seien 38, 2018 insgesamt 44 und 2019 insgesamt 79 Integrationsprofile angelegt worden, ist nicht zu entnehmen, dass aus der – allein auf dem Wunsch der Betroffenen beruhende - Anlage dieser Profile auch nur eine einzige Vereinbarung mit einer Gemeinde resultierte (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 2-3).
40 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung zu Bulgarien als Aufnahmeland festgestellt wird (siehe z.B. VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32), dass es zwar nicht viele Gemeinden gebe, die solche Vereinbarungen treffen wollen, aber es gebe welche, und dabei handele es sich meistens um Kommunen aus der Provinz, die unter dem Rückgang der Wohnbevölkerung litten, und insbesondere Unternehmen auf dem Land Interesse an Integrationsvereinbarungen ihrer Gemeinde zur Aufnahme von Flüchtlingen zeigen würden, beruht dies offenbar auf einer einzigen Quelle nämlich der Auskunft der deutschen Botschaft Sofia an das Auswärtige Amt vom 01.03.2018 (S. 2). Laut dieser Auskunft bestehe kaum Bereitschaft, sich in der bulgarischen Provinz niederzulassen. Es werden jedoch keine Kommunen oder Unternehmen, die zur Integration von Flüchtlingen bereit sind, konkret benannt. An diesem Mangel krankt auch der aktualisierte Bericht der Deutschen Botschaft in Bulgarien vom Mai 2020, der ebenfalls keine einzige Quelle benennt. Auf diese nicht verifizierten Angaben, die das Auswärtige Amt wiederum in seine Auskunft etwa vom 26.04.2018 an das VG Trier übernommen hat (S. 4), stützt sich insbesondere die Beklagte, aber auch manche der Verwaltungsgerichte (so VG Lüneburg, Beschluss vom 12.12.2019, 8 B 180/19, Rn. 32; VG Stuttgart, Urteil vom 25.02.2021, A 4 K 213/20, Rn. 45).
41 
Eine aktuelle Recherche im Mai 2021 hat keine offiziellen Studien bzw. Zahlen zur Integration von Migranten in Bulgarien ermitteln können. Ebenso hat sich die behauptete fehlende Bereitschaft zur Niederlassung in ländlichen Regionen nicht anhand von konkreten Quellen verifizieren lassen. Im Rahmen einer Studie des Europäischen Ausschusses der Regionen (European Committee of the Regions, 2020: Integration of migrants in middle and small cities and in rural areas in Europe, S. 60, verfügbar unter: https://cor.europa.eu/en/engage/studies/Documents/Integration%20of%20Migrants.pdf) werden zwei Fallstudien zur Integration von Migranten in zwei Städten in ländlichen Räumen in Bulgarien vorgestellt. Dabei waren Interviews mit den Verantwortlichen vor Ort nicht möglich, so dass die Autoren ihre Informationen nur im Rahmen von Internetrecherchen gewinnen konnten. Beiden Städten, der Kleinstadt Nova Zagora und der mittelgroßen Stadt Haskovo, ist gemeinsam, dass die jeweilige Stadtverwaltung in keinerlei Aktivitäten zur Integration von Migranten involviert ist. Insbesondere das Bulgarische Rote Kreuz führt an beiden Orten einzelne Pilotprojekte durch, die aber jeweils nur auf einen begrenzten Zeitraum ausgerichtet sind, wie zehntägige Intensivkurse zur Vermittlung von Kenntnissen über die Rechte von Migranten und das Sozialsystem. Das Projekt in Haskovo wiederum wird von der Europäischen Kommission im Rahmen von Notfallmaßnahmen zur Abfederung des Migrationsdrucks in Bulgarien bezahlt. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass es für Migranten möglich sein kann, in einer Gemeinde, die sich von der demographischen Entwicklung benachteiligt sieht, eine existenzsichernde Arbeitsstelle zu finden und sich dort niederzulassen.
42 
ee) In Bulgarien anerkannt Schutzberechtigte sind daher auf sich selbst gestellt. Mit Schwierigkeiten bei der Unterkunftssuche verbunden ist bereits die Registrierung unter einer Meldeadresse. Diese Registrierung ist Voraussetzung für zahlreiche staatliche Leistungen wie den Erhalt von Identitätsdokumenten, den Abschluss eines Mietvertrages und den Abschluss einer Krankenversicherung und die Beantragung von Sozialleistungen (z.B. BFA 2020, S. 19). Die bulgarische Flüchtlingsagentur SAR lässt seit dem Jahr 2016 nicht mehr zu, dass die Adressen der Aufnahmezentren als Meldeadresse angegeben werden (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 90; vgl. ebenso Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21 f.); Bordermonitoring 2020, S. 75). Diese Schwierigkeiten können zu einem Teufelskreis bei der Wohnungssuche führen, da gültige ID-Dokumente Voraussetzung für den Erhalt eines Mietvertrages seien, gültige ID-Dokumente aber wiederum nur mit einer Meldeadresse zu erhalten seien. Dies führe zu korrupten Praktiken wie gefälschten oder fiktiven Mietverträgen und falscher Adressregistrierung (AIDA 2022, S. 90; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2020, S. 21 f.; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 6)). Soweit teilweise aus dem Umstand, dass die bulgarischen Behörden nachweislich Ausweisdokumente für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte ausgestellt haben, gefolgert wird, dass die Eintragung in das nationale Melderegister und damit auch der Abschluss eines Mietvertrages nicht unmöglich ist (z.B. VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2 1760/18. A, Rn. 318), kann das erkennende Gericht dem nicht folgen. Offenbar kann eine solche Eintragung auf illegalen Wegen erlangt werden, es kann jedoch nicht von den Betroffenen verlangt werden, diesen Weg einzuschlagen, zumal dies mit dem Risiko verbunden sein dürfte, gegen Strafvorschriften zu verstoßen.
