Beschluss vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 9 L 1239/20
Tenor
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.500,00 € festgesetzt.
1
Gründe:
2Der Einzelrichter ist zuständig, nachdem ihm der Rechtsstreit mit Beschluss der Kammer vom 11. November 2020 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
3Der auf die im Verfahren 9 K 3482/20 erhobene Klage bezogene Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der gleichzeitig erhobenen Klage gegen den Bescheid der Stadt C. vom 21.08.2020 mit Az. anzuordnen,
5ist bei verständiger Würdigung des Rechtsschutzbegehrens (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) dahin auszulegen, dass sich der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auf die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Zwangsgeldandrohung, nicht aber auch auf die Anordnung der Abgabe des Führerscheins und auf die Verwaltungsgebühr bezieht. Da nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 9 Straßenverkehrsgesetz (StVG) eine Klage gegen eine auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis und nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 112 Satz 1 Justizgesetz NRW (JustG NRW) eine Klage gegen eine Zwangsgeldandrohung bzw. Zwangsgeldfestsetzung keine aufschiebende Wirkung entfaltet, ist insoweit ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung sachgerecht und wird als gestellt angesehen.
6Die Abgabe des Führerscheins und die Verwaltungsgebühr sieht das Gericht als nicht von dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes miterfasst an. Bezüglich der Gebührenfestsetzung entfällt die aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes, nämlich gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO, so dass ebenfalls die Anordnung der aufschiebenden Wirkung beantragt werden müsste. Ein darauf gerichteter Antrag wäre aber unzulässig, wenn ein Antragsteller vor Antragstellung bei Gericht keinen Antrag nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO bei der Behörde gestellt hat. Allerdings verbietet sich eine Auslegung, die zu einem unzulässigen Antrag führt. Da der Antragsteller ersichtlich zuvor keinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 6 VwGO bei der Antragsgegnerin gestellt hat, geht das Gericht davon aus, dass der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Gebührenfestsetzung nicht umfasst.
7Bezüglich der Abgabe des Führerscheins entfällt die aufschiebende Wirkung nach überzeugender Ansicht nicht bereits von Gesetzes wegen nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG und § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV, sondern erst nach – vorliegend nicht erfolgter – Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO, so dass es insoweit keines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bedarf.
8Vgl. BayVGH, Beschluss vom 6. Oktober 2017 - 11 CS 17.953 -, juris Rn. 9; OVG NRW, Beschluss vom 16 B 1402/17, juris Rn. 17; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 9. Oktober 2020 – 9 L 727/20 –, juris Rn. 5 f.; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 47 FeV Rn. 19; Siegmund in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 47 FeV (Stand: 16. Januar 2019), Rn. 24, jeweils m.w.N.
9Der so verstandene Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig, aber unbegründet.
10Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO hängt von einer Abwägung der widerstreitenden Interessen an der Suspendierung der angefochtenen Maßnahme einerseits und der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits ab. Bei der Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Ergibt die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass der sofort vollziehbare Verwaltungsakt rechtswidrig ist, überwiegt das private Aufschubinteresse des Antragstellers. An der Vollziehung einer rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme kann kein öffentliches Interesse bestehen. Ist hingegen der angegriffene Bescheid rechtmäßig, überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse am Bestand der sofortigen Vollziehbarkeit. Vorliegend ergibt die Abwägung des Interesses des Antragstellers einerseits – vorläufig weiter ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen – mit dem widerstreitenden öffentlichen Interesse andererseits – die Teilnahme des Antragstellers am motorisierten Straßenverkehr zum Schutze der anderen Verkehrsteilnehmer sofort zu unterbinden –, dass dem öffentlichen Interesse Vorrang einzuräumen ist. Denn die erhobene Klage hat voraussichtlich keinen Erfolg, weil die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Zwangsgeldandrohung sich nach der im Eilverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig darstellen.
11Rechtsgrundlage der Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Nach dieser Vorschrift gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich acht oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann die Fahrerlaubnis zu entziehen. Sie hat für das Ergreifen der Maßnahmen auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (Tattagprinzip, § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG). Im Zusammenhang des § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG ist retrospektiv auf den Tag der letzten Zuwiderhandlung, die mit ihrer Punktebewertung das Erreichen einer Stufe und damit eine Maßnahme auslöst, abzustellen.
12Vgl. BT-Drs. 17/12636, S. 41; Stieber in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 4 StVG (Stand: 02.05.2017), Rn. 61.
13Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ergeben sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Die nach Landesrecht zuständige Behörde ist an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden, § 4 Abs. 5 Satz 3 StVG.
14Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand ist maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG.
15Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21/15 –, juris Rn. 25; OVG Hamburg, Beschluss vom 8. Januar 2018 – 4 Bs 94/17 – juris Rn.14; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23. Juli 2019 – 9 K 1438/19 –, juris Rn. 53; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 4 StVG Rn. 81.
