Urteil vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 14 K 5442/18
Tenor
Es wird festgestellt, dass der Beklagte durch das durchgängige Abfilmen der Kundgebung der Klägerin am 19. Oktober 2018 in E. -N. rechtswidrig gehandelt hat.
Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
1
Tatbestand:
2Die Klägerin begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anfertigung von Bild- und Tonaufzeichnungen während einer Versammlung in E. -N. .
3Die Klägerin war Anmelderin und Veranstalterin der am 19. Oktober 2018 von 20:15 Uhr bis 22:00 Uhr in E. -N. zu dem Thema „Sicherheit im E1. Westen schaffen, Überfremdung stoppen!“ durchgeführten Standkundgebung. Unmittelbar zuvor hatte sie von 19:00 Uhr bis 20:00 Uhr eine Versammlung in E. -M. Platz in Form eines Aufzuges durchgeführt. An beiden Versammlungsorten fanden sich Gegendemonstranten ein.
4Rund um die Versammlung in E. -N. waren zwei Fahrzeuge der Polizei positioniert, auf deren Dächern sich Mastkameras befanden und mittels derer Videoaufnahmen von der Versammlung der Klägerin sowie vom Gegenprotest gefertigt wurden. Darüber hinaus filmte ein Polizeibeamter mit einer Handkamera. Auch die vorangegangene Versammlung der Klägerin in E. -M. war videografiert worden.
5Auf einem der beiden übersandten Datenträger des Beklagten findet sich eine 1:35 minütige Videodatei. In dem hierzu gefertigten Protokoll findet sich die Angabe, dass von 20 bis 21 Uhr Aufzeichnungen erfolgt seien. Es sei zu keiner Straftat gekommen. In der Beschreibung des Kurzsachverhaltes heißt es, dass ein Versammlungsteilnehmer „Rechts“ durch Beamte kontrolliert worden sei. Vorangegangen sei eine Auseinandersetzung zwischen ihm und einem Pressevertreter.
6Die Klägerin hat am 25. Oktober 2018 Klage erhoben.
7Die Klage sei zulässig, insbesondere habe sie ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Filmens. Es bestehe eine Wiederholungsgefahr, da sie regelmäßig Versammlungen in E. anmelde und zu befürchten sei, dass der Beklagte künftig weitere Versammlungen ohne eine Rechtsgrundlage abfilme.
8Die Klage sei auch begründet. Das pauschale Abfilmen der Versammlung stelle einen erheblichen Eingriff in die innere Versammlungsfreiheit dar. Der Beklagte habe keine Anhaltspunkte für eine besondere Gefahrenlage gehabt. Die von ihm benannten vorhergehenden Versammlungen seien zu verschiedenen Themen in unterschiedlich geprägten Stadtteilen und zudem zum Teil in Form eines Aufzuges ‑ und nicht, wie vorliegend als Standkundgebung – durchgeführt worden und folglich mit der hier streitgegenständlichen Versammlung nicht vergleichbar. Ungeachtet dessen sei die Annahme unfriedlicher Versammlungsverläufe unzutreffend. Zwischen dem 1. Januar 2018 und dem 9. Oktober 2018 hätten allein 100 Mahnwachen, Kundgebungen und Demonstrationen mit einer Teilnehmerzahl von 3 bis 800 Personen stattgefunden, welche sämtlich störungsfrei verlaufen seien. Es habe keinerlei gewalttätige Ausschreitungen oder andere, nennenswerte Straftaten gegeben. Bei vereinzelten Auflagenverstößen einzelner Teilnehmer sei die Versammlungsleitung sofort und konsequent dagegen eingeschritten. Es seien insbesondere auch sämtliche Versammlungen zwischen dem 21. September 2018 und dem 19. Oktober 2018 friedlich verlaufen:
9Bei den stationären Kundgebungen am 3. Oktober 2019 sei es zu gewalttätigen Übergriffen durch mehrere hundert Gegendemonstranten gekommen. Die Polizei sei bei diesen Versammlungen nicht ausreichend präsent gewesen, was von Linksextremisten als Einladung für Blockadeaktionen und gewalttätige Übergriffe verstanden worden sei. Dennoch seien die Anhänger der Partei E. S. friedlich geblieben. Sämtliche Situationen, die zwischenzeitlich von der Polizei zur Begründung der Gefahrenlage herangezogen würden, hätten sich vor und nach den Versammlungen zugetragen, seien also für eine Videoüberwachung während der Kundgebung irrelevant. Soweit der Beklagte ausführe, dass es im Verlauf der Versammlung am E1. O.---markt zu massiven Beleidigungen eines Versammlungsteilnehmers der Klägerin gekommen sei, sei zu bemerken, dass es sich hierbei um einen Bewurf mit Tierkot gehandelt habe. Soweit der Beklagte darauf abstelle, dass ein Versammlungsteilnehmer ein T-Shirt mit dem Aufdruck „D. “ getragen habe, sei festzustellen, dass dies nicht strafbar sei. Die Seitens des Beklagten geschilderten Strafanzeigen wegen antisemitischer Äußerungen seien ihr nicht bekannt, jedenfalls sei es unverhältnismäßig, hierauf die gesamte Überwachung einer Versammlung zu stützen. Bei der anschließenden Standkundgebung auf dem Sonnenplatz sei es zu einem Angriff von Linksextremisten auf den Lautsprecherwagen der Klägerin gekommen. Zudem sei deren stellv. Landesvorsitzender durch einen Faustschlag körperlich attackiert worden. Die Abwehr dieses Angriffs durch handelsübliche Pulverfeuerlöscher sei im Rahmen der Notwehr und Nothilfe gerechtfertigt gesehen gewesen. Dieser Einschätzung solle sich zwischenzeitig im Übrigen auch die Staatsanwaltschaft E. angeschlossen haben.
10Die Versammlung am 8. Oktober 2018 auf dem T.-----platz sei ebenfalls gänzlich ohne Störungen verlaufen. Dies habe auch die Polizei einräumen müssen.
11Auch die unmittelbar vorhergehende Versammlung in E. -M. sei friedlich verlaufen. Soweit der Beklagte vortrage, dass ein anreisender Versammlungsteilnehmer der Klägerin bei der Versammlung ein Banner eines Gegendemonstranten „zur Seite gewischt“ habe, fehle es am Bezug zu Videoüberwachung der Folgeversammlung. Es handele sich hierbei nicht mal um eine Straftat. Der Vorfall habe sich zudem außerhalb des Versammlungsbereiches der Klägerin ereignet.
12Sofern der Beklagte die streitgegenständliche Versammlung betreffend behaupte, es sei eine Eisenstange in Richtung des eintreffenden Lautsprecherwagens geworfen worden, handele sich um eine Falschbehauptung. Es habe vielmehr allein anfangs Uneinigkeit zwischen der Klägerin und den Einsatzkräften über den angemeldeten und bestätigten Versammlungsort der Klägerin gegeben. Während der halbstündigen Verhandlung hierüber sei es zu keinen Straftaten beider politischen Lager, von den üblichen Beleidigungen der Linksextremisten abgesehen, gekommen.
13Soweit der Beklagte auf Vorfälle eingehe, die sich während der Versammlung ereigneten, sei zunächst anzumerken, dass die Versammlung bereits von Beginn an aufgezeichnet worden sei. Die Prügelei in Richtung des Journalisten habe sich erst zum Ende der Versammlung hin und zudem außerhalb des Versammlungsbereiches ereignet. Die Person, die einen verwirrten Eindruck gemacht habe und der Klägerin nicht zugehörig sei, sei mehrmals von Helfern der Versammlungsleitung aufgefordert worden, die Prügeleien zu unterlassen und die Versammlung zur verlassen. Auch die vom Beklagten erwähnten Beleidigungen und die gegen eine Teilnehmerin der klägerischen Versammlung gefertigte Strafanzeige hätten sich erst nach der Versammlung ereignet.
14Zu den von dem Beklagten angeführten Störungsaufrufen durch die linke Szene sei anzumerken, dass die Mobilisierung in einem Vorort naturbedingt deutlich schleppender laufe, als in innenstadtnahen Vierteln, die noch dazu linksalternativ geprägt seien. Darüber hinaus wären polizeiliche Maßnahmen bei erwarteten Störungen durch Linksextremisten gegen diese zu richten gewesen. Soweit der Beklagte einzelne Teilnehmer der Partei E. S. bzw. ihrer Versammlungen pauschal als „Störer“ bezeichne, sei sein Handeln widersprüchlich, da er teilweise von ihr durchgeführte Info-Mahnwachen nicht polizeilich begleitet und zudem diese „Störer“ im Mai 2019 als Ordner akzeptiert habe.
15Die Behauptung des Beklagten, während des Einsatzverlaufes sei wiederholt geprüft worden, ob die entsprechenden Voraussetzungen zur Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen vorliegen würden, sei eine Falschbehauptung. Durch den kontaktierten Polizeibeamten vor Ort sei explizit mitgeteilt worden, dass es im Vorfeld die Anordnung gegeben habe, die Versammlung in Gänze aufzuzeichnen. Von einer Berücksichtigung des Verlaufes sei dort keine Rede gewesen.
16Bei der Würdigung müsse zudem berücksichtigt werden, dass es sich um eine kleine Kundgebung mit lediglich 45 Teilnehmern in einem E1. Vorort gehandelt habe, bei der es keinerlei Begleitumstände gegeben habe, die auf eine Gefahrenlage hindeuten. Es wäre dem Beklagten zumutbar gewesen, die Überwachungskameras und Überwachungsfahrzeuge einsatzbereit zu positionieren, um im Falle von Straftaten binnen weniger Sekunden mit einer Aufnahme zu beginnen.
17Die Klägerin beantragt,
18festzustellen, dass der Beklagte durch das durchgängige Abfilmen der Kundgebung der Klägerin am 19. Oktober 2018 in E. -N. rechtswidrig gehandelt hat.