43 
In den ersten sechs Monaten nach Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter besteht zwar die Möglichkeit, vorübergehend in den Aufnahmezentren für Asylbewerber aufgenommen zu werden, solange ausreichend Kapazitäten vorhanden sind (z.B. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF vom 25.03.2019, S. 2; AIDA Country Report Bulgaria 2021, S. 87; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; BFA 2020, S. 20), Dem Gericht liegen keine gesicherten Informationen darüber vor, ob diese Möglichkeit auch schutzberechtigten Rückkehrern aus dem Ausland, die ihre frühere Aufnahmeeinrichtung bei ihrer Ausreise aus Bulgarien verlassen hatten, offensteht. Einige Quellen verneinen dies (Raphaelswerk 2019, S. 10; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 8 f.; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S.8) bzw. teilen mit, dass dieser Personenkreis keinen Anspruch auf Unterbringung in einer SAR-Einrichtung hat (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), woraus man folgern könnte, dass die Aufnahme zumindest möglich ist (VG Karlsruhe, Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 27). Dem könnte allerdings entgegenstehen, dass der 6-Monats-Zeitraum in dem Moment der Schutzgewährung beginnt und daher bei Rückkehr des Schutzberechtigten aus dem Ausland nach seiner Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat in der Regel abgelaufen sein wird (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 17.04.2017, S. 8).
44 
Selbst wenn anerkannt schutzberechtigte Personen temporär in einem solchen Aufnahmezentrum nach Rückkehr aus dem Ausland aufgenommen werden, sichert ihnen dies eine Unterkunft nur für maximal sechs Monate, zudem wird diesem Personenkreis kein Essen zur Verfügung gestellt (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 21; Raphaelswerk 2019, S. 10; Bordermonitoring 2020, S. 70). Die Möglichkeit, in einem der landesweit zwölf „Zentren für temporäre Unterbringung“ Unterkunft zu finden, besteht lediglich für maximal drei Monate und kann daher ebenfalls nur einen kurzen Zeitraum bis zur Anmietung einer eigenen Wohnung eine Hilfe bedeuten. (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand 2018, S.9). Es erübrigt sich daher die Klärung der Frage, inwieweit die Unterbringungsbedingungen in den Aufnahmezentren überhaupt zumutbar sind - die Lebensbedingungen in den staatlichen Aufnahmezentren werden durchgehend als schlecht und unter den Mindeststandards liegend beschrieben; inadäquat sein insbesondere die hygienischen Umstände, die regelmäßig zu Gesundheitsproblemen führen (BFA 2020, S. 16; Bordermonitoring 2020, S. 51-63, mit ausführlichem Bericht über die einzelnen offenen Lager; Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bulgarien: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Mai 2019, S. 3). Zudem könnte der Bericht, dass den Recherchierenden im Jahr 2018 durch die bulgarischen Behörden der Zutritt zu Aufnahmeeinrichtungen trotz rechtzeitiger Anfrage verwehrt wurde (Bordermonitoring 2020, S. 51 f.), Anlass zu der Vermutung geben, dass die Aufnahmezentren sich möglicherweise in einem Zustand befunden haben, der von den bulgarischen Verantwortlichen nicht als vorführwürdig eingeschätzt wurde.
45 
Die generelle Wohnsituation in Bulgarien ist dadurch gekennzeichnet, dass die meisten Bulgaren in ihren „eigenen vier Wänden“ leben, die Wohnungseigentumsquote betrug im Jahr 2019 84,1 % (zum Vergleich: Deutschland 51,1%; siehe hierzu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155734/umfrage/wohneigentumsquoten-in-europa/). Daraus folgt, dass der Wohnungsmarkt in Bulgarien sich auf einen kleinen Teil der Bevölkerung richtet und dabei auf die großen Städte konzentriert, in denen große Wohnblocks in der sozialistischen Ära erstellt wurden. Der Wohnungsbestand ist allerdings von großem Renovierungs- und Instandsetzungsbedarf gekennzeichnet, die erklärt auch die großen Leerstände (UNHCR, Bulgaria, 2020: Municipal Housing Policies: A Key Factor For Successful Integration At The Local Level, S.6, nachfolgend UNHCR 2020, Municipal Housing Policies). Außerhalb der großen Städte sind Wohnungen eher bei privaten Vermietern zu finden.
46 
Eine Studie des UNHCR fasst die Hindernisse, denen sich anerkannte Schutzberechtigte beim Zugang zu Wohnraum gegenübersehen, zusammen: Die größten Hürden sind rechtliche Barrieren beim Zugang zu Sozialwohnungen, Schwierigkeiten beim Zugang zum privaten Wohnungsmarkt infolge hoher Mieten, Diskriminierung und dem Widerwillen von Vermietern, Mietverträge mit Ausländern abzuschließen (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 8). Insbesondere sind vielfach Vorbehalte gegenüber Muslimen auf Seiten der Vermieter festzustellen (Auskunft Auswärtiges Amt vom 18.07.2017, S. 9; UNHCR 2020 aaO; siehe VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 30).