16Aus der Verwaltungsakte ergeben sich die folgenden Eintragungen:
17Bl. |
Datum |
Ereignis / Zuwiderhandlung |
P. |
Rechtskraft |
Vermerkter Tilgungszeitpunkt |
1 VV |
25. 7. 19 |
Mitteilung des KBA über die nachfolgenden Zuwiderhandlungen: |
|||
5 VV |
27. 9. 16 |
+ 24 km/h (PKW a.o.) 24. 11. 16, 77,00 € 11.3.4 BKatV |
1 |
28. 2. 17 |
28. 8. 19 |
6 VV |
2. 4. 17 |
Mobiltelefon 6. 6. 17, 100,00 € 246.1 BKatV |
1 |
4. 7. 17 |
4. 1. 20 |
7 VV |
19. 8. 17 |
+ 25 km/h (PKW i.o.) 4. 9. 17, 165,00 € 11.3.4 BKatV |
1 |
11. 12. 17 |
11. 6. 20 |
8 VV |
6. 1. 18 |
Mobiltelefon 1. 2. 18, 120,00 € 246.1 BKatV |
1 |
9. 10. 18 |
9. 4. 21 |
9 VV |
25. 3. 19 |
+ 22 km/h (PKW a.o.) 13. 5. 19, 105,00 € 11.3.4 BKatV |
1 |
7. 6. 19 |
7. 12. 21 |
10 VV |
24. 4. 19 |
Mobiltelefon 17. 6. 19, 130,00 € 246.1 BKatV |
1 |
4. 7. 19 |
4. 1. 22 |
11 VV |
29. 8. 19 |
Ermahnung; PZU 31. 8. 2019 |
|||
20 VV |
3. 10. 19 |
Mitteilung des KBA über die nachfolgende Zuwiderhandlung: |
|||
29 VV |
6. 8. 19 |
Inbetriebnahme eines Fahrzeugs, dessen Betriebserlaubnis erloschen war 6. 8. 19, 170,00 € 214a.2 BKatV |
1 |
10. 9. 19 |
10. 3. 22 |
30 VV |
15. 10. 19 |
Mitteilung des KBA über die nachfolgende Zuwiderhandlung: |
|||
40 VV |
22. 6. 19 |
+ 39 km/h (PKW a.o.) 22. 8. 19, 210,00 € 11.3.6 BKatV |
1 |
10. 9. 19 |
10. 3. 22 |
16, 56 VV |
Bescheinigung Fahreignungsseminar |
datierend v. 13. 9. 19 |
|||
41 VV |
8. 11. 19 |
Verwarnung; PZU 12. 11. 2019 |
|||
46 VV |
10. 1. 20 |
Mitteilung des KBA über die nachfolgenden Zuwiderhandlungen: |
|||
58 VV |
15. 5. 19 |
Mobiltelefon 17. 5. 19, 145,00 € 246.1 BKatV |
1 |
19. 9. 19 |
19. 3. 22 |
59 VV |
7. 10. 19 |
Mobiltelefon 8. 11. 19, 160,00 € 246.1 BKatV |
1 |
11. 12. 19 |
11. 6. 22 |
60 VV |
9. 5. 20 |
Mitteilung des KBA über die nachfolgende Zuwiderhandlung: |
|||
73 VV |
18. 2. 20 |
Mobiltelefon 2. 3. 20, 105,00 € 246.1 BKatV |
1 |
15. 4. 20 |
15. 10. 22 |
99 VV |
10. 10. 20 |
Mitteilung des KBA über die nachfolgende Zuwiderhandlung: |
|||
112 VV |
12. 7. 20 |
Mobiltelefon / nicht ordnungsgemäße Bereifung 30. 7. 20, 400,00 € 246.1, 212 BKatV |
1 |
27. 8. 20 |
27. 2. 23 |
Die Voraussetzungen der unwiderlegbaren gesetzlichen Fiktion des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG lagen im Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheides vom 21. August 2020 vor, sodass die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entziehen musste.
19Die Zuwiderhandlungen wurden jeweils den zutreffenden Bestimmungen des Bußgeldkatalogs zugeordnet und durchgehend korrekt bewertet.
20Gemäß § 4 Abs. 2 StVG sind für die Anwendung des Fahreignungs-Bewertungssystems die in einer Rechtsverordnung nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe s StVG – der Fahrerlaubnisverordnung – bezeichneten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten maßgeblich. Sie werden nach Maßgabe der in Satz 1 genannten Rechtsverordnung wie folgt bewertet:
211. Straftaten mit Bezug auf die Verkehrssicherheit oder gleichgestellte Straftaten, sofern in der Entscheidung über die Straftat die Entziehung der Fahrerlaubnis nach den §§ 69 und 69b des Strafgesetzbuches oder eine Sperre nach § 69a Absatz 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches angeordnet worden ist, mit drei Punkten,
222. Straftaten mit Bezug auf die Verkehrssicherheit oder gleichgestellte Straftaten, sofern sie nicht von Nummer 1 erfasst sind, und besonders verkehrssicherheitsbeeinträchtigende oder gleichgestellte Ordnungswidrigkeiten jeweils mit zwei Punkten und
233. verkehrssicherheitsbeeinträchtigende oder gleichgestellte Ordnungswidrigkeiten mit einem Punkt.
24Gemäß § 40 FeV sind dem Fahreignungs-Bewertungssystem die in Anlage 13 bezeichneten Zuwiderhandlungen mit der dort jeweils festgelegten Bewertung zu Grunde zu legen. Anlage 13 FeV wiederum enthält tabellarisch die Bezeichnung und Bewertung der im Rahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems zu berücksichtigenden Straftaten und Ordnungswidrigkeiten.