19Der Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Zur Begründung trägt er vor, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 12a Abs. 1 Satz 1 des Versammlungsgesetzes (VersG) vorgelegen hätten. Im Rahmen der Einsatzvorbereitung und während der Einsatzbesprechung am Einsatztag sei wiederkehrend die Frage des Vorliegens der versammlungsrechtlichen Eingriffsvoraussetzungen für die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen geprüft worden. Aufgrund zahlreicher Erkenntnisse habe vor Beginn der Versammlung die begründete Annahme bestanden, dass von den Teilnehmern der Versammlung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit ausgingen. Es sei zu befürchten gewesen, dass es im Verlauf der Versammlung zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Versammlungsteilnehmern, Gegendemonstranten, Polizeibeamten und womöglich auch Dritten, zu Sachbeschädigungen etwa an privaten oder dienstlichen Fahrzeugen der Polizei, wechselseitigen Beleidigungen und zu anderen versammlungstypischen Straftaten komme. Mit der Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen habe eine Eskalation bis hin zur Begehung von Straftaten aus der Versammlung bzw. von Versammlungsteilnehmern verhindert werden und die Beweislage für etwaige nachfolgende Strafverfahren verbessert werden sollen. Entsprechende Erfahrungswerte und Indizien, die diese Annahme stützten, hätten entgegen der Auffassung der Klägerin vorgelegen. Es sei während des Versammlungsgeschehens fortwährend überprüft worden, ob die Videoaufzeichnungen weiterhin zur Gefahrenabwehr erforderlich und angemessen seien.
22Die Annahme einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit habe zunächst auf Erfahrungen aus vorangegangenen Versammlungen der Klägerin aus den Monaten September und Oktober 2018, in deren Verlauf es zu Ausschreitungen gekommen sei, gegründet:
23So sei es am 21. September 2018 bei zwei Aufzügen der Klägerin zu dem Thema „Gegen Polizeischikanen und Polizeiwillkür. Das Grundgesetz gilt auch in V. , Meinungs- und Versammlungsfreiheit schützen“ in E. -E3. mit ca. 100 Teilnehmern und in E. -N. mit 72 Teilnehmern zu Ordnungswidrigkeiten und strafbarem Verhalten gekommen. Während des ersten Aufzuges sei an der Aufzugspitze ein Banner mit der Aufschrift „Gegen Polizeigewalt, E. ist unser Kiez“ gezeigt worden. Während der Aufzug an der B.-------straße vorbeigezogen sei, seien aus einer Wohnung zwei Leuchtfackeln durch zwei Personen gezündet worden. Eine Ordnungswidrigkeitenanzeige sei gefertigt worden. Während des zweiten Aufzuges seien in zwei Fällen Pyrotechnik durch unbekannte Täter gezündet worden. Auch diesbezüglich seien Ordnungswidrigkeitenanzeigen gefertigt worden. Zudem hätten sich vier Personen im Bereich der Gleise am Bahnhof N. Süd aufgehalten und dabei Pyrotechnik gezündet. Die vier Personen hätten ermittelt werden können. Auch sei eine Strafanzeige wegen gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr gefertigt worden. Nach Erteilen von Platzverweisen seien sie vor Ort entlassen worden. Während des Aufzuges sei der Spruch „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ skandiert worden. Ein entsprechendes Ermittlungsverfahren sei im Nachgang eingeleitet worden. Im Rahmen der durchgeführten Ermittlung seien bislang 20 Tatverdächtige ermittelt worden, von denen 15 deutsche Staatsangehörige hätten identifiziert und der örtlichen rechten Szene zugeordnet werden können. Das Skandieren der antisemitischen Parolen in den Straßen der betroffenen Stadtteile im Zusammenhang mit dem Abbrennen von Pyrotechnik und Fackeln habe ein herausragendes mediales Medieninteresse gefunden und sei überregional in Politik und Gesellschaft diskutiert worden.
24In die getroffene Gefahrenprognose seien auch die zwei Standkundgebungen der Klägerin am E1. O.---markt am 3. Oktober 2018 zu dem Thema „Sicherheit in der Nordstadt schaffen, stoppt die Ghettoisierung; Ein sporadisch besetztes Ordnungsamt am O.---markt reicht nicht!“ mit ca. 60 Teilnehmern sowie im Anschluss am T.-----platz vom 3. Oktober 2018 zu dem Thema „Sicherheit in E. schaffen; Polizeiliche Willkür beenden, Polizeikapazitäten sinnvoll nutzen, Kriminalität zurückdrängen“ eingeflossen. Bereits während der Anreise sei durch Personen des linken und antifaschistischen Spektrums versucht worden, die Teilnehmer der klägerischen Versammlung u.a. durch eine Sitzblockade aus ca. 30 bis 50 Teilnehmern zu stören. Zur Vermeidung einer Eskalation durch eine zwangsweise Auflösung der Sitzblockade und aus einsatztaktischen Gründen sowie aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sei die Umleitung der anreisenden Versammlungsteilnehmer als milderes Mittel ausgewählt worden. Das Verhalten der Versammlungsteilnehmer sei während der gesamten Anreise höchst aggressiv und provozierend gewesen und habe sich aufgrund verbaler Äußerungen permanent am Rande der Strafbarkeit bewegt. Die Gegendemonstranten seien durch Äußerungen wie „Du kommst auch noch in der Kammer“, „Wenn wir gleich marschieren, kannst du ja deine große Fresse beweisen“ und „Seid ihr Juden, seid ihr Juden, warum setzt ihr euch dann für die Juden hier ein?“ provoziert worden. Es seien Strafanzeigen gefertigt worden. Mit Eintreffen der umgeleiteten Versammlungsteilnehmer am O.---markt habe eine hohe zweistellige Zahl von Personen des linken/antifaschistischen Spektrums unter Drohgebärden und lautem Skandieren versucht, den Zugang der Versammlungsteilnehmer zum engeren Versammlungsort zu verhindern. Eine körperliche Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern habe unmittelbar bevorgestanden, sodass sich der Polizeiführer dazu entschlossen habe, die Störer durch Polizeireiter abdrängen zu lassen und weitere, möglicherweise durchdringende Störer durch Wegdrücken/-stoßen an Straftaten zu hindern. Auch im weiteren Verlauf sei es zwischen den Versammlungsteilnehmern und den ca. 250 Personen des augenscheinlich antifaschistischen Spektrums zu Provokationen gekommen. Den Einsatzkräften sei es nur mit Mühe gelungen, beide Parteien voneinander zu trennen. Im Verlauf der Versammlung sei es zu massiven Beleidigungen eines Versammlungsteilnehmers der Klägerin gekommen. Ein Strafverfahren sei eingeleitet und der erkannte Störer der Gefahrensammelstelle zugeführt worden. Ein Versammlungsteilnehmer der Klägerin sei in einer Bekleidung aufgetreten, die diesen als Sympathisanten und Unterstützer der Gruppierung „D. “ erkennen ließ. Das Zeigen von Zeichen und Symbolen dieser Gruppierung stelle unter Verwendung verschiedener Einzelkomponenten ebenfalls eine Straftat dar und wirke auf vermeintlichen Gegenprotest höchst provozierend. Auch insoweit sei eine Strafanzeige gefertigt und eine staatsanwaltschaftliche Prüfung veranlasst worden. Während der polizeilich begleiteten Verlagerung der Versammlung zum zweiten Versammlungsort am T.-----platz habe sich ein als Mitglied der E1. rechten Szene bekannter Versammlungsteilnehmer aus der Begleitung gelöst und sei auf eine nachfolgende Gruppe des linken Spektrums zugestürmt. Es sei zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen, die das Einschreiten von Polizeivollzugsbeamten erforderlich gemacht habe. Strafverfahren seien eingeleitet worden. Es sei zu vergleichbaren Szenen wie beim Weg zum Versammlungsort O.---markt gekommen. Am T.-----platz sei es erneut zu wechselseitigen Provokationen gekommen, die den Einsatz starker polizeilicher Kräfte zur Verhinderung weiterer Straftaten erforderlich machten. Nach Beendigung der Versammlung und während der beabsichtigten Abreise sei es aus dem Bereich der Gegendemonstranten zu einem Flaschenwurf auf den Lautsprecherwagen des Versammlungsleiters der Klägerin gekommen. Aus dem Fahrzeug heraus, in dem sich neben sieben Personen der rechtsextremistischen Szene und Mitgliedern der Klägerin auch der Versammlungsleiter befunden habe, entleerten sodann Personen aus mehreren Feuerlöschern Löschpulver auf Personen des Gegenprotests und Polizeivollzugsbeamte. Es seien gegen acht Versammlungsteilnehmer, darunter auch gegen den Versammlungsleiter, Strafverfahren eingeleitet worden.
25Berücksichtigung habe ferner der Verlauf der Standkundgebung der Klägerin am 8. Oktober 2018 am T.-----platz in E. zu dem Thema „Für Versammlungsfreiheit, gegen staatliche Sanktionen!“ mit 38 Teilnehmern gefunden. Es seien Polizeikräfte im unteren dreistelligen Bereich vorgehalten worden. Trotz der kurzfristigen Veröffentlichung mit ca. 4 Stunden Vorlauf sei das politisch linke Spektrum in der Lage gewesen, ca. 150 Versammlungsteilnehmer in Form einer Spontanversammlung zu mobilisieren. Es habe abermals eine aggressive Grundstimmung geherrscht. Die Versammlungsteilnehmer der Klägerin seien hierbei vordergründig ruhig aufgetreten, gleichwohl sei es zu einzelnen Provokationen aus der Gruppe heraus gekommen. Nur durch starke polizeiliche Kräfte habe eine Trennung der Versammlungen aufrechterhalten werden können.