47 
Sozialwohnungen stehen in Bulgarien selbst für die bulgarische Bevölkerung nicht ausreichend zur Verfügung (UNHCR Bulgarien, 2020, S. 6). Nach Angaben der Caritas besteht Zugang zu Sozialwohnungen der Gemeinde nur, wenn mindestens ein Familienmitglied bulgarischer Staatsbürger ist; Schutzberechtigte haben daher üblicherweise keinen Zugang zu diesen Wohnungen (Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 32; BFA 2020, S. 21). Das Auswärtige Amt teilt mit, dass sich anerkannte Flüchtlinge ebenso wie bulgarische Staatsangehörige auf die wenigen vorhandenen Sozialwohnungen bewerben dürfen (AA 16.01.2019; BFA 2020, S. 21). Diese Aussagen befinden sich allerdings nicht in einem Widerspruch zueinander, vielmehr ist festzustellen, dass sich Schutzberechtigte ebenso wie Inländer auf eine Sozialwohnung bewerben dürfen, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen – was im Falle von Migranten jedoch faktisch so gut wie unmöglich ist. Sie befinden sich in Konkurrenz zu bulgarischen Wohnungssuchenden und sind dabei kaum erfolgreich (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9). Die Voraussetzungen für den Zugang zu Sozialwohnungen differieren zudem in den einzelnen Kommunen, vielfach wird vorausgesetzt, dass der Antragsteller seinen Wohnsitz für eine bestimmte Dauer registriert haben muss, teilweise fünf bis 10 Jahre (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 48; Raphaelswerk 2019, S. 11; Bulgarian Council on Refugees and Migrants: Municipal Housing, verfügbar unter: https://www.refugee-integration.bg/en).
48 
Anhand der vorstehenden Auskunftslage bleibt das Problem der Obdachlosigkeit eines der dringendsten Probleme für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien (Bordermonitoring 2020, S. 69; Raphaelswerk 2019, S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22), der UNHCR geht aktuell unverändert von einem „real risk of homelessness“ aus (UNHCR, Submission For the Office of the High Commissioner for Human Rights, Compilation Report UPR: 3rd Cycle, 36th Session, Bulgaria, vom Januar 2020, nachfolgend: UNHCR, Submission For the Office oft he High Commissioner for Human Rights, 2020). Dabei werden Frauen und Familien mit kleinen Kindern als besonders von Obdachlosigkeit bedroht bezeichnet (BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8-9; Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 9).
49 
Nach Angaben des Auswärtigen Amtes gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche durch Nichtregierungsorganisationen, es gebe in Bulgarien kaum obdachlose Flüchtlinge (AA, Auskunft vom 25.03.2019 an das BAMF, S. 2, und Auskunft vom 16.01.2019 an das VG Köln, S. 2). Dies sei mit der Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen und staatlicher Stellen zu begründen, gepaart mit einer niedrigen Anzahl von in Bulgarien verweigernden Flüchtlingen (so z.B. BFA 2020, S. 21). Die Art der staatlichen Hilfe und der Hilfe der NRO wird jedoch nicht konkret benannt, es gibt keinen Bericht, dem sich eine tatsächliche Vermittlung oder gar Zurverfügungstellung von finanzierbarem Wohnraum entnehmen lässt. Der Verbindungsbeamte des BM.I für Bulgarien übermittelte am 21.05.2021 eine Auskunft der bulgarischen Staatsagentur für Flüchtlinge, aus der sich ergibt, dass es in Bulgarien keine NGO gibt, welche die Unterbringung für einen längeren Zeitraum gewährleistet, es bestehe eventuell die Möglichkeit für eine kurzfristige Unterbringung von bspw. einer Woche (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021, S. 4). Die Caritas als eine jener NGOs, die vor Ort Hilfe anbieten, hat mitgeteilt, dass die Unterbringungskapazitäten nur Platz für knapp 5.700 Menschen böten und längst erschöpft seien (BFA, aaO, 19.07.2021, S. 5).
50 
Nach Auffassung des Gerichts ist jedoch daraus, dass es keine Berichte über eine große Anzahl von obdachlosen Schutzberechtigten in Bulgarien gibt, nicht zu folgern, dass es Schutzberechtigten gelingt, in irgendeiner Weise ein Obdach zu finden. Zunächst ist generell festzustellen, dass in vielen Bereichen durch die bulgarischen Behörden keine zahlenmäßigen Erhebungen vorgenommen werden (siehe z.B. die bulgarische Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva in ihrer Auskunft vom 17.07.2017 an das OVG NRW, mit der wiederholten Antwort, dass entsprechende Daten durch die bulgarischen Behörden nicht erfasst werden).
51 
Die deutsche Botschaft in Sofia hat zwar mit Bericht zuletzt vom Mai 2020 (Deutsche Botschaft Sofia, Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 4 f.; in Fortführung früherer Berichte) mitgeteilt, dass Schutzberechtigte auch durch Hilfe der Zivilgesellschaft, z.B. von der syrischen oder der muslimischen Gemeinschaft, ein Obdach gewährt werde – allerdings auch hier ohne Angabe der Primärquelle. Das Auswärtige Amt wurde mit Anfrage von dem OVG Hamburg gezielt dahingehend befragt und antwortete mit seiner Auskunft vom 07.04.2021 ausweichend, indem auf das Vorhandensein nur weniger Sozialwohnungen hingewiesen wurde. Auf die Ausgangsfrage hin wurde lediglich mitgeteilt, das konkretere Erkenntnisse nicht vorlägen (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3). Auch zu der Frage nach Obdachlosigkeit oder Hungerleidens von Familien teilte das Auswärtige Amt mit, dass dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Angesichts grundsätzlich eher diplomatischer Feststellungen des Auswärtigen Amtes folgert das Gericht aus dieser Auskunft, dass seitens des Auswärtigen Amtes weder Obdachlosigkeit noch eine mangelhafte Versorgung mit dem zum Leben Nötigsten ausgeschlossen werden kann.