25Geschwindigkeitsüberschreitungen werden gemäß Ziffer 2.2.3 Anlage 13 FeV als besonders verkehrssicherheitsbeeinträchtigende Ordnungswidrigkeiten mit 2 Punkten bewertet, soweit für ihre Ahndung 9.1 bis 9.3, 11.1 bis 11.3 jeweils in Verbindung mit 11.1.6 bis 11.1.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.1.6 nur innerhalb geschlossener Ortschaften), 11.2.5 bis 11.2.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.2.5 nur innerhalb geschlossener Ortschaften) oder 11.3.6 bis 11.3.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.3.6 nur innerhalb geschlossener Ortschaften) des Bußgeldkatalogs gemäß Bußgeldkatalogverordnung (BKatV) einschlägig sind. Sie werden gemäß Ziffer 3.2.2 Anlage 13 FeV als (schlicht) verkehrssicherheitsbeeinträchtigende Ordnungswidrigkeiten mit 1 Punkt bewertet, soweit für ihre Ahndung 8.1, 9, 10, 11 in Verbindung mit 11.1.3, 11.1.4, 11.1.5, 11.1.6 der Tabelle 1 des Anhangs (11.1.6 nur außerhalb geschlossener Ortschaften), 11.2.2, 11.2.3, 11.2.4, 11.2.5 der Tabelle 1 des Anhangs (11.2.2 nur innerhalb, 11.2.5 nur außerhalb geschlossener Ortschaften), 11.3.4, 11.3.5, 11.3.6 der Tabelle 1 des Anhangs (11.3.6 nur außerhalb geschlossener Ortschaften) des Bußgeldkatalogs einschlägig sind.
26Zuwiderhandlungen gegen die sonstigen Pflichten für den verkehrssicheren Zustand des Fahrzeugs werden gemäß Ziffer 3.5.8 Anlage 13 zur FeV mit 1 Punkt bewertet. Hierzu gehört gemäß Ziffer 214a.2 der Anlage zur BKatV die Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit durch Inbetriebnahme eines Fahrzeugs ohne Betriebserlaubnis.
27Zuwiderhandlungen gegen die sonstigen Pflichten des Fahrzeugführers werden gemäß Ziffer 3.2.15 Anlage 13 FeV i.V.m. Ziffern 108, 246.1, 247 der Anlage zur BKatV mit 1 Punkt bewertet. Hierzu gehört das rechtswidrige Benutzen eines elektronischen Geräts beim Führen eines Fahrzeugs (Ziffer 246.1 der Anlage zur BKatV).
28Auf dieser Grundlage ergaben sich mit den am 10. Januar 2020 mitgeteilten Zuwiderhandlungen vom 15. Mai 2019 und 7. Oktober 2019 neun Punkte, die im Zusammenhang mit § 4 Abs. 5 Satz 5 und § 4 Abs. 8 StVG die Verpflichtung der Antragsgegnerin auslösten, dem Antragsteller die Fahrerlaubnis zu entziehen. Der Punktestand war nicht durch Tilgungen oder sonstige Reduzierungen verringert.
29Die Tilgung der Punktbewertungen richtet sich nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StVG jeweils für die mit einem Punkt bewerteten Ordnungswidrigkeiten - dann zweieinhalb Jahre - und nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b) StVG hinsichtlich der mit zwei Punkten bewerteten Ordnungswidrigkeiten - dann fünf Jahre. Die Tilgungsfristen beginnen jeweils mit dem Tag der Rechtskraft (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG). Im Zeitpunkt des maßgeblichen letzten Tattages, dem 7. Oktober 2019, war danach lediglich die Eintragung über die am 27. September 2016 begangene und am 28. Februar 2017 rechtskräftig geahndete Ordnungswidrigkeit, nämlich am 28. August 2019, getilgt. Die übrigen bis dahin verwirklichten neun Punkte unterlagen, wie aus der Tabelle ersichtlich ist, keiner Tilgung.
30Auch die Teilnahme an dem Fahreignungsseminar bewirkte keine Reduzierung des Punktestandes um einen Punkt. Dies ergibt sich aus § 4 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG. Gemäß § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG werden Inhabern einer Fahrerlaubnis, die freiwillig an einem Fahreignungsseminar teilnehmen und hierüber der nach Landesrecht zuständigen Behörde innerhalb von zwei Wochen nach Beendigung des Seminars eine Teilnahmebescheinigung vorlegen, bei einem Punktestand von ein bis fünf Punkten ein Punkt abgezogen; maßgeblich ist der Punktestand zum Zeitpunkt der Ausstellung der Teilnahmebescheinigung.
31Bei der Ermittlung des Punktestandes ist maßgeblich auf § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG abzustellen. Danach ergeben sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Hieraus folgt, dass bei der Ermittlung des für einen Punktabzug maßgeblichen Punktestandes die Verkehrsverstöße zu berücksichtigen sind, die im Zeitpunkt der Ausstellung der Teilnahmebescheinigung für das Seminar begangen waren, auch wenn sie erst später rechtskräftig geahndet wurden.
