Urteil vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 17 K 4838/20
Tenor
Es wird festgestellt, dass die Ingewahrsamnahme der Kläger durch Beamte des Polizeipräsidiums S. in der Nacht vom 1. Februar 2020 auf den 2. Februar 2020 rechtswidrig gewesen ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
1
Tatbestand:
2Die Kläger begehren die Feststellung der Rechtswidrigkeit ihrer polizeilichen Ingewahrsamnahme.
3Nachdem das Polizeipräsidium S. am Abend des 31. Januar 2020 Hinweise darauf erhalten hatte, dass sog. Klimaaktivisten, u.a. aus der bereits im Hambacher Forst aktiven Gruppierung „Ende Gelände“, beabsichtigten, in den frühen Morgenstunden des 2. Februar 2020 auf dem Gelände des Steinkohlekraftwerks Datteln 4 in Datteln eine Protestaktion durchzuführen, wurden im Rahmen einer sogenannten besonderen Aufbauorganisation (BAO) polizeiliche Aufklärungskräfte im Umfeld des Steinkohlekraftwerks eingesetzt. Am 1. Februar 2020 um 23:17 Uhr wurden die Kläger in unmittelbarer Nähe des Kraftwerkbereichs auf der M.--------straße in X. von Polizeikräften in einem Pkw mit auswärtigem Kennzeichen (°° für N°°°°°°°) angetroffen und kontrolliert. Auf Nachfrage der Beamten gaben die Kläger an, dass man auf dem Weg zu Freunden in X. sei, die man aber namentlich nicht benennen wolle, um niemanden mit „reinzuziehen“. Im Fahrzeug befand sich neben Schlafsäcken und Lebensmitteln ein großer Rucksack mit Wechselkleidung. In der Oberbekleidung des Klägers zu 1., der nach den Feststellungen des Beamten ebenso wie der Kläger zu 3. wetterfeste Kleidung und Wanderschuhe trug, fanden die Beamten eine Stirnlampe. Eine Identitätsfeststellung und ein Abgleich mit polizeilichen Datenbanken ergab, dass die Klägerin zu 2. und der Kläger zu 3. dem in N°°°°°°° ansässigen Institut für U. und Q. zuzurechnen waren, welches nach polizeilichen Erkenntnissen eine Nähe zur Bewegung „Ende Gelände“ aufweise und Hinweise auf Teilnahme an einer Störaktion zum Nachteil eines Industrieunternehmens vorlagen. Während der Durchsuchung des Fahrzeugs stellten die Polizeibeamten auf dem Handy des Klägers zu 3. eine Textnachricht mit dem Wortlaut „Viel Erfolg“ fest. Zur Verhinderung der Begehung von Straftaten wurden die Kläger in Gewahrsam genommen und am 2. Februar 2020 gegen 1.45 Uhr in das Polizeipräsidium S. eingeliefert.
4Mit an das Amtsgericht S. gerichtetem Faxschreiben beantragte das Polizeipräsidium am Morgen des 2. Februar 2020 gegen 6:00 Uhr eine Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung. Ausweislich eines Vermerks der zuständigen Amtsrichterin vom 2. Februar 2020 bat diese in einem am selben Tag gegen 6.30 Uhr mit einem Beamten des Polizeipräsidiums S. geführten Telefongespräch um nähere Angaben zur aktuellen Lage vor Ort. Ausweislich des genannten amtsrichterlichen Vermerks meldete sich anschließend das Polizeipräsidium mehrfach telefonisch zurück und gab dabei u.a. an, dass sich ca. 100 Personen aus dem linken Spektrum vor Ort versammelt und das Gelände um das Kraftwerk besetzt hätten. Die Amtsrichterin ordnete sodann mündlich in einem mit einem Beamten des Polizeipräsidiums S. geführten Telefongespräch an, dass die Kläger um 9:00 Uhr aus dem polizeilichen Gewahrsam zu entlassen seien.