52 
Aus den Erkenntnismitteln folgt vielmehr, dass die überwiegende Mehrheit der Schutzberechtigten der drohenden Obdachlosigkeit durch Weiterreise in andere Unionsländer begegnet (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mai 2019, 4. Seite bei DIN A 4-Format), Entscheidend dürfte also alleine die geringe Zahl von Flüchtlingen sein, die tatsächlich auf Dauer in Bulgarien bleibt; die Mehrheit der Statusinhaber verlässt Bulgarien während des Asylverfahrens oder nach der Anerkennung (Dr. Valeria Ilareva, Auskunft 07.04.2017, S. 2). Genaue Zahlen werden nicht ermittelt, daher gibt es nur Schätzungen, dass ca. 1.000 bis 2.000 Personen in Bulgarien verbleiben (Bordermonitoring 2020, S. 69; BAMF, Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 5-6;).
53 
Der Erhalt eines Schutzstatus bedeutet daher in der Regel Obdachlosigkeit. Ohne Wohnung ist auch der legale Zugang zu anderen staatlichen und medizinischen Leistungen unmöglich, da hierfür eine Meldeadresse vorgelesen werden muss. Der möglicherweise gegebene Ausweg, durch fiktive oder gefälschte Mietverträge eine Meldeadresse nachzuweisen, wird aus den o.g. Gründen nicht als den Betroffenen zumutbare Option angesehen. Mangels Integrationsprogramm, ohne Sprachkenntnisse und in Abwesenheit von Sozialarbeitern ist es Schutzberechtigten nahezu unmöglich, sich in Bulgarien dauerhaft niederzulassen. Flüchtlinge erhalten faktisch keinerlei finanzielle Unterstützung wie Wohngeld oder Sozialhilfe, so erhielten im Jahr 2017 nur 20 Schutzberechtigte Sozialleistungen ausgezahlt (BFA 2020, S. 20.
54 
ff) Ebenso faktisch aussichtslos sind die Möglichkeiten, sich durch Erwerbstätigkeit das Existenzminimum zu sichern. Nur wenige Schutzberechtigte haben bislang überhaupt eine Arbeit gefunden und wenn, dann entweder in schlecht bezahlten unqualifizierten Tätigkeiten oder bei Arbeitgebern gleicher Herkunft, die sich vornehmlich in Sofia ein Geschäft aufgebaut haben (unter Berufung auf eine Stellungnahme der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge: BAMF, Länderinformationsblatt Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Der Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildung steht anerkannt Schutzberechtigten zwar nominell in gleicher Weise wie Inländern automatisch und bedingungslos offen (BFA 2020, S. 21; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 2, und an das OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 4; AIDA 2021, S. 87; Raphaelswerk 2019, S. 13). Die Sprachbarriere und die allgemein schlechte sozioökonomische Lage im Land seien übliche Probleme, ebenso wie der damit einhergehende Mangel an Fortbildungsangeboten und Möglichkeiten der Anerkennung der beruflichen Qualifikationen aus dem Herkunftsland sowie ausländischer Berufserfahrung (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 97). Arbeitsplätze stehen überwiegend in Sofia und Großstädten wie Plovdiv, Burgas und Stara Zagora im Süden sowie Varna im Nordosten des Landes zur Verfügung (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft 24.01.2019, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Die von einigen Gerichten zitierte Aussage, es beständen für arbeitsfähige Schutzberechtigte tatsächliche Möglichkeiten, eine existenzsichernde Arbeit zu finden, und zunehmend würden sich Unternehmer danach erkundigen, wie sie Flüchtlinge beschäftigen können, insbesondere in der Landwirtschaft und in der Gastronomie, es mangele allerdings teilweise an der Bereitschaft der Flüchtlinge, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, beruht allein auf der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26.04.2018 an das VG Trier (S. 3 f.) bzw. der Auskunft der Deutschen Botschaft Sofia vom 01.03.2018 (S. 2, beide in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Diese schildern jedoch zum einen Einzelfälle, jedoch ohne konkrete Angaben, und bewegen sich zum anderen im Bereich von Vermutungen und Prognosen. Sie werden auch nicht ansatzweise von irgendeinem anderen Erkenntnismittel, das sich nicht auf diese Auskunft bezieht, bestätigt.