32Hentschel/König/Dauer, StVG, 45. A. 2019, § 4 StVG Rn. 48, 96, vgl. zum Tattagprinzip gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG BT-Drs. 17/12636, S. 39.
33Ausstellungsdatum der Teilnahmebescheinigung war der 13. September 2019. Zu diesem Zeitpunkt ergaben sich unter Anwendung des Tattagprinzips – unabhängig von dem für das Ergreifen von Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG gemäß § 4 Abs. 8 StVG maßgeblichen Mitteilungen an die Fahrerlaubnisbehörde – nach § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG bereits acht Punkte auf Grund der am 2. April 2017, 19. August 2017, 6. Januar 2018, 25. März 2019 und 24. April 2019 sowie der weiteren, am 15. Mai 2019, 22. Juni 2019 und am 6. August 2019 begangenen Zuwiderhandlungen. Demnach scheidet eine Punktereduzierung wegen des Überschreitens eines Punktestandes von fünf Punkten aus.
34Weitere Voraussetzung für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist, dass das Stufenverfahren nach § 4 Abs. 5 StVG ordnungsgemäß durchgeführt worden ist.
35VG Gelsenkirchen, Beschlüsse vom 9. Oktober 2020 – 9 L 727/20 und 9 L 824/20 – jeweils juris Rn. 40 f.
36Ergeben sich vier oder fünf Punkte, ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines dieser Punktestände schriftlich zu ermahnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG). Ergeben sich sechs oder sieben Punkte, ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines dieser Punktestände schriftlich zu verwarnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG). Gemäß § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Maßnahme nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 2 oder 3 erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 1 oder 2 bereits ergriffen worden ist.
37Die Antragsgegnerin hat gegenüber dem Antragsteller vor Erlass des Bescheides vom 21. August 2020 entsprechend dem in § 4 Abs. 6 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 StVG vorgegebenen gestuften Verfahren die Vorstufenmaßnahmen auf Grundlage des sich bei ihr aus den vom Kraftfahrbundesamt übermittelten Eintragungen jeweils ergebenden Kenntnisstandes ergriffen und ordnungsgemäß durchgeführt. Sie hat die maßgeblichen Verfahrensbestimmungen beachtet.
38Die Antragsgegnerin hat den Antragsteller mit Schreiben vom 29. August 2019 in Ansehung der ihr vom Kraftfahrbundesamt am 25. Juli 2019 mitgeteilten Zuwiderhandlungen vom 2. April 2017, 19. August 2017, 6. Januar 2018, 25. März 2019 und 24. April 2019 wegen des Erreichens von fünf Punkten gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG unter Hinweis auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar (§ 4 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Abs. 7 StVG) ermahnt, die – unter weiteren Voraussetzungen – zu einer Reduktion um einen Punkt führen könne. Die Antragsgegnerin hat in der Anlage zu der Ermahnung die begangenen Verkehrszuwiderhandlungen angegeben (§ 41 Abs. 1 FeV).
39Dass die Antragsgegnerin den Antragsteller nicht auch in Ansehung der am 27. September 2016 begangenen Zuwiderhandlung ermahnte, ist für den Punktestand des Antragstellers im Ergebnis nicht relevant. Im maßgeblichen Zeitpunkt des jüngsten Tattages vor der Ermahnung (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG), dem 24. April 2019, hatte der Antragsteller tatsächlich sechs Punkte erreicht, weil der Punkt für die am 27. September 2016 begangene Zuwiderhandlung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StVG erst am 28. August 2019 zu tilgen war. Ungeachtet der daher nachträglichen Tilgung am 28. August 2019 konnte – und musste – die Eintragung für die Ermahnung verwertet werden. Sie war nicht gemäß § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG zu löschen, weil sie sich ab dem 29. August 2019 in der einjährigen Überliegefrist befand und daher gemäß § 29 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 StVG zur Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Abs. 5 StVG zu verwerten war.
40In Folge der Ermahnung vom 29. August 2019 ergab sich jedoch keine Punktereduzierung gemäß dem allein hierfür in Betracht kommenden § 4 Abs. 6 StVG. Gemäß § 4 Abs. 6 StVG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Maßnahme nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 2 oder 3 erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 1 oder 2 bereits ergriffen worden ist. Sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, ist diese zu ergreifen. Im Fall des Satzes 2 verringert sich der Punktestand mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der ergriffenen (1.) Ermahnung auf fünf Punkte, (2.) Verwarnung auf sieben Punkte, wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist. Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die nach Landesrecht zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, erhöhen den sich nach Satz 3 ergebenden Punktestand. Späteren Tilgungen oder Punktabzügen wird der sich nach Anwendung der Sätze 3 und 4 ergebende Punktestand zugrunde gelegt.
41Nach diesen Maßgaben wäre der Antragsteller auf Grund des erreichten Punktestandes von sechs Punkten gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG zu verwarnen gewesen. Eine Verwarnung kam vorliegend wegen § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG noch nicht in Betracht, weil die Ermahnung als Maßnahme der davor liegenden Stufe (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) noch nicht ergriffen worden ist. Zutreffend hat die Antragsgegnerin den Antragsteller ermahnt (§ 4 Abs. 6 Satz 2 StVG). Jedoch trat die Folge einer Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG nicht ein. Denn diese Bestimmung setzt voraus, dass der Punktestand im Zeitpunkt des Ausstellens der Ermahnung nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger war. Der Satz ist dahin zu verstehen, dass keine weitere Reduzierung stattfindet, sollte sich der Punktestand mittlerweile bereits auf die in § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG genannten Punktestände oder darunter reduziert haben.