5Am 11. Februar 2020 haben die Kläger beim Amtsgericht S. jeweils beantragt festzustellen, dass ihre Ingewahrsamnahme rechtswidrig gewesen sei. Ausweislich der vergebenen Registerzeichen wurden die Verfahren vom Amtsgericht als allgemeine Zivilsachen geführt (Az. °° C °°/°°, °° C °°/°° und °° C °°/°° AG S. ). Nachdem der Prozessbevollmächtigte der Kläger angefragt hatte, ob im Verfahren betreffend die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung ein Beschluss vorliege, teilte die Berichterstatterin mit Verfügung vom 18. März 2020 (Bl. 31 GA) mit, dass „eine über den bereits vorliegenden Vermerk hinausgehende förmliche Entscheidung“ nicht ergangen sei und bat gleichzeitig um Mitteilung, sofern eine Beschwerde nach § 58 Abs. 1 FamFG oder ein anderer Rechtsbehelf beabsichtigt sei; der Antrag vom 11. Februar 2020 werde als Feststellungsklage gewertet.
6Jeweils mit Schriftsätzen vom 3. April 2020 legten die Kläger sodann beim AG S. „gegen die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung am 02.02.2020 Beschwerde ein“. Die Verfahren wurden beim AG S. unter den Aktenzeichen °° °°° °°/°°, °° °°° °°/°° und °° °°° °°/°° (als Beschwerdeverfahren nach FamFG, vgl. Bl. 32 GA) geführt. Mit Schriftsätzen vom 18. Juli 2022 haben die Kläger diese Beschwerden zurückgenommen. Eine Entscheidung des Amtsgerichts über die Beschwerden war bis dahin nicht ergangen. Auf die in den Verfahrensakten enthaltenen Vermerke des Berichterstatters RAG C. jeweils vom 14. September 2020 wird insoweit Bezug genommen.
7Mit Beschlüssen vom 16. Juli 2020 hat das AG S. die Verfahren °° C °°/°°, °° C °°/°° und °° C °°/°° zunächst an das Verwaltungsgericht N°°°°°°° und auf die sofortigen Beschwerden der Kläger mit Beschlüssen vom 15. Oktober 2020 an das erkennende Gericht verwiesen, wo sie unter den Aktenzeichen 17 K 4838/20 (Kläger zu 1.), 17 K 4839/20 (Kläger zu 3.) und 17 K 4840/20 (Klägerin zu 2.) geführt wurden. Die Kammer hat die Verfahren in der mündlichen Verhandlung zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
8Die Kläger führen zur Begründung ihrer Klage aus, aufgrund der Bindungswirkung des amtsgerichtlichen Verweisungsbeschlusses sei nunmehr durch das Verwaltungsgericht eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Für die Prüfung der Zulässigkeit des Rechtsweges sei kein Raum mehr.
9Die Kläger seien am 1. Februar 2020 nach Datteln gefahren, um eine für den nächsten Tag geplante Aktion von Klimaschutzaktivisten zu beobachten. Die Kläger zu 2. und 3. seien Mitarbeiter des Instituts für U. und Q. in N°°°°°°°, die vom Kläger zu 1. am fraglichen Tag begleitet worden seien. Auf dem Weg zur vorgesehenen Unterkunft sei man zum Kraftwerksgelände gefahren, wo bereits ein beträchtliches Polizeiaufgebot zusammengezogen worden sei. Sie seien in Gewahrsam genommen worden, ohne dass ihnen mitgeteilt worden sei, welche konkreten Straftaten man befürchtet habe. Tatsächlich hätten sie keinerlei Straftaten geplant. Erst am 2. Februar 2020 gegen etwa 10.00 Uhr habe man das Polizeipräsidium verlassen können.