55 
Die Deutsche Botschaft hat im Mai 2020 von einem Programm der bulgarischen Regierung im Jahr 2016 zur Beschäftigung und Ausbildung von anerkannten schutzberechtigten berichtet, dass bis Ende 2020 verlängert worden sei (Deutsche Botschaft Bulgarien, 2020: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, S. 3). Ausweislich andere Quellen ist der Zugang in der Praxis jedoch de facto nicht möglich, weil der tatsächliche Zugang zu dieser Art von Aus und Weiterbildung die Kenntnis der bulgarischen Sprache voraussetzt, eine Möglichkeit der Übersetzung wird nicht angeboten (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 24-25). Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist die Registrierung eines Wohnsitzes (UNHCR 2020, Municipal Housing Policies, S. 43); solange Schutzberechtigte, die aus dem Ausland zurückkehren, keine Wohnung gefunden haben, können sie sich auch nicht bei der bulgarischen Arbeitsmarktbehörde als arbeitssuchend melden (Raphaelswerk 2019, S. 13). Nur wenigen anerkannt Schutzberechtigten gelingt die Integration in den bulgarischen Arbeitsmarkt und dann auch nur zu Löhnen, die keine laufenden Mietzahlungen abdecken (Bordermonitoring 2020, S. 76). Selbst das Auswärtige Amt räumt mit der vagen Formulierung, dass es „sicherlich möglich“ ist, mit dem Lohn für „einige“ dieser Tätigkeiten eine Unterkunft ausreichend finanzieren zu können, ein, dass es keine entsprechenden, belastbaren Erkenntnisse gibt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26.04.2018, S. 4). Bulgarien bietet die niedrigsten Lohn- und Lohnnebenkosten mit (im Jahr 2016) nur 4,49 EUR pro Stunde in der EU (Auswärtiges Amt, Bulgarien: Wirtschaft, 24.01.2019).
56 
Durch die staatliche Agentur für Arbeit wird keine effektive Hilfe geleistet. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes hätten anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien eine Arbeitsstelle vor allem in der Landwirtschaft und der Gastronomie finden können (Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, Seite 3 f. und BAMF, Länderinformation: Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 10). Demgegenüber berichtet AIDA, dass im Jahr 2019 von 481 Schutzgewährungen lediglich acht anerkannte Schutzberechtigte gemeldet beschäftigt gewesen sein (AIDA, Country Report Bulgaria 01.02.2022, S. 69).
57 
Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere im Jahr 2019 Arbeitsmöglichkeiten für die Gruppe arbeitsfähiger junger Männer als realistisch in Nischenbereichen wie Callcentern für die arabische Sprache angesehen wurden, scheinen diese überbewertet zu sein, wie das VG Köln in seinem Urteil vom 17.06.2020 (20 K 5099/19.A, Rn. 39) nach Auffassung der Berichterstatterin zutreffend anmerkt. Feststellungen dazu, dass sich in der jüngeren Zeit vor Beginn der Corona-Pandemie die wirtschaftliche Lage Bulgariens zunehmend verbessert habe, die Arbeitslosenquote gesunken sei und der Arbeitsmarkt sich dynamisch entwickelt habe (z.B. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2019 – A 4 S 2476/19 –, Rn. 16; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.02.2020 – 7 A 10.903/18 –, Rn. 59 ff.), sind in anderen Erkenntnismitteln nicht in dieser Weise zum Ausdruck gekommen. Selbst wenn es eine geringfügige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation gegeben haben sollte, hat sie sich jedoch mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie ins Gegenteil verkehrt: Die landesweite Arbeitslosenquote sei von 4,2 % im Jahr 2019 auf geschätzt 7,0 % gestiegen (German Trade and Invest, GTAI, Bulgarien vom 01.05.2020, S. 2; European Comission, Spring 2020 Economic Forcast by Country: Bulgaria vom 06.05.2020, S. 1 f.), die deutsche Botschaft teilt in ihrem aktuellen Datenblatt hingegen eine Arbeitslosenquote von 4,7 % im April 2021 mit. Radio Bulgaria, der Auslandsdienst des staatlichen bulgarischen Rundfunks, berichtete am 22.06.2020 unter Berufung auf das nationale Arbeitsamt von einer Arbeitslosenquote von 9,0 % und durchschnittlich neun Arbeitslosen, die sich um einen Arbeitsplatz bewerben würden (Radio Bulgaria, Arbeitslosenrate schwankt je nach Region zwischen 4,4 und 16,5 % von 22.6.2020, https://www.bnr.bg/de/Post/101297605/Arbeitslosenrate-schwankt-je-nach-Region-zwischen-44-und-165). Am härtesten wirke sich die wirtschaftliche Krise auf den Dienstleistungssektor, auf Verkauf, Transport, Hotels, Restaurants, Kultur- und Unterhaltungssektor aus (vgl. European Comission, aaO). Die vor der Pandemie angenommenen besonderen Chancen anerkannter Schutzberechtigter, gerade in der Gastronomie einen Arbeitsplatz zu finden, müssen vor diesem Hintergrund als überholt gelten, führt das VG Karlsruhe zu Recht aus (Urteil vom 23.06.2020, A 13 K 6311/19, Rn. 30; ebenso VG Hannover, Urteil vom 24.03.2021, 3 A 5416/19, Rn. 36; VG Bremen, Urteil vom 25.03.2021, 2 K 3086/17, Rn. 45).
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Die seitens der bulgarischen Regierung eingeleiteten Maßnahmen gegen die sich abzeichnende Rezession beziehen sich in erster Linie auf die vorhandenen Unternehmen und Arbeitsplätze (hierzu German and Trade Invest [GTAI], Bulgarien will sich mit Tourismus von der Coronakrise erholen, 25.03.2021, aufrufbar in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg) und dürften die Chancen anerkannter Schutzberechtigter erstmals eine Arbeit zu finden, nicht spürbar erhöhen.