42BT-Drs. 18/2775, S.10; Hentschel/König/Dauer, StVG, 45. A., § 4 StVG Rn. 88.
43Dies war hier der Fall. „Tag des Ausstellens“ im Sinne des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG und damit maßgeblicher Tag für die nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG eintretende Verringerung des Punktestands ist der Tag der endgültigen Fertigstellung des Schriftstücks, nicht der Zeitpunkt der Absendung oder des Zugangs der Ermahnung.
44VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 20. August 2020 – 9 L 765/20 –, juris Rn. 35; Hentschel/König/Dauer, StVG, 45. A. 2019, § 4 StVG Rn. 88.
45Am 29. August 2019 war der Punktestand bereits durch die am 28. August 2019 eingetretene Tilgung auf fünf Punkte reduziert, so dass eine (zusätzliche) Verringerung des Punktestandes auf Grund des Ergreifens der Maßnahmenstufe der Ermahnung bei einem Punktestand von sechs Punkten ausscheidet.
46Nachdem die Antragsgegnerin durch Mitteilungen des Kraftfahrtbundesamtes vom 3. Oktober 2019 und 15. Oktober 2019 Kenntnis von den Zuwiderhandlungen vom 6. August 2019 und vom 22. Juni 2019 erlangt hatte, verwarnte die Antragsgegnerin den Antragsteller wegen des Erreichens von sechs Punkten mit Schreiben vom 8. November 2019. Dass nach der Begehung dieser weiteren Zuwiderhandlungen bereits eine Maßnahme ergriffen worden war – hier die Ermahnung –, steht einer Berücksichtigung der Zuwiderhandlung bei der Berechnung des Punktestandes nicht entgegen, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG.
47Dass die Antragsgegnerin den Antragsteller gemäß der gemäß § 41 Abs. 1 FeV beigefügten Auflistung nicht auch in Ansehung der am 27. September 2016 begangenen Zuwiderhandlung verwarnte, ist für den Punktestand des Antragstellers im Ergebnis nicht relevant. Im maßgeblichen Zeitpunkt des jüngsten Tattages vor der Verwarnung (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG), dem 6. August 2019, hatte der Antragsteller tatsächlich acht Punkte erreicht, weil der Punkt für die am 27. September 2016 begangene Zuwiderhandlung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StVG, wie dargelegt, erst am 28. August 2019 zu tilgen war. Ungeachtet der daher nachträglichen Tilgung dieses Punktes am 28. August 2019 konnte – und musste – die Eintragung für die Verwarnung verwertet werden. Sie war nicht gemäß § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG zu löschen, weil sie sich ab dem 29. August 2019 in der einjährigen Überliegefrist befand und daher gemäß § 29 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 StVG zur Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Abs. 5 StVG zu verwerten war. In Folge der Verwarnung vom 8. November 2019 ergab sich jedoch keine Punktereduzierung gemäß § 4 Abs. 6 StVG, weil der der Verwarnung zu Grunde zu legende Punktestand im Zeitpunkt des Ausstellens der Verwarnung bereits durch die Tilgung am 28. August 2019 auf den oberen Punktestand der Maßnahmenstufe – sieben Punkte – reduziert war (§ 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG). Eine (zusätzliche) Reduzierung scheidet entsprechend den Erwägungen im Zusammenhang mit § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 1 StVG bezüglich der Ermahnung aus.
48Auch die fehlerhafte Mitteilung des Punktestandes von nur sechs Punkten wirkt sich nicht zu Gunsten des Antragstellers aus. Die Mitteilung des Punktestandes erwächst nicht in Bestandskraft und entfaltet deshalb keine Bindungswirkung für nachfolgende Maßnahmen der Straßenverkehrsbehörde.
49Vgl. noch zu § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F. BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2006 – 3 B 49/06 –, juris Rn. 5.
50Innerhalb des Punktesystems ist zudem grundsätzlich kein Raum für Vertrauensschutz hinsichtlich der Mitteilung von Punkteständen. Es liegt in der Eigenart des Punktesystems selbst begründet, dass unterschiedliche behördliche Mitteilungen unterschiedliche Punktstände aufweisen können. Eine eventuelle Widersprüchlichkeit zu vorangegangenen Entscheidungen ist irrelevant. Zu beurteilen ist allein die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Maßnahme
51Vgl. VG München, Urteil vom 30. März 2012 – M 6b K 11.397 –, juris Rn. 22; VG Stuttgart, Beschluss vom 28. September 2015 – 10 K 3156/15 –, juris Rn. 30.
52Ebenso dürfte es keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der ergriffenen Verwarnung haben, dass aus der gemäß § 41 Abs. 1 FeV der Verwarnung beigefügten Auflistung die fehlerhafte Annahme einer Punktereduzierung hervorgeht.