10Die Voraussetzungen für eine Ingewahrsamnahme nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW hätten nicht vorgelegen. Es habe an tatsächlichen Anhaltspunkten dafür gefehlt, dass die Begehung von Straftaten durch die Kläger unmittelbar bevorgestanden habe. Die Kläger hätten weder irgendeine Straftat angekündigt noch Gegenstände mit sich geführt, mit denen Straftaten hätten begangen werden können. Die sich aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK bzw. der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG ergebenden Anforderungen für die Zulässigkeit präventiven Gewahrsams seien nicht beachtet worden. Ihnen sei nicht eröffnet worden, die Begehung welcher Straftaten aus Sicht der Polizei unmittelbar bevor gestanden habe. Es habe auch an irgendwelchen eindeutigen und aktiven Schritten der Kläger gefehlt, die darauf hätten hindeuten können, dass sie Straftaten begehen werden. Die Ingewahrsamnahme sei auch nicht unerlässlich i.S.d. § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW gewesen. Ein Platzverweis hätte ausgereicht.
11Die Kläger beantragen,
12festzustellen, dass ihre Ingewahrsamnahme in der Nacht vom 1. Februar 2020 auf den 2. Februar 2020 rechtswidrig gewesen ist.
13Der Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Die Klage sei bereits unzulässig, da eine amtsrichterliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme vorliege und daher nach der Rechtsprechung des OVG NRW für eine nachträgliche Feststellung der Rechtmäßigkeit durch das Verwaltungsgericht kein Raum sei. Gegen diese amtsrichterliche Entscheidung richte sich offensichtlich auch die von den Klägern am 2. Februar 2020 beim Amtsgericht erhobene Beschwerde. Aufgrund der damit vorliegenden doppelten Rechtshängigkeit sei die vorliegende Klage unzulässig.
16Die fragliche Ingewahrsamnahme der Kläger sei auf der Grundlage des § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW rechtmäßig gewesen. Die zurückliegenden Protestaktionen unterschiedlicher Gruppen von Klimaaktivisten im Hambacher Forst, u.a. der Gruppierung „Ende Gelände“, hätten zu einem der größten Polizeieinsätze in der Nachkriegsgeschichte geführt. Es sei dort wiederholt zu Straftaten (Hausfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung) gekommen. Bagger und Kohleförderbänder seien besetzt worden. Nachdem entschieden worden sei, dass das Kohlekraftwerk Datteln 4 im Sommer 2020 ans Netz gehen sollte, sei durch Vertreter diverser Gruppierungen, teilweise mit Bezug zur Besetzung des Hambacher Forstes, in sozialen Medien zum Protest aufgerufen worden. Man habe glaubhafte Informationen erhalten, dass am Morgen des 2. Februar 2020 eine medienwirksame Protestaktion auf dem Kraftwerksgelände geplant gewesen sei. Tatsächlich sei das Kraftwerk in den Morgenstunden des 2. Februar 2020 von 102 Personen besetzt worden.
17Es sei im Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme der Kläger angesichts der konkreten „Auffindesituation“ eindeutig erkennbar gewesen, dass diese unmittelbar davor gestanden hätten, rechtswidrig in das Kraftwerksgelände einzudringen und den Betrieb zu stören. Die Verwirklichung der Straftatbestände Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Störung öffentlicher Betriebe habe verhindert werden müssen. Die Einlassung der Kläger, das Geschehen nur beobachten zu wollen, sei als Schutzbehauptung zu werten. Eine Anreise am Vorabend des Geschehens mache bei einer bloßen Absicht, dieses zu beobachten, kaum Sinn. Die Nähe der Kläger zur Bewegung „Ende Gelände“ und die Beteiligung der Kläger zu 2. und 3. an einer gegen die Firma S1. gerichteten Störaktion im Mai 2019 belege, dass diese vor Hausfriedensbrüchen nicht zurückschrecken würden. Die Nachricht „Viel Erfolg“ auf dem Handy des Klägers zu 3. unterstreiche ebenso wie die mitgeführten Gegenstände und die „szenetypische“ Bekleidung der Kläger, dass man sich nicht als Beobachter, sondern als aktiver Teil der Störaktion vor Ort aufgehalten habe. Den Klägern sei bei ihrer Ingewahrsamnahme auch erläutert worden, was ihnen zur Last gelegt werde. Ein Platzverweis wäre weniger effektiv und angesichts der örtlichen Verhältnisse kaum durchzusetzen gewesen.