59 
Andere Quellen nennen eine Arbeitslosenquote von 6,9 % für den Oktober 2020 und dann einen Anstieg auf 14,2 % am 01.01.2021 (Svetoslav Todorov, 07.01.2021, Bulgaria in 2021: Testing Times for Government, People and Environment). Darüber hinaus sind laut einem Artikel von Balkan Insight vom 17.03.2021 hunderttausende Bulgaren, die im Ausland lebten und arbeiteten – und damit einen Hauptgrund für die relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen Bulgariens bis dahin bedeutet hatten -, aufgrund der COVID-19-Pandemie wieder nach Bulgarien zurückgekehrt; genaue Zahlen bezüglich der Anzahl der Rückkehrer gibt es jedoch nicht (Balkan Insight, 2021: Bulgarians Exiled Young Professionals Mull New Life Back Home). Ein Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) vom März 2021 zitiert eine Erhebung, wonach 10 % der befragten Rückkehrer nach dem Ende der Krise nicht wieder ins Ausland gehen möchten (UNFPA, 2021: Turning The Tide?, S. 2, in der Asyldokumentation des VGH Baden-Württemberg). Wenig aussagekräftig sind die Ergebnisse verschiedener Umfragen der Deutsch-Bulgarischen Außenhandelskammer zu den Auswirkungen der Pandemie auf die bulgarische Wirtschaft vom Dezember und Juni 2020 (VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021, 8 K 2760/18.A, Rn. 329 + 330), da diese lediglich die augenblickliche Stimmung und Erwartungen der befragten Unternehmer wiedergibt. Dies gilt ebenso für die Hoffnung Bulgariens auf Touristen in den Sommermonaten (GTAI, aaO), der schon entgegenstehen dürfte, dass es der Tourismusbranche noch nicht gelungen ist, sich auf die Bedürfnisse internationaler, insbesondere westlicher Touristen einzustellen, so dass bisher nur vergleichsweise wenige westliche Touristen den Weg nach Bulgarien finden (siehe deutsche Botschaft Sofia, Datenblatt Bulgarien). Weiter wird geschätzt, dass ein erheblicher Teil der von der SAR untergebrachten Flüchtlinge, denen es gelungen war, irgendeine Beschäftigung zu finden (über den Umfang werden keine Aussagen gemacht), in der ersten Pandemiephase ihre Arbeitsstellen verloren haben. Dies wird ausdrücklich für die Gastronomie festgestellt, in der Schutzberechtigte ohne Vertrag – in der Schattenwirtschaft - beschäftigt wurden (Europäische Kommission, Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria, https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures-relatedto-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria).
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gg) Anerkannt Schutzberechtigte haben zwar unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialhilfe (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2022, S. 98; Raphaelswerk 2019, S. 11), die Gewährung von Sozialhilfe ist jedoch an nur sehr schwer zu erfüllende Bedingungen geknüpft, so dass es selbst bezugsfähigen bulgarischen Staatsangehörigen nur selten gelingt, diese zu beziehen, und anerkannt Schutzberechtigten fast nie (hierzu Dr. Valeria Ilareva, Auskunft vom 07.04.2017, S. 7). Für diese ist der Sozialhilfebezug nur möglich, wenn Hilfe von Nichtregierungsorganisationen erhältlich ist, zudem ist ein Dolmetscher nötig (BFA 2020, S. 20), ohne dass jedoch ein Recht auf einen Dolmetscher gegeben ist. So soll im Jahr 2017 lediglich in 20 Fällen Sozialhilfe an Schutzberechtigte gezahlt worden sein (s.o.; Dr. Valeria Ilareva vom 07.04.2017, S. 7; Auskunft des AA an das OVG Weimar vom 18.07.2018, S. 2 und an das VG Trier vom 26.04.2018, S. 3). Die Sozialhilfe betrug von 2009 bis 2017 unverändert ca. 33 EUR monatlich (s. VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 25; BFA 2020, S. 20), 2019 wurde sie auf ca. 38 EUR monatlich angehoben (Auswärtiges Amt, Auskunft 07.04.2021, S. 2). Die Lebenshaltungskosten wurden für das Jahr 2018 mit 305 EUR im Landesschnitt, 397 EUR für Sofia, angegeben (Auskunft des AA an das VG Potsdam vom 16.01.2019, Seite 3), wobei für eine Wohnung in Sofia jedoch mindestens 200 EUR ohne Nebenkosten zu zahlen sind (Bordermonitoring S. 75). Daraus ergibt sich, dass anerkannt Schutzberechtigte ihren Lebensunterhalt in Bulgarien nicht aus staatlichen Sozialleistungen decken könnten, selbst wenn sie im Einzelfall in der Lage sein sollten, Sozialhilfe zu beziehen. Grundsätzlich kann der Lebensunterhalt nur durch Erwerbstätigkeit gesichert werden (Auskunft Auswärtiges Amt vom 26.04.2018, S. 3).
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Es gibt zwar nach Angaben des Auswärtigen Amtes „vielfältiges Programme“ verschiedener internationaler und bulgarischer Nichtregierungsorganisationen, wie Rechtsberatung des Helsinki-Komitees, Hilfe bei der Arbeitsvermittlung und der Wohnungssuche durch das Bulgarische Rote Kreuz und die Caritas (Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 07.04.2021, S. 3; Raphaelswerk 2019, S. 11), jedoch handelt es sich lediglich um kurzfristige und punktuelle Maßnahmen, die sich überwiegend als Hilfe zur Erlangung begehrter Leistungen (Wohnung, Arbeit, Hilfe, etc.) darstellen (s. hierzu auch Raphaelswerk 2019, S. 1). Über die Erfolgsquote wird nicht berichtet, etwa durch Angabe der Anzahl vermittelter Arbeitsverhältnisse oder Mietverträge. Ohnehin zeichnet sich diese Auskunft dadurch aus, dass keine Nachweise bzw. Quellen benannt werden. Aufgrund der Ausgestaltung dieser Programme als unregelmäßig angebotene Projekte mit kurzer Laufzeit, obliegt es dem Zufall, ob ein Schutzberechtigter davon profitieren kann.