53Misst man dem Erfordernis der Auflistung der begangenen Verkehrszuwiderhandlungen des § 41 Abs. 1 FeV lediglich den Charakter einer Begründung der getroffenen Entscheidung bei,
54so OVG Lüneburg, Urteil vom 23. Januar 2014 - 12 LB 46/13 -, juris Rn. 23,
55so hat die Antragsgegnerin dem genügt, denn sie hat die von ihr zugrunde gelegten Zuwiderhandlungen benannt und damit ihre Entscheidung begründet. Dass sie noch einen anderen Punktestand hätte berücksichtigen müssen, spielt lediglich hinsichtlich der Vollständigkeit und Richtigkeit der Begründung eine Rolle, die bei dieser Auslegung von § 41 FeV nicht gefordert sein dürfte. Zudem trägt vorliegend die gegebene Begründung auch materiell die getroffene Entscheidung, denn die Verwarnung ist bei Erreichen von sechs oder sieben Punkten auszusprechen.
56Soweit § 41 Abs. 1 FeV - wofür der Wortlaut, der nicht von durch die Behörde zugrunde gelegten sondern „begangenen“ Zuwiderhandlungen spricht - eine vollständige Auflistung der Zuwiderhandlungen verlangt,
57vgl. in diese Richtung auch BR-Drucks. 443/98 S. 293, der von "Unterrichtung" nach Abs. 1 spricht, zur gesamten Problematik VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 09. Oktober 2020 – 9 L 727/20 –, juris Rn. 52 ff.,
58ist dem vorliegend genügt, denn die Antragsgegnerin hat alle sieben mit Punkten bewehrten Zuwiderhandlungen aufgeführt.
59Selbst wenn die Auflistung einschließlich der Bewertung des Fahreignungsseminars – dennoch – als formfehlerhaft angesehen würde, konnte sich der Formfehler vorliegend offensichtlich nicht auf die Entscheidung in der Sache auswirken und wäre damit auf Grundlage der Annahme, dass die Anwendung des § 46 VwVfG NRW grundsätzlich auch auf die Entziehung der Fahrerlaubnis vorbereitende Maßnahmen im Hinblick auf die streitgegenständliche Entziehung selbst Anwendung findet,
60vgl. BVerwG, Urteil v. 17. November 2016 - 3 C 20/15, juris Rn. 29 zur Gutachtenanordnung im Zusammenhang mit § 11 Abs. 6, Abs. 8 FeV; vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23. Juni 2020 - 9 K 724/20 – juris Rn. 69,
61unerheblich. Denn wäre die Antragsgegnerin statt von sechs von acht Punkten ausgegangen, hätte sie in jedem Fall eine Verwarnung auszusprechen gehabt, vgl. § 4 Abs. 6 Satz 2 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG. Es wäre infolgedessen, wie dargelegt, auch nicht zu einer Punktereduktion nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG gekommen. Da es sich bei der Verwarnung wie bei der Entziehung der Fahrerlaubnis um gebundene Entscheidungen handelt, kann die Antragsgegnerin unabhängig von einer unvollständigen Auflistung - auch im weiteren Verfahren - nicht von der Berücksichtigung eines berücksichtigungsfähigen Punktes absehen.
62Die Verwarnung enthielt nach § 4 Abs. 5 Sätze 2 und 3 StVG die zutreffenden Hinweise auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar, die jedoch zu keinem Punktabzug führen. Die Antragsgegnerin informierte den Antragsteller zudem darüber, dass bei Erreichen von acht Punkten die Fahrerlaubnis entzogen wird.
63Nachdem die Antragsgegnerin durch Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 10. Januar 2020 Kenntnis von den weiteren Zuwiderhandlungen vom 15. Mai 2019 und vom 7. Oktober 2019 sowie durch Mitteilung vom 9. Mai 2020 von der Zuwiderhandlung vom 18. Februar 2020 erlangt und der Antragsteller im Ergebnis neun Punkte erreicht hatte, entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit dem hier gegenständlichen Bescheid vom 21. August 2020 die Fahrerlaubnis. Dass nach der Begehung der Zuwiderhandlungen vom 15. Mai 2019 und vom 7. Oktober bereits Maßnahmen – die Ermahnung vom 29. August 2019 und die Verwarnung vom 8. November 2019 – ergriffen wurden, steht einer Berücksichtigung der Zuwiderhandlungen bei der Berechnung des Punktestandes nicht entgegen, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG.
64Durch die Zuwiderhandlung vom 15. Mai 2019 ergaben sich auf Grundlage der Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 10. Januar 2020 bereits neun verwertbare Punkte. Durch Tilgung eines Punktes am 28. August 2019 fiel der Punktestand auf acht und stieg dann durch die Zuwiderhandlung vom 7. Oktober 2019 wieder auf neun Punkte an. Bereits deshalb war der Antragsteller fahrungeeignet und die Fahrerlaubnis auf Grund der Mitteilung vom 10. Januar 2020 gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG zu entziehen. Hinsichtlich dieses Punktestandes, der für sich genommen die Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheides trägt, haben späteren die Tilgungen vom 4. Januar 2020 und vom 11. Juni 2020 unberücksichtigt zu bleiben (§ 4 Abs. 5 Satz 7 StVG), weil die entsprechenden Eintragungen im Zeitpunkt des letzten Tattages, dem 7. Oktober, noch nicht zu tilgen waren und sie sich im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides vom 21. August 2020, nämlich am 28. August 2020, in der einjährigen Überliegefrist befunden haben und daher gemäß § 29 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 StVG zur Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Abs. 5 StVG zu verwerten waren.