26Auch der Verlauf der der hier streitgegenständlichen unmittelbar vorgelagerten Versammlung am 19. Oktober 2018 in M. habe seine Annahme einer erheblichen Gefahr gestützt. Entgegen der Behauptung der Klägerin sie diese ebenfalls nicht störungsfrei verlaufen. Durch Aufklärungskräfte der Polizei seien im Einsatzraum Personen der Antifa festgestellt worden. Mindestens 17 Personen hätten sich auf der Anreise aus der Nordstadt Richtung E1. Westen bewegt. Somit sei wiederum mit einem Aufeinandertreffen von linkem und rechtem Lager und entsprechenden Provokationen bis hin zur Begehung von Straftaten zu rechnen gewesen. Versammlungsteilnehmer der Klägerin hätten teilweise auf dem Weg zum Versammlungsort Alkohol zu sich genommen, was zu einer weiteren Enthemmung geführt habe, obwohl dies durch Auflagenbescheid während der Versammlung untersagt worden gewesen sei. Ein namentlich benannter Versammlungsteilnehmer habe offen Tätowierungen, welche gemäß § 86a StGB strafbar seien, gezeigt. Ein Strafverfahren sei eingeleitet worden. Während des Versammlungsverlaufs hätten sich Teilnehmer der Versammlung der Klägerin und Versammlungsteilnehmer des Gegenprotests fortwährend über soziale Medien wie Twitter provoziert, wie die eingereichten Ausdrucke der Tweets von „Die S1. E. “, „Q. “ und „I. “ belegten. Ein anreisender Versammlungsteilnehmer der Klägerin habe entgegen polizeilicher Führung der Teilnehmer durch den Ausgang „X. Straße“ des S-Bahnhofes M. den hinter der Gegenversammlung gelegenen Ausgang genutzt. Er sei mitten durch die Gegenversammlung gelaufen und habe hierbei ein Banner eines Versammlungsteilnehmers des Gegenprotests beiseite gewischt. Die Situation sei durch eingreifende Kräfte verbal beruhigt worden bevor es zu einer Eskalation habe kommen können. Bei dem Versammlungsteilnehmer der Klägerin sei eine Gefährderansprache durchgeführt worden mit dem Ziel, diesen dazu zu veranlassen, sich friedlich zu verhalten, um nicht durch die Polizei ausgeschlossen zu werden.
27Zu der Annahme einer erheblichen Gefahr habe im Übrigen auch die Situation am Versammlungsort in E. -N. unmittelbar vor Beginn der Versammlung geführt. Versammlungsteilnehmer beider Lager hätten mit Versammlungsende in M. über die Abreise getwittert, sodass sich bereits in E. -N. aufhaltende, weitere Versammlungsteilnehmer auf das baldige Eintreffen hätten einstellen können. Darüber hinaus sei bekannt gewesen, dass sich Personen der Antifa in E. -N. eingefunden hatten. In diesem Zusammenhang sei es auch zu Tweets unter dem Hashtag #Nazisboxen gekommen, wie der beigefügte Tweet von „Q T E belege. Mit Eintreffen des Versammlungsleiters der Klägerin an der Versammlungsörtlichkeit sei aus einer Kleingruppe des Gegenprotests heraus eine Eisenstange in Richtung des Versammlungsleiters bzw. des mitgeführten Lautsprecherwagens geworfen worden. Er verweise auf die IGVP-Meldung vom 22. Oktober 2018 betreffend das Geschehen am 19. Oktober 2018 um 19:56 Uhr. Die Fahrzeuginsassen, u.a. der Versammlungsleiter und sein Stellvertreter, seien daraufhin aggressiv auf die Fahrbahn gesprungen und hätten in Richtung des Gegenprotests gepöbelt. Durch einschreitende Kräfte habe die Situation beruhigt werden können. Gleichwohl sei es bei einer aggressiven Grundstimmung beider Lager geblieben. Es sei zudem zu vermuten gewesen, dass der Wurf in Richtung des Lautsprecherfahrzeuges als Angriff gewertet würde, der nach den vielfachen polizeilichen Erfahrungen der Vergangenheit eine provokative, ggf. auch gewalttätige Gegenreaktion sehr wahrscheinlich mache.
28Während der Versammlung selbst sei es dann zu weiteren Zwischenfällen gekommen, welche die Annahme einer erheblichen Gefahr ab dem Moment ihres Eintretens erst Recht gerechtfertigt hätten. Ein namentlich benannter Versammlungsteilnehmer der Klägerin habe sich aus der laufenden Versammlung heraus bewegt und sei gezielt, in deutlich wahrnehmbarer aggressiver Körperhaltung auf einen vor Ort anwesenden Journalisten zugegangen. Bei Einsatzkräften und Journalisten habe dieses Verhalten den Eindruck erweckt, der Versammlungsteilnehmer wolle unmittelbar körperlich gegen den Journalisten agieren. Einsatzkräfte seien deshalb zügig schlichtend eingeschritten. Eine Strafanzeige sei gefertigt worden. Der Angriff habe zu zahlreichen Reaktionen – insbesondere auch des betroffenen Journalisten – auf Twitter geführt. Weitere polizeibekannte Teilnehmer der Versammlung hätten sich aus der Versammlung gelöst. Diese Personen hätten sich nach Aufklärungsergebnissen außerhalb der Versammlung zusammengefunden, um gezielt den Gegenprotest zu provozieren und zu beleidigen, in dem u.a. „Ihr linken Schweine“, „Ich schlage deine Frau“, „Ich ficke deine Frau“ geäußert worden sei. Gegen einen Versammlungsteilnehmer der Klägerin sei deshalb eine Strafanzeige z.N. eines Versammlungsteilnehmers „bürgerlich/links“ gefertigt worden. Im Einsatzverlauf sei festzustellen gewesen, dass die Aggressivität beider Lage zunahm und dann auf einem hohen, problematischen Niveau verblieb. Es habe jederzeit mit der Verwirklichung von erheblichen Straftaten aus der Versammlung der Klägerin gerechnet werden müssen. Dieses habe sich auch darin gezeigt, dass sich Versammlungsteilnehmer aus dem Verband lösten und unmittelbar die zumindest einkalkulierte körperliche Auseinandersetzung mit einem Journalisten suchten, aber auch sich von der Versammlungsörtlichkeit entfernten, um im Umfeld Konfrontationen mit Versammlungsteilnehmern des Gegenprotests zu suchen. Aus diesem Grund seien die Kräfte des Raumschutzes entsprechend stark dimensioniert gewesen.
29Die genannten Versammlungen zeigten mehrere Parallelen auf, die für den 19. Oktober 2018 ebenso zu erwarten gewesen seien. Alle Versammlungen hätten in einem engen zeitlichen Zusammenhang gestanden. Bei äußerlicher Betrachtung hätten die Versammlungen zwar unterschiedliche Themen zum Gegenstand gehabt. Allerdings sei es so, dass sich der Kreis der Teilnehmer, der sich sehr deutlich und individuell der örtlichen Neonazi-Szene zuordnen ließ, regelmäßig sehr homogen gestalte. Da die Sicherheits- und Ordnungsverstöße keinen Bezug zu dem Versammlungsthema aufwiesen, sei den unterschiedlichen Themen in der Prognose kein besonderes Gewicht beizumessen. Die Vergangenheit habe nämlich gezeigt, dass jedes von der Klägerin propagierte Versammlungsmotto dem homogenen Teilnehmerkreis Anlass für die Schaffung teils erheblicher Gefahrenlagen biete. Alle Versammlungen hätten sich durch eine emotional aufgeheizte Stimmung, eine bewusst gesuchte und beabsichtigte wechselseitige Provokation des Gegenprotests oder der Polizei bis hin zur Begehung von Straftaten ausgezeichnet. Diese Umstände seien auch für die Versammlung am 19. Oktober 2018 zu erwarten gewesen. In allen Versammlungen seien dieselben Personen als Versammlungsleiter und sein Vertreter aufgetreten. Die Versammlungsteilnehmer setzten sich in allen Versammlungen vornehmlich aus der örtlichen rechten Szene zusammen. Störungen, Provokationen und Straftaten seien in allen Versammlungen von unterschiedlichen Versammlungsteilnehmern/Vertretern der rechten Szene vor, während und nach den Versammlungen ausgegangen. Für den 19. Oktober 2018 sei von einer weitgehenden Personengleichheit und damit von einem vergleichbaren Störerpotential auszugehen gewesen.
30Für die Einschätzung der Gefahrenlage seien auch Erkenntnisse, die im Vorfeld der Versammlung in den sozialen Netzwerken gesammelt werden konnten, maßgeblich gewesen. So sei am 2. und 3. Oktober 2018 für den 3. Oktober 2018 beim Kurznachrichtendienst „Twitter“ massiv zum Gegenprotest aufgerufen worden u.a. von „N. T. B. E. “, „B1. B. 000“, „Q1. “ und „B2. “. Auf die beigefügten Tweets werde verwiesen. Die Klägerin habe den Hashtag „O. “ ebenfalls genutzt, um ihre Versammlung vom 3. Oktober 2018 dem politisch linken Spektrum bekannt zu machen, wie der beigefügte Tweet belege. Am 8. Oktober 2018 habe sie wiederum einen Tweet unter dem genannten Hashtag zu der am gleichen Tag stattfindenden Versammlung veröffentlicht. Die gegenseitige Provokation vor Ort sei daher seitens der Klägerin gezielt einkalkuliert und beabsichtigt gewesen. Für die Versammlungen am 19. Oktober 2018 seien ebenfalls Aufrufe zum Gegenprotest bei Twitter erfolgt. Auch die Klägerin habe gezielt ihre Versammlung bei Twitter angekündigt. Aufgrund der breiten Veröffentlichung und dem gleichen Aufrufverhalten sei es höchstwahrscheinlich gewesen, dass Gegenprotest in ähnlicher Größenordnung und mit ähnlichem Störerpotential erscheinen werde. Auch die Kriminalinspektion Staatsschutz sei nach den vorliegenden Erkenntnissen davon ausgegangen, dass bei einer „Rechten Versammlung“ der angekündigten Größenordnung sehr wahrscheinlich mit aggressiv ausgerichtetem Gegenprotest zu rechnen sei. Dies insbesondere dann, wenn – wie hier – der „linken Szene“ Ort und Zeit der Veranstaltung im Vorfeld bekannt werden. Im Falle von gewalttätigem Gegenprotest seien Straftaten (insbesondere gemäß §§ 223ff. StGB) einzukalkulieren, die sich auch gegen die Polizei richten können.