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hh) Der Zugang zur Gesundheitsversorgung wird vielfach von Gerichten als ausreichend angesehen, da rechtlich Schutzberechtigte auch in dieser Hinsicht Inländern gleichgestellt sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 16; so z.B. VG Freiburg, Urteil vom 12.03.2019, A 5 K 1829/16, Rn. 34; VG Karlsruhe, Urteil vom 30.12.2018, A 13 K 3922/17, juris. Rn. 26 ff.), ist jedoch in der Praxis für Personen mit Schutzstatus ebenfalls nicht gewährleistet. Vom ersten Tag nach Statuszuerkennung an müssen Schutzberechtigte die Krankenversicherungsbeiträge, die bis dahin von der bulgarischen Flüchtlingsagentur entrichtet worden sind, selbst bezahlen, eine staatliche Unterstützung hierfür gibt es nicht (AIDA Country Report Bulgaria, 01.02.2021, S. 70 f.). Selbst wenn der Beitrag in Höhe von 22,90 EUR für arbeitslose Personen (AIDA 2021, S. 88; BFA 2020, S. 21) irgendwie aufgebracht werden kann, sind Aufwendungen für Arzneimittel und psychologische Behandlung nicht abgedeckt. Auch kassenfinanzierte Leistungen können kaum in Anspruch genommen werden, da man hierzu auf eine Patientenliste eines Hausarztes gelangen muss, was oft mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist, z.B. mit fehlenden Sprachkenntnissen (BFA 2020, S. 18) . Ohnehin ist das Hauptproblem der Gesundheitsversorgung in Bulgarien der Mangel an Ärzten und medizinischem Personal (Raphaelswerk 2019, S. 12; Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 23), der sich durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschärft hat. Das bulgarische Gesundheitswesen ist durch hohe Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen gekennzeichnet, die nicht von Krankenkassenbeiträgen abgedeckt sind – so genannte „Out of Pocket“-Zahlungen, die in Bulgarien im Jahr 2017 46,6 % der gesamten Gesundheitsausgaben gemacht ausgemacht haben und damit den höchsten Anteil in der EU erreichen. Nach Schätzungen sind darüber hinaus mindestens 900.000 Menschen in Bulgarien ohne Krankenversicherung (BFA 2021, S. 21 f.), ein hoher Wert bei einer Gesamtbevölkerung von 6,9 Millionen im Jahr 2020. Dies erklärt sich auch vor dem Hintergrund, dass die Nachzahlung ausstehender Krankenversicherungsbeiträge nötig ist, um Krankenversicherungsschutz zu erhalten, zunächst für drei Jahre rückwirkend, inzwischen ist dies auf fünf Jahre rückwirkend erhöht (Schweizerische Flüchtlingshilfe 2019, S. 22 f.).
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ii) Diese in allen existenziellen Lebensbereichen überaus kritische Situation wird zusätzlich durch die teils abweisende, teils durch Unwissenheit geprägte Einstellung der bulgarischen Gesellschaft gegenüber Migranten und Flüchtlingen verschärft. Aus einem Bericht des UNHCR Bulgarien im November 2020 ergibt sich, dass die Einstellung vieler Bulgaren durch vergangene Erfahrungen, Stereotypen und die mediale Berichterstattung negativ geprägt ist (Bordermonitoring 2020, S. 73), 38 % der Befragten misstrauen Flüchtlingen allgemein, dabei überwiegend die Angst vor Verbrechen, die Angst vor der Verbreitung kultureller bzw. religiöse Überzeugungen, die Angst vor der Verbreitung von Krankheiten und die Angst vor Jobverlust (UNHCR, 2020: Public Attitudes Towards Refugees And Asylum Seekers in Bulgaria, S. 10, nachfolgend UNHCR 2020, Public Attitudes). Dabei sind die Berichte in den Erkenntnismitteln uneinheitlich, so wird einerseits von einer zunehmend wohlwollenden Bewertung der Niederlassung Schutzberechtigter in Gebieten mit demographischen Problemen berichtet (UNHCR 2020, Public Attitudes, S. 12), wobei der Anstieg sich im Rahmen von 18 auf 31 % Zustimmung eher im zurückhaltenden Bereich bewegt und jedenfalls nicht die Mehrheit der Bevölkerung abbildet. Daneben stehen Berichte über Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge, deren Bandbreite von einzelnen Übergriffen staatlicher Organe auf Migranten (BFA 2020, S. 6) bis hin zu Aussagen reicht, es werde gezielt Jagd auf Flüchtlinge gemacht (Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2019, S. 4; Caritas, 2019, The Bulgarian Migration Paradox, S. 36). Im Zentrum der Problematik scheinen dabei Bürgerwehren zu stehen, insbesondere rechtsradikale Gruppierungen wie die „Civil Squads for the Protection of Women and the Faith“ (CSPWF), die „Organization for the Protection of Bulgarian Citizens“ (OPBC), die „Military Union Vasil Levski“ (MU), das „Vasil Levski Committee for National Salvation“ (CNS) und das „Shipka Bulgarian National Movement“ (BNM) (eingehend dazu: Bordermonitoring 2020, S. 26-28).