65Dass die zur Begründung der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß dem Bescheid vom 21. August 2020 beigefügter Auflistung aufgeführten Zuwiderhandlungen (wegen des Fehlens der Zuwiderhandlung vom 19. August 2017) in Summe nur acht Punkte ergeben, ist unschädlich. § 41 Abs. 1 FeV findet auf die Entziehung der Fahrerlaubnis keine Anwendung. Die allgemeine Begründungspflicht gemäß § 39 Abs. 1 VwVfG NRW verlangt insbesondere nicht bei gebundenen Entscheidungen die objektive Fehlerfreiheit, sondern nur das Vorhandensein einer Begründung.
66Dass im Hinblick auf eine mögliche Einwirkung auf den Antragsteller vor Entziehung der Fahrerlaubnis jedenfalls die Verwarnung „ins Leere“ ging, weil der Antragsteller bereits zum Zeitpunkt der Verwarnung sämtliche Zuwiderhandlungen begangen hatte, die letztlich die Entziehung der Fahrerlaubnis tragen, führt zu keinem anderen Ergebnis.
67Denn nach der Neufassung des Straßenverkehrsgesetzes wollte der Gesetzgeber eine Abkehr von der Warn- und Erziehungsfunktion des Systems erreichen. Es kommt im neu gefassten Fahreignungsbewertungssystem nicht mehr darauf an, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit der Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Verstößen kommt. Unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten und für das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, kommt es vielmehr auf die Effektivität des Fahreignungs-Bewertungssystems an. Hat der Betroffene sich durch eine entsprechende Anhäufung von Verkehrsverstößen als ungeeignet erwiesen, ist er vom Verkehr ausgeschlossen. Die Maßnahmenstufen dienen nunmehr in erster Linie der Information des Betroffenen über den Stand im System. Der Hinweis auf eine in bestimmten Konstellationen – wie hier – ausbleibende Chance, sein Verhalten so zu verbessern, dass es zu keinen weiteren Maßnahmen kommt, kann in Abwägung mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit kein Argument dafür sein, über bestimmte Verkehrsverstöße hinwegzusehen und sie dadurch bei der Beurteilung der Fahreignung auszublenden.
68BT-Drucks 18/2775, S. 9 f.; BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21/15 –, juris Rn. 23; OVG NRW, Urteil vom 28. September 2017 – 16 A 980/16 –, juris Rn. 36 ff. m.w.N.; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 4 StVG Rn. 85 m.w.N. sowie zu einer vergleichbaren Konstellation VG Augsburg, Urteil vom 2. Dezember 2019 – Au 7 K 19.1412 –, juris Rn. 31 f.; vgl. VG Gelsenkirchen, Beschlüsse vom 9. Oktober 2020 – 9 L 727/20 –, juris Rn. 67 und 9 L 824/20 –, juris Rn. 55.
69Zudem hat sich im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Ordnungsverfügung vom 21. August 2020 auch in Ansehung der weiteren begangenen Zuwiderhandlungen durchgehend ein Punktestand von mindestens acht Punkten ergeben.
70Am 4. Januar 2020 wurde ein Punkt gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StVG getilgt, und der Punktestand fiel auf acht Punkte. Mit der Zuwiderhandlung vom 18. Februar 2020 stieg der Punktestand wieder auf neun. Es kommt wegen des bereits vorherigen Erreichens von acht bzw. neun Punkten auch ohne die Zuwiderhandlung vom 18. Februar 2020 nicht auf den Einwand des Antragstellers an, er habe diese, vor Ergehen des Bescheides vom 21. August 2020 zuletzt erfasste Zuwiderhandlung nicht begangen bzw. sie sei mangels Zustellung des Bußgeldbescheides nicht rechtskräftig geahndet worden.
71Hiervon unabhängig wäre der Einwand rechtlich unbeachtlich. § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG ebenso wie die inhaltsgleiche Bestimmung des § 2a Abs. 2 Satz 2 StVG eine Bindung der Fahrerlaubnisbehörde - und auch der die Entscheidung der Fahrerlaubnisbehörde überprüfenden Verwaltungsgerichte - an die rechtskräftige Ahndung der zu den jeweiligen Punktewerten führenden Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr an, ohne insoweit Ausnahmen zuzulassen. Diese gesetzlich angeordnete Bindungswirkung verwehrt den Fahrerlaubnisbehörden ebenso wie den Verwaltungsgerichten i.d.R. eine eigenständige Überprüfung der Richtigkeit der rechtskräftigen Entscheidung wegen des eintragungspflichtigen Verkehrsverstoßes.
72Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Januar 2006 - 16 B 2137/05 – juris Rn. 2; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 5. Februar 2013 – 10 S 2292/12 -, juris Rn. 4; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 27. Januar 2017 – 4 MB 3/17 -, juris Rn. 9; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 13. Dezember 2016 – 7 L 2706/16 -, juris Rn 13; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24. Januar 2017 – 9 K 6775/16 –, juris Rn. 35 f.