31Mit der klägerischen Versammlung sei auch eine nach § 12a Abs. 1 Satz 1, 19a VersG taugliche Störerin gewählt worden. Zwar dürfe sich die Maßnahme nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nur gegen „Teilnehmer bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen“ richten, d.h. gegen einzelne störende Versammlungsteilnehmer. Dies schließe ein Vorgehen gegen die gesamte Versammlung indes nicht aus. Dies gelte jedenfalls dann, wenn alle Versammlungsteilnehmer jeweils für sich genommen die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllen und deshalb als Adressaten der Maßnahme in Betracht kommen. Dies sei vorliegend der Fall gewesen. Die Verantwortlichkeit der einzelnen Versammlungsteilnehmer ergebe sich zunächst aus ihrer Zugehörigkeit zur klägerischen Versammlung. Aus den dargelegten Erkenntnissen ergebe sich, dass es im Zusammenhang mit Versammlungen der Klägerin regelmäßig zu wechselseitigen Beleidigungen, körperlichen Auseinandersetzungen, Sachbeschädigungen und anderen versammlungstypischen Straftaten aus der Versammlung gegen Gegendemonstranten, Polizeivollzugsbeamte und Passanten sowie in die Versammlung gegen Versammlungsteilnehmer infolge erheblicher Provokationen komme.
32Ungeachtet dessen sei eine uneingeschränkte Aufzeichnung auch deshalb gerechtfertigt gewesen, weil gegenüber einem erheblichen Teil der Versammlungsteilnehmer die Gefahrenprognose auch darauf habe gestützt werden können, dass sie bereits in der Vergangenheit strafrechtlich in Erscheinung getreten seien. Hinsichtlich der Versammlungsteilnehmer im Übrigen greife die Vorschrift des § 12a Abs. 1 Satz 2 VersG, wonach die Maßnahme auch dann durchgeführt werden darf, wenn durch sie Dritte unvermeidbar betroffen sind.
33Bei der Betätigung seines Störerauswahlermessens habe er insbesondere nicht verkannt, dass mit demjenigen, der unmittelbar vor Versammlungsbeginn die Eisenstange geworfen habe, auch ein Störer vorhanden gewesen sei, gegen den ein Einschreiten (etwa nach § 18 Abs. 3 VersG) möglich gewesen sei und der nicht der klägerischen Versammlung angehört habe. Insoweit sei zu beachten, dass durch ein Einschreiten gegen diesen Dritten die Gefahr nicht vollständig beseitigt worden wäre. Hierdurch wäre es nur zu einer Beseitigung der Gefahr für die Versammlung der Klägerin sowie des Versammlungsleiters der Klägerin durch den Eisenstangenwerfer gekommen. Im Übrigen hätte die aufgezeigte Gefahr fortbestanden. Hinzu komme, dass ein aktives Einschreiten gegen den Eisenstangewerfer ein weitaus höheres Eskalationspotential aufgewiesen hätte als die bloße Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen.
34Die Entscheidung sei auch ermessensfehlerfrei ergangen. Die Maßnahme habe dem legitimen Zweck gedient, eine Eskalation der ohnehin bereits angespannten Situation zu verhindern und Beweise für eine etwaige zukünftige Strafverfolgung zu sichern. Zur Erreichung dieses Zwecks sei die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen auch geeignet. Der Umstand, dass entsprechendes Fehlverhalten sogleich aufgezeichnet werde, entfalte eine abschreckende Wirkung, die eine Eskalation verhindere. Etwaige Restzweifel gingen nicht zu seinen Lasten. Ihm komme insoweit eine Ein-schätzungsprärogative zu.
35Die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen sei auch erforderlich. Das Aufstellen der Kamera im Stand-by-Modus von der Versammlung abgewandt sei nicht in gleicher Weise zur Verhütung der in Rede stehenden Eskalation und zur Beweissicherung geeignet, da der erste Zwischenfall dann nicht aufgenommen werden könne. Darüber hinaus werde eine abschreckende Wirkung allein durch das Aufstellen der Kamera nicht von Beginn an entfaltet. Dies sei hier jedoch angesichts der vorangegangenen Provokationen und Straftaten erforderlich gewesen. Die Versammlungsteilnehmer hätten also bei einem bloßen Aufstellen der Kamera quasi „einen Zwischenfall frei“.
36Die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen sei schließlich angemessen. Die Maßnahme habe dem Schutz insbesondere von Leib, Leben, Eigentum und Ehre aller anwesenden Personen sowie der Unversehrtheit der objektiven Rechtsordnung gedient. Die Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit seitens der Klägerin wiege diesen Rechtsgütern gegenüber nicht schwer. Das Gefühl, überwacht zu werden (sog. „chilling effect“) führe nicht im selben Umfang zu einer Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten wie solche Maßnahmen, die einen hoheitlichen Befehl enthalten, der zur Not mit Zwang durchgesetzt werden kann. Insoweit sei zu bedenken, dass die Maßnahme – anders als eine Auflage oder gar ein Verbot – die Versammlungsfreiheit objektiv überhaupt nicht einschränke. Wolle man insoweit auf die psychischen Wirkungen staatlicher Kenntnisnahme von der Teilnahme an einer Versammlung abstellen, würde sich dem Grunde nach die Frage stellen, ob überhaupt polizeiliche Präsenz im Rahmen einer Versammlung tolerabel sein könne, solange diese nicht zur konkreten Gefahrenabwehr erforderlich werde. Insoweit sei allerdings anerkannt, dass die bloße polizeiliche (und damit staatliche) Präsenz bei einer Versammlung von besonderen Ausnahmen abgesehen, keinen Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit darstelle.
37Schließlich verweise er auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 28. April 2016 – W 5 K 15.396 –. Der hier zu beurteilenden Gefahrenprognose hätten ähnliche Umstände wie am 19. Oktober 2018 zugrunde gelegen.
38Das Gericht hat den Beklagten mit Verfügung vom 13. Oktober 2020 der Vollständigkeit halber gebeten, die Einsatzberichte / -dokumentationen zur streit-gegenständlichen Versammlung einzureichen. Mit Erlass vom 12. November 2020 hat das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen diese als geheimhaltungsbedürftig eingestuft und eine Aktenvorlage verweigert.
39In der mündlichen Verhandlung sind Polizeidirektor M2. und Regierungsdirektor K. informatorisch befragt worden. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll vom 24. November 2020 verwiesen.
40Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten einschließlich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakte Heft 1).
41Entscheidungsgründe:
42Die Klage hat Erfolg.
43Die Klage ist zulässig. Sie ist als Feststellungsklage gemäß § 43 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – statthaft. Die Bild- und Tonaufnahmen und -aufzeichnungen der Teilnehmer der klägerischen Versammlung durch Einsatzkräfte der Polizei stellen Realakte dar. Da sich diese bereits vor der Klageerhebung erledigt haben, kann das diesbezügliche staatliche Handeln zum Gegenstand einer Feststellungsklage gemacht werden. Das feststellungsfähige und konkrete Rechtsverhältnis i. S. d. § 43 Abs. 1 VwGO ergibt sich aus der durchgeführten polizeilichen Beobachtung der Teilnehmer der klägerischen Versammlung.
44Das erforderliche Feststellungsinteresse der Klägerin ist bereits aufgrund der Möglichkeit einer kurzfristig erledigten, aber schwerwiegenden Beeinträchtigung der in Art. 8 des Grundgesetzes – GG – garantierten Versammlungsfreiheit gegeben. Die Videobeobachtung einer Versammlung durch die Polizei ist als unmittelbarer Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 GG zu qualifizieren. Das Bewusstsein, dass die Teilnahme an einer Versammlung in dieser Weise festgehalten wird, kann Einschüchterungswirkungen haben, die zugleich auf die Grundlagen der demokratischen Auseinandersetzung zurückwirken. Wer damit rechnet, dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und dass ihm dadurch persönliche Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf die Ausübung seines Grundrechts verzichten.
45Vgl. hierzu BVerfG, Beschlüsse vom 3. März 2004 – 1 BvR 461/03 – und 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 –; BVerwG, Beschluss vom 11. Dezember 2003 – 1 WB 14/03 –; vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 19. Februar 2017 – 14 K 7046/16 –; nachfolgend OVG NRW, Beschluss vom 11. März 2020 – 15 A 1139/19 –; sämtlich juris.
46Das berechtigte Interesse der Klägerin ist darüber hinaus durch die Möglichkeit des Eingriffs in das Recht der Teilnehmer der Versammlung auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG begründet.
47Ungeachtet dessen ist eine Wiederholungsgefahr bezogen auf die Klägerin anzunehmen, da diese vorgetragen hat, auch in Zukunft Versammlungen in E. veranstalten zu wollen. Dem Vortrag des Beklagten lässt sich entnehmen, dass dieser in einem solchen Fall gegebenenfalls erneut mit vergleichbarer Begründung Aufnahmen von der Polizei anfertigen bzw. eine Videobeobachtung durchführen lassen wird.
48Die Klage ist auch begründet.
49Die Klägerin hat einen Anspruch auf die begehrte Feststellung, dass der Beklagte durch das durchgängige Abfilmen der Kundgebung der Klägerin am 19. Oktober 2018 in E. -N. rechtswidrig gehandelt hat.
50Aufgrund der Angaben des Polizeidirektors M1. und den Angaben auf dem vom Beklagten übersandten Datenträger steht fest und ist im Übrigen unstreitig, dass die klägerische Versammlung von 20 Uhr an – und damit bereits vor ihrem offiziellen Beginn – bis 21 Uhr videografiert und von 21 bis 22 Uhr jedenfalls videobeobachtet wurde. Ob der Beklagte über 21 Uhr hinaus, d.h. bis zum Ende der Versammlung um 22 Uhr Bild- und Tonaufnahmen (in Gänze oder anlassbezogen) gespeichert hat, konnte die Kammer nicht aufklären. Polizeidirektor M1. gab auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung an, vor Beginn der Versammlung angeordnet zu haben, dass dem Versammlungsleiter „Rechts“ mitgeteilt werde, dass die Versammlung videografiert werde. Die Diskrepanz zu den Angaben auf dem Datenträger, aus denen sich eine Aufzeichnungsdauer von lediglich einer Stunde ergibt, könne er nicht aufklären. Einer weiteren Aufklärung durch die Kammer zur Dauer der Aufzeichnung bedurfte es nicht, da auch die polizeiliche Videobeobachtung einen Eingriff in die durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützte innere Versammlungsfreiheit der Teilnehmer darstellt und einer gesetzlichen Grundlage bedarf.
51Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 19. Februar 2017 – 14 K 7046/16 –, juris m.w.N.; nachfolgend OVG NRW, Beschluss vom 11. März 2020 – 15 A 1139/19 –, juris.
52Die Kammer legt zudem zugrunde, dass dabei die gesamte Versammlung, d.h. sämtliche Teilnehmer, Gegenstand der Videobeobachtung/-aufzeichnung waren und dass im Bedarfsfall einzelne Personen herangezoomt wurden. Polizeidirektor M1. gab in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Gerichts, ob Einzelpersonen oder die gesamte Versammlung abgefilmt wurden an, dass es zunächst darum gehe, herauszufinden, wer die Hauptaggressoren seien und welche Personen potentiell als Störer in Betracht kommen. Es sei unvermeidbar, dass Umsehende dabei mit gefilmt werden. Technisch sei es so, dass es unvermeidbar sei, zunächst die gesamte Demonstration aufzunehmen und dann einzelne Personen heranzuzoomen.
53Als Rechtsgrundlage für die Anfertigung von Bild- und Tonaufzeichnungen bzw. die Durchführung einer Videobeobachtung – als sog. Minusmaßnahme – kommen allein die §§ 12a Abs. 1 Satz 1, 19a VersG in Betracht.
54Danach darf die Polizei bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen Bild- und Tonaufnahmen von Teilnehmern bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen nur anfertigen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Die Maßnahmen dürfen auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden, § 12a Abs. 1 Satz 2 VersG.
55Vorliegend waren bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 12a, 19a VersG nicht gegeben.
56Der Begriff der öffentlichen Sicherheit, der vorliegend vom Beklagten zum Maßstab seiner Gefahrenprognose gemacht wurde, umfasst die Unversehrtheit der objektiven Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie der staatlichen Einrichtungen, wobei in der Regel eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen wird, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht.
57Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 –, juris; Baczak in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht des Bundes und der Länder, Kommentar, 2. Auflage, § 15 Rn. 96ff.
58Eine erhebliche Gefahr im Sinne des § 12a VersG bedeutet eine Gefahr für gewichtige Rechtsgüter wie Leib und Leben, Freiheit, wesentliche Vermögenswerte oder den Bestand des Staates.
59Vgl. Arzt in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, a.a.O., § 19a Rn. 28; Ott/Wächtler/Heinhold, Gesetz über Versammlungen und Aufzüge, 7. Auflage 2010, § 12a Rn. 8.
60Erforderlich ist eine rechtsfehlerfreie und auf Tatsachen beruhende Prognose, dass ein bestimmtes Verhalten eines Teilnehmers / mehrerer Teilnehmer voraussichtlich die Gefahrengrenze überschritten wird. Aufgrund einer solchen Prognoseentscheidung kann im Einzelfall ein Kameraeinsatz zulässig sein, bevor sich die Gefahr tatsächlich, etwa durch Tätlichkeiten aus der Versammlung heraus, verwirklicht hat. Bloße Verdachtsmomente und Vermutungen genügen allerdings nicht. Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit jene bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen.
61Vgl. BVerfG, einstweilige Anordnung vom 4. September 2009 – 1 BvR 2147/09 –; OVG NRW, Beschluss vom 21. Oktober 2015 – 15 B 1201/15 –; sämtlich juris m.w.N.
62Diesen Anforderungen wird die von dem Beklagten zur Grundlage seiner Entscheidung gemachte Gefahrenprognose nicht gerecht. Zum Zeitpunkt des Versammlungsbeginns bzw. ihrer Sammlungsphase in E. -N. waren (aus der maßgeblichen ex ante Sicht) keine tatsächlichen Anhaltspunkte erkennbar, dass von den Versammlungsteilnehmern der hier konkret in Rede stehenden Versammlung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgingen, welche ein durchgängiges Abfilmen sämtlicher Versammlungsteilnehmer – sei es mit oder ohne Speicherung der Aufnahmen – gerechtfertigt hätte.
63Die Kammer legt ihrer Würdigung insoweit die von dem Beklagten im Rahmen der Klageerwiderung angeführten Umstände sowie die Angaben des in der mündlichen Verhandlung informatorisch befragten Polizeidirektors M1. zugrunde. Auf Angaben des ebenfalls auf Vorschlag des Beklagten an dem Termin zur mündlichen Verhandlung teilnehmenden Regierungsdirektors K. konnte die Kammer nicht zurückgreifen. Dieser gab auf Nachfrage des Gerichts an, dass er zur Sachverhaltsaufklärung leider sehr wenig beitragen könne. Soweit mit Erlass des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen die Übersendung der der Vollständigkeit halber angeforderten Einsatzberichte/‑dokumentationen zur der streitgegenständlichen Versammlung verweigert wurde, hat die Kammer dies hinzunehmen, vermag die Gründe für die Annahme der Geheimhaltungsbedürftigkeit aber nicht nachzuvollziehen. Denn es wurden, wie in vergleichbaren Verfahren regelmäßig, lediglich Einsatzberichte angefordert, die unter Zugrundelegung dokumentierter Tatsachen eine gerichtliche Überprüfung des polizeilichen Handels ermöglichen sollen. Die Preisgabe etwaiger strategischer Überlegungen und polizeilicher Konzepte wurde nicht abverlangt. Insoweit hat sich die Kammer im Rahmen ihrer Amtsermittlung auf die zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen unter Berücksichtigung der jeweiligen Darlegungslast,
64vgl. zur Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen die wegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit polizeiliche Maßnahmen im Zusammenhang mit Versammlungen rechtfertigen BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 4. September 2009 – 1 BvR 2147/09 –, juris,
65zu beschränken und sich eine Überzeugung zu verschaffen. Letztlich ist die Kammer auf diese Einsatzberichte für die Prüfung, ob die Seitens des Beklagten herangezogenen Umstände die getroffene Gefahrenprognose tragen, nicht angewiesen. Denn der Beklagte hat die Entscheidung, die Versammlung der Klägerin zu videografieren, unstreitig bereits vor dem Versammlungsbeginn getroffen, so dass es für die insoweit zu beurteilende Gefahrenprognose aus ex ante Sicht auf den Verlauf der Versammlung schon nicht ankommt.
66Ausgehend davon war nach den Erkenntnissen aus vorangegangenen Versammlungen der Klägerin zwar ein Aufeinandertreffen mit Angehörigen des linken Spektrums, in dessen Zuge es zu Provokationen und Beleidigungen würde kommen können, aufgrund tatsachengestützter Anhaltspunkte hinreichend wahrscheinlich. Insoweit verkennt die Kammer nicht, dass über mehrere Versammlungstage der Einsatz starker polizeilicher Kräfte erforderlich war. Hinreichend tatsachengestützte Anhaltspunkte, dass es bei der streitgegenständlichen Versammlung der Klägerin darüber hinaus zu gewalttätigen Auseinandersetzungen aus der Versammlung der Klägerin heraus kommen würde, welche die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 12a, 19a VersG erfüllen würden, bestanden jedoch auch bei Würdigung des maßgeblichen Kenntnisstandes zum ex-ante-Zeitpunkt nicht.
67Die von dem Beklagten in den Blick genommenen vorhergehenden Versammlungen der Klägerin vom 21. September 2018 sowie vom 3., 8. und 19. Oktober 2018 standen zwar in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Versammlung und waren auch mit dieser vergleichbar. Die Annahme des Beklagten, dass für die streitgegenständliche Versammlung von einem identischen Teilnehmerkreis auszugehen ist, begegnet keinen Bedenken und ist von der Klägerin im Übrigen auch nicht in Abrede gestellt worden. Auch sprechen entgegen der Auffassung der Klägerin die unterschiedlichen Versammlungsthemen nicht gegen eine Vergleichbarkeit der Versammlungen. Denn es ist nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht ersichtlich, dass das Versammlungsthema für den Verlauf der vorangegangenen Versammlungen der Klägerin oder das Ausmaß des Gegenprotests von Bedeutung war. Soweit sich die Versammlungen der Klägerin dadurch unterscheiden, dass sie in verschiedenen E1. Stadtteilen mit unterschiedlichem politischem Gepräge stattgefunden haben, vermag die Kammer Auswirkungen nur hinsichtlich der Mobilisierung des linken Gegenprotests zu erkennen, sodass sich in Bezug auf die die Klägerin betreffenden Rückschlüsse keine Unterschiede ergeben. Soweit die Klägerin auf die unterschiedlichen Versammlungsformen abzielt, ist ihr darin zustimmen, dass einem Aufzug grundsätzlich ein höheres Gefahrenpotential innewohnt als einer Standkundgebung. Dass sich dieses bei den allein in Form eines Aufzuges erfolgten Versammlungen der Klägerin am 21. September 2018 realisiert hat, ist jedoch nicht ersichtlich und vom Beklagten auch nicht fehlerhaft zur Grundlage seiner Prognose gemacht worden.
68Die aus den vorherigen Versammlungen der Klägerin gewonnenen Erkenntnisse des Beklagten tragen die getroffene Gefahrenprognose jedoch nicht.
69Denn der Beklagte hat bereits nicht danach differenziert, von wem die Gefahr ausgeht. Die von ihm benannten Vorkommnisse betreffen teilweise nicht die Teilnehmer der klägerischen Versammlung, sondern den Gegenprotest und sind daher nicht geeignet, Maßnahmen gegenüber Teilnehmern der klägerischen Versammlung zu rechtfertigen. Dies gilt für den aus Sicht der Beteiligten erfüllten Straftatbestand der Beleidigung durch Bewurf eines Versammlungsteilnehmers der Klägerin mit Tierkot während der Versammlung am 3. Oktober 2018 am E1. O.---markt , den Wurf einer Flasche auf den Lautsprecherwagen der Klägerin auf der anschließenden Versammlung auf dem T.-----platz und den am 19. Oktober 2019 unmittelbar vor Beginn der streitgegenständlichen Versammlung erfolgten Wurf einer Eisenstange in Richtung des Versammlungsleiters der Klägerin. Dass es dem Gegenprotest bei der Versammlung am 8. Oktober 2018 trotz lediglich vierstündiger Vorlaufzeit gelungen ist, 150 Teilnehmer zu organisieren, ist ebenfalls kein gegenüber der Klägerin zu berücksichtigender Aspekt.