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Diese sollen sich nach einzelnen Berichten 2017 anderen Aktivitäten zugewandt haben, nachdem die Flüchtlingszahlen gesunken sein (Stoynova, Ndya / Dzhekova, Rositsa, 2019, Vigilantism against ethnic minorities and migrants in Bulgaria, S. 170, https://csd.bg/fileadmin/user_upload/publications_library/files/2019_11/Vigilantism_against_Migrants_and_Minorities.pdf). Als beunruhigend wird dabei eingeschätzt, dass diese weitestgehend ungestört durch die bulgarischen Behörden agieren können (Bordermonitoring 2020, S. 26 f.).
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Nach Angaben von AIDA waren auch im Jahr 2020 verbale und physische Übergriffe, Angriffe und Diebstähle zulasten von ausländischen Mitbürgern festzustellen, eine Verbesserung sei nicht zu beobachten (AIDA 2020, S. 59). Die Menschenrechtskommissarin des Europarates zeigte sich in ihrem Bericht vom 31.03.2020 besorgt über weitverbreitete Intoleranz gegenüber Minderheiten in Bulgarien, u.a. gegenüber Muslimen, Migranten und Asylsuchenden; der Anstieg an Gewalttaten sei besorgniserregend (Commissioner For Human Rights Of The Council Of Europe (2020): Report Following Her Visit To Bulgaria From 25 to 29 November 2019, S. 6-7, verfügbar unter: https://rm.coe.int/report-on-the-visit-to-bulgaria-from-25-to-29-november-2019-by-dunja-m/16809cde16.; UNHCR, Submisson For the Office of the High Commissioner for Human Rights, 2020, Rn. 35; VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 34 f.).
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Zusammenfassend ist festzustellen, dass zwar formal Schutzberechtigte Inländern in den meisten Bereichen gleichgestellt sind, ihre Situation sich jedoch strukturell und grundlegend unterscheidet (so schon VG Köln, Urteil vom 17.06.2020, 20 K 5099/19.A, Rn. 33). Bulgaren steht zu über 84 % eine Unterkunft als Eigentum zur Verfügung, Schutzberechtigte hingegen können sich bei fehlenden Sozialleistungen und einem ihnen nur formal zugänglichen Arbeitsmarkt Wohnraum nicht finanzieren, sofern sie überhaupt einen Vermieter finden, der zur Vermietung an sie bereit ist. Anders als Bulgaren können sie nicht auf andere Arbeitsmärkte in der EU ausweichen, da sie keine Freizügigkeit genießen. Bei fehlenden Sprachkenntnissen, ohne soziale Kontakte oder familiäre Netzwerke bleibt ihnen nur ein Leben, das unmittelbar von Verelendung bedroht ist. Der weit verbreiteten Intoleranz und den zunehmend rassistisch agierenden Gruppierungen begegnet der Staat ebenso gleichgültig wie im Ganzen hinsichtlich einer Integration der Schutzberechtigten. Die „Null-Integration“ seit nunmehr neun Jahren verdeutlicht diese institutionelle Gleichgültigkeit.
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d) Vor dem Hintergrund der so durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Situation droht dem Kläger selbst nach den oben dargelegten, strengen Maßgaben in dem Fall der Abschiebung nach Bulgarien unabhängig von seinem Willen ein „Automatismus der Verelendung“ und damit die zumindest beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtcharta. Es erscheint nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an eine Rückkehr nach Bulgarien eine Arbeit findet, die es ihm gestattet, seinen Lebensunterhalt zu sichern und eine Wohnung zu finanzieren.
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Der Kläger hat – wie bereits ausgeführt - eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EuGrCH durch körperliche Misshandlungen in Form von Schlägen hinnehmen müssen, mit Folgen für seine körperliche und seelische Gesundheit. Eine solche entwürdigende und erniedrigende Behandlung bleibt nicht ohne Folgen für die Psyche eines jungen Erwachsenen, es ist nachvollziehbar, dass diese Erlebnisse seine psychische Gesundheit bis heute erheblich beeinträchtigen und insbesondere Angstzustände bewirken. Schon vor diesem Hintergrund ist ihm die Rückkehr in das Land, in dem er einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung bereits mehrfach ausgesetzt war, nicht zumutbar. Zudem gehört er der besonders verletzlichen, vulnerablen Personengruppe derjenigen Personen an, die aufgrund der Folgen dieser Behandlung zumindest weitgehend auf Unterstützung angewiesen sind.
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Schließlich liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger einer Verelendung in Bulgarien aus individuellen Gründen entgehen könnte. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er in Bulgarien sozial vernetzt ist, ihm nennenswerte finanzielle Mittel zur Verfügung stehen oder er über besondere persönliche Fähigkeiten verfügt, die ihm alsbald nach einer Rückkehr nach Bulgarien trotz der oben dargestellten Hindernisse die Aufnahme einer Arbeit ermöglichen könnten.
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3. Da das Bundesamt den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ablehnen durfte, fehlt es auch an einer Grundlage für die ferner verfügte Abschiebungsanordnung, die Verneinung von Abschiebungsverboten und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot.
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei gemäß § 83b AsylG.

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