73Vorliegend ist die Entscheidung betreffend die Ordnungswidrigkeit vom 18. Februar 2020 nach summarischer Prüfung am 15. April 2020 rechtskräftig geahndet worden. Hiervon ist auf Grund der vorliegenden und für Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG gemäß § 4 Abs. 8 maßgeblichen Mitteilungen durch das Kraftfahrtbundesamt über die im Fahreignungsregister verzeichneten Eintragungen auszugehen. Dies schließt die hierfür zwingende Voraussetzung der ordnungsgemäßen Bekanntgabe des einschlägigen Bußgeldbescheides ein.
74Die Rechtskraft ist auch nach dem Vortrag des Antragstellers, der bislang einen Wiedereinsetzungsantrag lediglich gestellt hat, nicht durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 52 Abs. 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) i.V.m. §§ 44 ff. der Strafprozessordnung (StPO) durchbrochen. Entsprechend muss der Antragsteller den Bußgeldbescheid so lange gegen sich gelten lassen, wie die Rechtskraft dieser Entscheidung nicht durch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder eine Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens beseitigt ist.
75Vgl. zu diesem Gesichtspunkt OVG NRW, Beschluss vom 25. Juli 2017 – 16 B 432/17 –, juris Rn. 6; a.A. OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Januar 2009 – 12 ME 316/08 –, Rn. 8, juris.
76Mit dem Einwand, er habe die Ordnungswidrigkeit nicht begangen, dringt der Antragsteller jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt nach jeder Auffassung wegen der Bindung an die nach summarischer Prüfung rechtskräftige Entscheidung nicht durch.
77Allenfalls in Fällen evidenter inhaltlicher Unrichtigkeit könnte noch wegen des Gebots materieller Gerechtigkeit im Einzelfall eine Abweichung von dieser Bindungswirkung in Betracht gezogen werden.
78Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2013 - 16 B 904/13 -, juris Rn. 4 ff., sowie ausführlich VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 20. Dezember 2016 - 9 L 2647/16 -, juris Rn. 18 ff., jeweils m.w.N.; vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24. Januar 2017 – 9 K 6775/16 –, juris Rn. 38 f.
79Vorliegend sind – unabhängig davon, ob diesem Gedanken angesichts der strikten Bindung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG näherzutreten sein sollte – nach summarischer Prüfung keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich, die in Richtung einer evidenten Unrichtigkeit der Ahndung der Ordnungswidrigkeit deuten würden.
80Für eine von der zwingenden Rechtsfolge des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG, der Entziehung der Fahrerlaubnis, abweichende Einzelfallbetrachtung ist nach der eindeutigen gesetzlichen Regelung kein Raum.
81Es liegen schließlich keine Umstände vor, die hier ausnahmsweise trotz der fehlenden Erfolgsaussichten des Antragstellers in der Hauptsache ein überwiegendes Aussetzungsinteresse begründen könnten. Die vom Antragsteller ausgehende Gefährdung des Straßenverkehrs aufgrund seiner nach dem Fahreignungsbewertungssystem feststehenden Fahrungeeignetheit lässt es auch in Ansehung etwaiger beruflicher und privater Nachteile nicht zu, diese bis zur Entscheidung in der Hauptsache hinzunehmen.
82Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 22. Mai 2012 – 16 B 536/12 –, juris Rn. 33 m.w.N.; BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Juli 2007 – 1 BvR 305/07 –, juris Rn. 6.
83Ermächtigungsgrundlage der Zwangsgeldandrohung sind §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nr. 2, 60 und 63 Verwaltungsvollstreckungsgesetz NRW (VwVG NRW). Einer Anhörung bedurfte es gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW nicht. Die Höhe des jeweils angedrohten Zwangsgeldes ist angesichts der drohenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit verhältnismäßig. Sie erscheint erforderlich und angemessen, um einen wirtschaftlich Handelnden in der Position des Antragstellers zur Abgabe des Führerscheins zu veranlassen.
84Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
85Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 2 und 3 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Dabei orientiert sich das Gericht in Anlehnung an die Streitwertpraxis des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen bei der Streitwertbemessung in Hauptsacheverfahren, die die Entziehung oder Erteilung einer Fahrerlaubnis betreffen, nach § 52 Abs. 1 und 2 GKG grundsätzlich am gesetzlichen Auffangwert. Die mit dem Grundverwaltungsakt verbundene Zwangsgeldandrohung wirkt nach Ziffer 1.7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht streitwerterhöhend. Die erhobene Verwaltungsgebühr bleibt im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes außer Betracht, weil bei verständiger Würdigung des Rechtsschutzbegehrens nicht davon auszugehen ist, dass der Antragsteller sich entgegen § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO, ohne einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde gestellt zu haben, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Gebührenfestsetzung beantragen wollte. Für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist der sich für die Hauptsache ergebende Wert von 5.000,00 € nach Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs auf die Hälfte zu reduzieren.
86Rechtsmittelbelehrung:
87Gegen den Beschluss zu 1. steht den Beteiligten die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu.
88Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV, bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen. Sie ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV, einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
89Im Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss zu 2. muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.
90Gegen den Beschluss zu 2. findet innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
91Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a
92VwGO und der ERVV, bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einzulegen. Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.
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