70Bei den die Versammlungsteilnehmer der klägerischen Versammlungen betreffenden Vorfällen verkennt der Beklagte zunächst schon, dass die bloße Gefahr der Begehung einer Ordnungswidrigkeit nicht die erforderliche erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründet.
71Vgl. VG Münster, Urteil vom 21. August 2009 – 1 K 1403/08 –, juris.
72Hiernach konnte weder die Zündung von zwei Leuchtfackeln aus einer Wohnung in der B.-------straße heraus während der Versammlung der Klägerin am 21. September 2018 in E. -E2. noch das Zünden von Pyrotechnik während des am gleichen Tag erfolgten Aufzuges durch E. -N. . zur Grundlage der Gefahrenprognose gemacht werden. Beim erstgenannten Vorfall tritt zudem hinzu, dass die hierin liegende Ordnungswidrigkeit nicht aus der Versammlung heraus begangen wurde, sodass diese gefilmt werden müsste.
73Die von Teilnehmern der klägerischen Versammlung aus Sicht des Beklagten während der Anreise zur Versammlung vom 3. Oktober 2018 verwirklichten Tatbestände der Beleidigung genügen zudem nicht dem Tatbestandserfordernis einer erheblichen Gefahr, welches, wie dargelegt, eine Betroffenheit hochwertiger Rechtsgüter verlangt, für welchen nicht jeder Bruch der Rechtsordnung genügt. Dass allein der Tatbestand der Beleidigung nicht dazu zählt, zeigt sich bereits aus der nach § 199 StGB möglichen Straflosigkeit von – in der von dem Beklagten geschilderten – versammlungstypischen Konstellation der wechselseitigen Beleidigungen.
74Soweit der Beklagte auf das Skandieren der Parole „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ durch 20 Teilnehmer der klägerischen Versammlung vom 21. September 2018 abstellt, ist – ungeachtet der Frage nach der Strafbarkeit dieser Parole – weder dargelegt noch ersichtlich, dass diese Parole in den drei nachfolgenden Versammlungen der Klägerin am 3. und 8. Oktober 2018 erneut gerufen wurde. Dabei kann dahinstehen, ob dies auf einen freiwilligen Entschluss der Klägerin oder auf eine entsprechende Auflage des Beklagten zurückzuführen war, da in beiden Fällen der Annahme einer sich hierdurch erneut realisierenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit der Boden entzogen ist. Ein hierin unter Einbeziehung der Umstände des Versammlungsgeschehens etwaig liegender Verstoß gegen die öffentliche Ordnung ist vom Beklagten nicht zum Inhalt seiner Gefahrenprognose gemacht worden und würde eine wie hier erfolgte permanente Videobeobachtung/-aufnahme nach den §§ 12a, 19a VersG mit Blick auf die Eingriffsintensität auch nicht rechtfertigen.
75Vgl. Arzt in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, a.a.O., § 19a Rn. 28 m.w.N.; krit. Groscurth in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, G Rn. 175.
76Das große mediale Interesse an dem Verlauf dieser Versammlung ist kein tauglicher Gesichtspunkt, der im Rahmen der zu treffenden Gefahrenprognose Berücksichtigung finden kann.
77Auch die von dem Beklagten zur Begründung seiner Entscheidung herangezogene Provokationswirkung der vorgenannten Verhaltensweisen der Versammlungsteilnehmer der klägerischen Versammlungen, trägt die Ex-Ante Prognose des Beklagten, es bestehe eine erhebliche Gefahr im Sinne der §§ 12a und 19a VersG, welche die Videobeobachtung oder Aufzeichnung aller Teilnehmer der Versammlung während deren gesamter Dauer rechtfertige, nicht.
78Auch hier differenziert der Beklagte nicht danach, von wem die auf zu erwartende Provokationen erfolgende Reaktion, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen soll, ausgeht. Eine solche Differenzierung wäre gerade im Zusammenhang mit einer durch Art. 8 GG geschützten Versammlung aber erforderlich. Es entspricht nämlich gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass die Meinungskundgabe im Rahmen einer Versammlung auch provozieren darf und sogar so weit gehen kann, dass sie von der Mehrheit der Bevölkerung als unerträglich angesehen wird. Dies bedeutet nicht, dass die Meinungskundgabe auf einer Versammlung grenzenlos wäre. Sie findet ihre Schranke nach Art 8 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 2 GG in den allgemeinen Gesetzen, hier insbesondere in den Tatbeständen des Strafgesetzbuchs. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit schützt die Durchführung von Versammlungen, ermöglicht jedoch nicht Rechtsgutverletzungen, die außerhalb von Versammlungen unterbunden werden dürfen. Der Beklagte hat daher in einer Einzelfallabwägung zu bewerten, ob die von der Versammlung ausgehende Provokation diese Grenzen überschreitet und dadurch selbst zu einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung werden kann.
79Vgl. z.B.: BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 – 1 BvR 699/06 –, BVerfGE 128, 226ff; Beschlüsse vom 27. Oktober 2016 – 1 BvR 458/10 –, BVerfGE 143, 161ff, vom 19. Dezember 2007 – 1 BvR 2793/04 – und vom 23. Juni 2004 – 1 BvQ 19/04 –, BVerfGE 111, 147ff, sämtlich auch juris.
80Darüber hinaus hat der Beklagte aber im Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zu entscheiden, gegen wen er seine Maßnahmen zu richten hat. Gegen die friedliche Versammlung selbst, also gegen Nichtstörer kann nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden.
81Vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, m.w.N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 24. September 2019 – 15 A 3186/17 – und vom 13. September 2019 – 15 B 1251/19 –; sämtlich juris.
82Erreichen die vom Beklagten aufgrund der vorhergehenden Versammlungen prognostizierten Provokationen selbst nicht das Maß einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, sondern führen erst die Reaktionen der Gegendemonstranten zu einer solchen, sind Maßnahmen und hierzu zählen nicht nur Verbote oder Auflagen, sondern aufgrund deren Eingriffsqualität auch die Videobeobachtung und das Videografieren, primär gegen diese zu richten.
83Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Mai 2010 – 1 BvR 2636/04 –; Einstweilige Anordnung vom 1. September 2000 – 1 BvQ 24/00 –, m.w.N., sämtlich juris
84Wie bereits ausgeführt erreichen die vom Beklagten herangezogenen und den Teilnehmern der Versammlungen der Klägerin zuzurechnenden Vorfälle die Schwelle der erheblichen Gefahr vorliegend nicht. Dies mag sich für die geschilderten Reaktionen der Gegendemonstranten anders darstellen, würde aber, wie ausgeführt, allein die Videobeobachtung der Gegendemonstration rechtfertigen, welche hier nicht Streitgegenstand ist.
85Soweit der Beklagte Verstöße einzelner Teilnehmer der vorhergehenden klägerischen Versammlungen gegen Strafgesetze zur Grundlage seiner Prognose gemacht hat, sind diese nach Auffassung der Kammer in der Gesamtschau nicht geeignet, die Seitens des Beklagten zu sämtlichen Teilnehmern der bevorstehenden Versammlung erfolgte Prognose zu begründen.
86Die Kammer verkennt nicht, dass gegen mehrere Teilnehmer klägerischer Versammlungen wegen Zündens von Pyrotechnik im Bereich der Gleise am Bahnhof N. während der Versammlung am 21. September 2018 in E. -N. und der Entleerung von Feuerlöschern aus dem Lautsprecherwagen heraus auf Personen des Gegenprotests und Polizeivollzugsbeamte bei der Versammlung am 3. Oktober 2018, möglicherweise erhebliche strafrechtliche Vorwürfe im Raum standen. Hierbei handelt es sich jedoch um die beiden einzigen tatsachengestützt vorgetragenen, möglicherweise im Sinne des §§ 12a, 19a VersG erheblichen Vorfälle aus den sechs vom Beklagten in den Blick genommenen Versammlungen. Soweit der Beklagte über diese Vorfälle hinaus auf das Zustürmen eines einzelnen Teilnehmers der klägerischen Versammlung 3. Oktober 2018 auf eine Gruppe des linken Spektrums und die nachfolgende körperliche Auseinandersetzung abgestellt hat, ist auch dies nicht geeignet, die gegenüber allen Versammlungsteilnehmern ergangene Prognose in der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung zurechtfertigen. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil es in der nachfolgenden Versammlung der Klägerin am 8. Oktober 2018 nach den übereinstimmenden Angaben der Beteiligten trotz massiven Gegenprotests zu keinem weiteren ggf. strafrechtlich relevanten Verhalten gekommen ist. Der Beklagte hat dies nicht als „entlastenden Umstand“ in seine Würdigung mit einbezogen, sondern die Versammlung aufgrund der „aggressiven Grundstimmung beider Lager“ - wie immer diese zu definieren ist - ebenfalls zur Grundlage seiner Prognose gemacht ohne auf tatsachengestützte Anhaltspunkte zurückgreifen zu können.
87Soweit der Beklagte seine Entscheidung auch auf die durch Aufklärungskräfte der Polizei erfolgte Feststellung, dass sich mindestens 17 der gewaltbereiten linken Szene zuzurechnende Personen auf der Anreise aus der Nordstadt Richtung E1. Westen bewegt haben, gestützt hat, fehlt es am Bezug zur klägerischen Versammlung und insoweit an einer Rechtfertigung mittels Videoaufnahmen in die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG einzugreifen. Die darin begründete Erwartung, dass es am Versammlungsort der Klägerin zu Konflikten zwischen beiden Lagern kommt, welche die die Grenze der Strafbarkeit überschreiten geht schließlich über eine bloße Vermutung nicht hinaus.
88Der geltend gemachte Alkoholgenuss von (potentiellen) Teilnehmern der klägerischen Versammlung auf dem Weg zum Versammlungsort in M. ist schließlich bereits mangelnder näherer Angaben zur Personenanzahl und der beobachteten „weiteren Enthemmung“ nicht geeignet, eine Prognose gegenüber sämtlichen Versammlungsteilnehmern zu tragen. Ungeachtet der Frage, ob hierin überhaupt ein Verstoß gegen das in Auflage 6 zur Versammlungsbestätigung vom 18. Dezember 2018 enthaltene Alkoholverbot „während der Versammlung“ liegt, vermag ein solcher keine erhebliche Gefahr im vorgenannten Sinne zu begründen. Bloße Auflagenverstöße allein können grundsätzlich, auch wenn sie nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 VersG als Ordnungswidrigkeiten gelten, keine erhebliche Gefahr im vorgenannten Sinne begründen – jedenfalls wenn die Auflage nicht gerade den Schutz von Rechtsgütern von besonderem Gewicht unmittelbar bezweckt. Dass durch den Alkoholgenuss ein Verhalten der Versammlungsteilnehmer drohte, welches eine Gefahr für Rechtgüter von besonderem Gewicht bedeutet hätte, hat der Beklagte nicht dargelegt.
89Das Ergebnis der Gefahrenprognose des Beklagten wird auch nicht durch die von ihm im Vorfeld der Versammlung in den sozialen Netzwerken gesammelten Erkenntnisse gestützt. Die von ihm in der Klageerwiderung vom 7. Februar 2019 abgebildeten Tweets sind nicht geeignet, die Annahme eines erhöhten Gewaltpotentials der Teilnehmer der klägerischen Versammlung zu begründen. Die Tweets beziehen sich teilweise auf die Versammlungen am 3. und 8. Oktober 2018 (vgl. Tweets von „N. T. B. E. “, „B1. B. 000“, „Q1. “ und „B2. “ und der Klägerin) und lassen, unabhängig von der Urheberschaft, einen Bezug zu der streitgegenständlichen Versammlung bereits nicht erkennen. Die in Bezug auf die streitgegenständliche Versammlung veröffentlichten Tweets von „B1. B. 000“ und „Q. “ werden von der Beklagten dem Gegenprotest und nicht der Klägerin zugerechnet, so dass dahingestellt bleiben kann, ob in diesen eine gezielte Provokation liegt. Soweit der Beklagte hierauf die Annahme eines großen Gegenprotests mit ähnlichem Störerpotential stützt, ist dies kein Gesichtspunkt, der bei der hier relevanten Gefahrenprognose gegenüber der Klägerin Berücksichtigung finden konnte. Die zwei die streitgegenständliche Versammlung betreffenden und der Klägerin zugerechneten Tweets, enthalten über die Ankündigung der beiden Versammlungen vom 19. Oktober 2018 hinaus weder Provokationen des Gegenprotests noch Aufrufe zu Gewalttätigkeit diesem gegenüber.
90Soweit sich der Beklagte zudem auf die Einschätzung der Kriminalinspektion Staatsschutz stützt, dass bei einer „Rechten Versammlung“ der angekündigten Größenordnung sehr wahrscheinlich mit aggressiv ausgerichtetem Gegenprotest zu rechnen sei, handelt es sich um bloß abstrakt-generelle Erwägungen, die sich zudem auch wieder auf den erwarteten Gegenprotest beziehen. Konkrete, tatsachengestützte Anhaltspunkte für eine unmittelbar der Versammlung der Klägerin zuzurechnende erhebliche Gefahr im Sinne der §§ 12a und 19a VersG werden damit nicht belegt.
91Der schriftsätzliche Vortrag des Beklagten, die Entscheidung, die Versammlung zu videografieren, sei während des Versammlungsgeschehens fortwährend überprüft worden ist, nicht substantiiert belegt. Die Angaben des in der mündlichen Verhandlung informatorisch befragten Polizeidirektors M1. geben hierfür ebenfalls keinen Anhalt sondern deuten eher darauf hin, dass eine solche Überprüfung nicht erfolgte.
92Ungeachtet dessen vermögen auch die nach dem Beginn der Versammlung in M. liegenden Vorkommnisse und Erkenntnisse des Beklagten dessen Gefahrenprognose für eine durchgehende Kameraverwendung nicht zu stützen.
93Soweit der Beklagte darauf abgehoben hat, dass ein Versammlungsteilnehmer der Klägerin offen eine Tätowierung gezeigt habe, welche gemäß § 86a StGB strafbar sei, rechtfertigt dies ebenfalls weder die Annahme einer erheblichen Gefahr noch können hieraus Rückschlüsse auf das Verhalten der übrigen Teilnehmer gezogen werden. Gleiches gilt für die vom Beklagten geschilderte Situation, wonach ein anreisender Versammlungsteilnehmer der Klägerin entgegen der polizeilichen Führung der Teilnehmer durch den Ausgang „X. Straße“ des S-Bahnhofes M. den hinter der Gegenversammlung gelegenen Ausgang genutzt habe und mitten durch die Gegenversammlung gelaufen sei, wobei er ein Banner eines Versammlungsteilnehmers des Gegenprotests bei Seite gewischt habe. Dass sich der Betreffende trotz der Gefährderansprache auch im Verlauf der Versammlung derart verhalten hat, dass die Grenze der erheblichen Gefahr überschritten zu werden drohte, hat der Beklagte nicht mehr dargelegt. Es ist auch nicht geltend gemacht worden, dass dieser Vorfall im Sinne der §§ 12a Abs. 1 Satz 1, 19a VersG relevantes Verhalten der übrigen Versammlungsteilnehmer ansatzweise nach sich gezogen hat.
94Die vom Beklagten in der Klageerwiderung vom 7. Februar 2019 erneut bemühten Tweets belegen die geltend gemachten fortwährenden Provokationen beider Lager über soziale Medien. Die getroffene Gefahrenprognose stützen diese mangels konkreter Aufforderungen zu Gewalttätigkeiten – aus der Versammlung der Klägerin heraus – jedoch nicht.
95Sofern der Beklagte aus den Tweets beider Lager über die Abreise der Teilnehmer von der vorhergehenden Versammlung in M. ableitet, dass sich bereits in E. -N. aufhaltende, weitere Versammlungsteilnehmer auf das baldige Eintreffen dieser hätten einstellen können, hat er ebenfalls keine über bloße Vermutungen hinausgehende tatsachengestützte Anhaltspunkte dafür dargelegt, dass von den Teilnehmern der klägerischen Versammlung erhebliche Gefahren im Sinne der §§ 12a Abs. 1 Satz 1, 19a VersG ausgehen. Selbst die tatsachengestützte Annahme einer erneuten Begegnung beider Lager genügte allein den Anforderungen der erforderlichen Gefahrenprognose ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht. Der Tweet von „Q. T. E. “ unter dem Hashtag #Nazisboxen wird vom Beklagten ebenfalls dem Gegenprotest und nicht der Klägerin bzw. ihren Versammlungsteilnehmern zugerechnet.
96Auch angesichts des Umstandes, dass der Beklagte aufgrund der Anmeldung der Klägerin und mangels gegenteiliger Erkenntnisse für die Versammlung in E. -N. von lediglich 30-45 Teilnehmern ausgehen musste – und damit von deutlich weniger Teilnehmern als für die Versammlungen vom 21. September 2018 und 3. Oktober 2018 – und aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine Standkundgebung – und nicht um einen Aufzug – gehandelt hat, war zudem der Eintritt einer unübersichtlichen Gefährdungslage nicht überwiegend wahrscheinlich.
97Der Seitens des Beklagten schriftsätzlich zum Fortbestehen seiner Entscheidung, die Versammlung der Klägerin per Kamera zu beobachten bzw. diesbezügliche Aufnahmen zu speichern, angeführte Wurf einer Eisenstange aus einer Kleingruppe des Gegenprotests heraus in Richtung des Versammlungsleiters bzw. des mitgeführten Lautsprecherwagens im unmittelbaren Vorfeld der hier streitgegenständlichen Versammlung, ist als Angriff aus dem Bereich der Gegendemonstration ebenfalls nicht geeignet, die Gefahrenprognose gegenüber der Klägerin zu stützen. Die Annahme des Beklagten, eine gewalttätige Gegenreaktion von Teilnehmern der klägerischen Versammlung sei sehr wahrscheinlich gewesen, erweist sich - auch unter Berücksichtigung des in der Klageerwiderung geschilderten Verhaltens des Versammlungsleiters der Klägerin und seines Stellvertreters und der Ausführungen des Polizeidirektors M1. in der mündlichen Verhandlung - mangels weiterer tatsachengestützter Anhaltspunkte als bloße Vermutung. Soweit der Beklagte auf eine Beinahe-Attacke eines Teilnehmers der klägerischen Versammlung gegenüber einem Journalisten abstellt, ist nach den Angaben im Protokoll zu der hierzu gespeicherten Videodatei davon auszugehen, dass keine Straftat begangen wurde. Es ist ferner nicht ersichtlich, dass sich Teilnehmer der Versammlung durch das Herauslösen aus der Versammlung zum Zwecke der Provokation und Beleidigung des Gegenprotests in für §§ 12a, 19a VersG relevanter Weise strafbar gemacht haben.
98Im Übrigen geht der Verweis des Beklagten auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg,
99vgl. VG Würzburg, Urteil vom 28. April 2016 – W 5 K 15.396 –, juris,
100zur Tragfähigkeit der von ihm in vergleichbarer Weise angestellten Gefahrenprognose fehl, da in dem dort zu beurteilenden Sachverhalt nicht die gesamte Versammlung permanent gefilmt, sondern lediglich in Einzelfällen anlässlich bestimmter Ereignisse Bild- und Tonaufzeichnungen von bestimmten Versammlungsteilnehmern gefertigt wurden. Eine solche Vorgehensweise wäre auch vom Beklagten zu fordern gewesen.
101Nach alledem wäre die vorgenommene Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen bzw. -aufzeichnungen der Teilnehmer der klägerischen Versammlung allenfalls nach den dargelegten Grundsätzen der sog. Nichtstörerinanspruchnahme in Betracht gekommen, wofür es an den erforderlichen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes fehlt.
102Selbst wenn das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 12a, 19a VersG unterstellt würde, wäre der Beklagte nicht berechtigt gewesen, die gesamte Versammlung der Klägerin durchgehend mittels Kamera zu beobachten bzw. zu filmen und nur im – im Übrigen nicht näher dargelegten – Einzelfall einzelne Versammlungsteilnehmer heranzuzoomen.
103Vorliegend war die Beobachtung und Aufzeichnung aller und nicht nur einzelner Versammlungsteilnehmer unzulässig.
104§§ 12a Abs. 1 Satz 1, 19a VersG begrenzt die Zulässigkeit der Bild- und Tonaufnahmen bzw. -aufzeichnungen nach seinem ausdrücklichen Wortlaut auf die Teilnehmer, von denen die erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen, d.h. auf die Störer. Eine Ermächtigung zum Videobeobachten bzw. Filmen aller Versammlungsteilnehmer ist § 12a Abs. 1 Satz 1 VersG hingegen nicht zu entnehmen, so lange nicht die gesamte Versammlung unfriedlich und damit zum Störer wird.
105Vgl. zu der Problematik Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Werkstand: 232. EL August 2020, § 12a Rn. 4; so wohl auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 5. Februar 2015 – 7 A 1683/14 –; offen gelassen von VG Gelsenkirchen, Urteil vom 19. Februar 2019 – 14 K 7046/16 –; VG Münster, Urteil vom 21. August 2009 – 1 K 1403/08 –; sämtlich juris.
106Entgegen der Auffassung des Beklagten lässt sich die Störereigenschaft sämtlicher Versammlungsteilnehmer nicht alleine mit ihrer Zugehörigkeit zur klägerischen Versammlung begründen. Genügt die bloße Teilnahme von Anhängern bestimmter, abstrakt gewaltbereiter Gruppierungen nicht den Anforderungen der von § 12a VersG geforderten Gefahrenprognose, die an tatsächliche Erkenntnisse anknüpfen muss,
107vgl. BVerfG, einstweilige Anordnung vom 4. September 2009 – 1 BvR 2147/09 –; OVG NRW, Beschluss vom 11. März 2020 – 15 A 1139/19 –; sämtlich juris,
108kann dieser Aspekt auch nicht zur Grundlage der Entscheidung, die Kamera auf die gesamte Versammlung auszurichten, gemacht werden.
109Soweit § 12a Abs. 1 Satz 2 VersG auch Bild- und Tonaufzeichnungen „Dritter“, d.h. solcher Personen, von denen keine Gefahren im Sinne des § 12a Abs. 1 VersG ausgehen zulässt, betrifft das Personen, die notwendigerweise mit aufgezeichnet werden, weil es technisch keine Möglichkeit gibt, die Aufnahme - etwa bei dynamischem Geschehen - so zu fokussieren, dass sie außerhalb des Bildbereichs sind.
110Es ist nach den Angaben des Polizeidirektors M1. nicht ersichtlich, dass die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen bzw. -aufzeichnungen dem in der Klageerwiderung dargestellten Ziel diente, lediglich den „erheblichen Teil der strafrechtlich in der Vergangenheit in Erscheinung getretenen Versammlungsteilnehmer“ zu erfassen. Aus der Aussage des Polizeidirektors M1. in der mündlichen Verhandlung, es sei erforderlich gewesen, zunächst eine Übersicht zu gewinnen wer die Aggressoren sind, um dann diese heranzuzoomen, ergibt sich ein nicht aufzulösender Widerspruch zu dem Vortrag des Beklagten in der Klageerwiderung, es sei erforderlich gewesen, sieben namentlich benannte Teilnehmer der Versammlung zu beobachten und es sei, weil diese ein „erheblicher Teil“ der aus 45 Personen bestehenden Versammlung gewesen seien, erforderlich gewesen die gesamte Versammlung zu beobachten.
111Demnach war von vornherein beabsichtigt, alle Versammlungsteilnehmer zu videografieren, ohne dem Gesetzeswortlaut des § 12a Abs. 1 Satz 2 VersG Rechnung zu tragen, dass Personen, die nicht Störer sind, nur dann erfasst werden dürfen, wenn dies unvermeidbar ist.
112Hinzu kommt, dass von der gesetzlichen Regelung auch die vorgenommene, wie oben dargelegt, nicht hinreichend tatsachengestütze und damit anlasslose und zeitlich unbegrenzte Aufzeichnung, bzw. Beobachtung der Versammlung von deren Beginn bis zu deren Ende nicht gedeckt ist.
113Die Kammer ist aufgrund der Aussagen des Polizeidirektors M1. davon überzeugt, dass der Entschluss, die Versammlung insgesamt und über deren gesamte Dauer zu videografieren, auf der Annahme beruhte, es werde zu einer Konfrontation mit Anhängern des Gegenprotests kommen, deren Eskalation auch durch den Einsatz der Videokameras von vornherein unterbunden werden sollte. Auf die Frage des Gerichts nach dem Zweck des Kameraeinsatzes gab Polizeidirektor M1. an, ausgehend von den Vorfällen bei den vorhergehenden Versammlungen am 3. Oktober 2018 und am 19. Oktober 2018 sowie im Vorfeld der hier streitgegenständlichen Versammlung sei es das Ziel gewesen, die vorhandene aggressive Stimmung nicht weiter gegenseitig aufpeitschen zu lassen und beide Versammlungen kontrolliert stattfinden zu lassen, damit sie zu ihrem Recht kommen, ihre Meinung kundzutun. Dass es dem Beklagten im Sinne einer gefahrenabwehrrechtlichen Zielsetzung der Maßnahme darum ging, die Kamera lediglich als Hilfsmittel des menschlichen Auges einzusetzen, ist nicht ersichtlich.
114Vgl. allgemein zur Zielsetzung der §§ 12a, 19a VersG: Kniesel in: Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 18. Auflage, §12a, Rn. 14f. m.w.N.; Enders in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 12a Rn. 7; Ott/Wächtler/Heinhold, a.a.O., § 12a Rn. 9; Arzt in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, a.a.O., § 19a Rn. 16ff. m.w.N.; Groscurth in: Peters/Janz, a.a.O., G Rn. 175.
115Der Beklagte hat mit der Maßnahme somit bereits keinen legitimen Zweck verfolgt. Dient die Maßnahme allein (oder überwiegend) dem Zweck, Teilnehmer der Versammlung durch die sichtbare Präsenz der Videoüberwachung von der Begehung von Straftaten abzuhalten, weil deren unmittelbare Dokumentation zu Beweiszwecken in Echtzeit erfolgt und eine Identifizierung ihrer Person mithilfe der angefertigten Aufnahmen ohne weiteres möglich ist, liegt eine über die reine Gefahrenabwehr hinausgehende Zielrichtung vor. Der Beklagte hat mit der Anfertigung der Bild- und Tonaufzeichnungen insbesondere den Zweck einer Gefahrenprävention verfolgt. Diese Vorgehensweise stellt einen nicht legitimierten unmittelbaren Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 GG dar. Gerade die mit dem polizeilichen Kameraeinsatz während einer Versammlung verbundenen Einschüchterungseffekte beeinträchtigen nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen, sondern auch das Gemeinwohl, weil die kollektive öffentliche Meinungskundgabe eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten demokratischen und freiheitlichen Gemeinwesens ist.
116Vgl. BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 – m.w.N., BVerfGE 122, 342, zitiert nach juris; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019 – 15 A 4753/18 und Beschluss vom 23. November 2010 – 5 A 2288/09 –, beide www.nrwe.de und juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23. Oktober 2018 – 14 K 3543/18 –, www.nrwe und juris; Kniesel in: Dietel / Gintzel / Kniesel, a.a.O., §12a, Rn. 9 m.w.N.
117Diese, in der Klageerwiderung verharmlosend als „chilling effect“ bezeichnete Einschüchterung der Versammlungsteilnehmer darf daher niemals das hauptsächliche Ziel des Kameraeinsatzes sein, sondern allenfalls ein – aufgrund das Grundrecht der Versammlungsfreiheit überwiegender Interessen der Allgemeinheit – hinzunehmender Nebeneffekt.
118Das durchgehende, anlasslose Filmen der gesamten Versammlung der Klägerin erweist sich unabhängig davon, dass weder die Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage vorlagen noch die Zielsetzung des Beklagten auf der Rechtsfolgenseite von der Eingriffsnorm gedeckt war auch als nicht angemessen. Die Rechte der Klägerin bzw. der Teilnehmer ihrer Versammlung wurden unzumutbar beeinträchtigt. Der Eingriff in die innere Versammlungsfreiheit der Teilnehmer der klägerischen Versammlung wiegt schwer. Dass dem Versammlungsleiter der Entschluss zur Videografie zuvor mitgeteilt worden war, mindert die grundrechtliche Beeinträchtigung nicht.
119Zum Abwägungsmaßstab der vorzunehmenden Gewichtung vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 24. September 2015 – 11 LC 215/14 –, juris.
120Der Eingriff in die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer war auch nicht erforderlich, denn er hätte sich vermeiden lassen, indem eine im vorgehaltenen Beweissicherungsfahrzeug im Stand-By-Modus geschaltete Kamera erkennbar von der Versammlung abgewendet worden wäre. Die Beamten wären innerhalb weniger Sekunden in der Lage gewesen, etwaige von ihnen wahrgenommene Gefahrenlagen im Bild einzufangen, ohne dass hierfür anlasslos Bilder der gesamten Versammlung hätten aufgezeichnet werden müssen.
121Der Einwand des Beklagten, die Versammlungsteilnehmer hätten in einem solchen Fall „einen Zwischenfall frei“, überzeugt nicht, da §§ 12a, 19a VersG ein Filmen bei einer Verdichtung der tatsächlichen Anhaltspunkte im Einzelfall ermöglicht hätte. Im Übrigen ist die Beeinträchtigung, die sich aus der Verzögerung ergibt, mit Blick auf den hohen verfassungsrechtlichen Stellenwert der Versammlungsfreiheit hinzunehmen.
122Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. November 2010 – 5 A 2288/09 –; OVG Lüneburg, Urteil vom 24. September 2015 – 11 LC 215/14 –; vgl. auch VG Leipzig, Urteil vom 17. Juni 2016 – 1 K 259/12 – und VG Hannover, Urteil vom 14. Kuli 2014 – 10 A 226/13 –; sämtlich juris.
123Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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