18Hinsichtlich der Klagen der Kläger gegen das gegen sie am 2. Februar 2020 durch das Polizeipräsidium S. jeweils verfügte Aufenthaltsverbot wird auf die Verfahren °° K °°°/°° (L. ), °° K °°°/°° (M1. ) und °° K °°°/°° (M2. ) verwiesen. Dem von der Klägerin zu 2. gegen das Verbot gerichteten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat die erkennende Kammer mit Beschluss vom 14. Februar 2020, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, stattgegeben (°° L °°°/°°).
19Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Polizeipräsidiums S. sowie die Gerichtsakten des Amtsgerichts S. (°° °°° °°/°°, °° °°° °°/°° und °° °° °°/°°) Bezug genommen.
20E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
21Die Klage hat Erfolg.
22Die Klage ist zulässig.
23Für die Prüfung der Zulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges nach § 40 Abs. 1 VwGO ist wegen der Verweisungsentscheidung des Amtsgerichts S. kein Raum mehr. Die Verweisung ist bindend (§ 17a Abs. 2 S. 3 GVG). Etwas anderes könnte nur bei einer willkürlichen Verweisungsentscheidung des Amtsgerichts angenommen werden, für das die Kammer indes keine Anhaltspunkte sieht.
24Die Frage einer unzulässigen doppelten Rechtshängigkeit der Sache (§ 17 Abs. 1 S. 2 GVG) wegen der von den Klägern beim Amtsgericht S. eingeleiteten Beschwerdeverfahren nach dem FamFG stellt sich schon deshalb nicht, weil die Kläger ihre Beschwerden inzwischen zurückgenommen haben. Im Übrigen ist zur Klarstellung auszuführen, dass Vieles dafür spricht, dass bei sachgerechter Bewertung der unter dem 11. Februar 2020 gestellten Feststellungsanträge bereits diese als Beschwerden nach §§ 58, 62 FamFG hätten aufgefasst werden können und somit die danach unter dem 3. April 2020 ausdrücklich als solche erhobenen und auf dasselbe Rechtsschutzziel gerichteten und nunmehr zurückgenommenen Beschwerden dem Einwand der doppelten Rechtshängigkeit ausgesetzt waren.
25Der vom Prozessbevollmächtigten des Beklagten in der mündlichen Verhandlung geltend gemachte Einwand, die beim Amtsgericht erhobenen Feststellungsklagen seien von vornherein unzulässig gewesen – als Rechtsmittel sei allein die Beschwerde nach dem FamFG in Betracht gekommen – und an dieser Unzulässigkeit habe sich nach Verweisung an das Verwaltungsgericht nichts geändert, greift nicht durch. Das vorliegende nunmehr den Regelungen der VwGO unterliegende Klageverfahren ist im allein maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, wie im Folgenden weiter zu zeigen sein wird, als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig. Auf lediglich im Zeitpunkt der Klageerhebung etwaig vorliegende Zulässigkeitsmängel kommt es nicht an.
26Die Klage ist auch im Übrigen nach Erledigung der polizeilich gegen die Kläger angeordneten Ingewahrsamnahme als Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO zulässig. Die Kläger haben wegen des hohen Wertes des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, in das durch die fragliche Ingewahrsamnahme tiefreichend eingegriffen worden ist, nach ständiger Rechtsprechung ein fortwährendes Rechtsschutzinteresse an einer gerichtlichen Sachentscheidung über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs.
27Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Dezember 2011 - 5 A 1045/09 -, juris Rdnr. 31.
28Die Klage ist auch begründet. Die Kläger sind in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 2020 zu Unrecht von Polizeibeamten in Gewahrsam genommen worden.
29An dieser Prüfung ist das Gericht nicht etwa deshalb gehindert, weil das Amtsgericht S. über die Zulässigkeit (und Fortdauer) der Freiheitsentziehung im Rahmen seiner sich aus § 36 PolG NRW ergebenden Zuständigkeit bereits entschieden hat und diese Entscheidung durch Rücknahme der dagegen von den Klägern erhobenen Beschwerden Rechtskraft erlangt haben könnte. Offen bleiben kann zudem, ob die am 2. Februar 2020 allein mündlich und ohne Anhörung der Kläger ergangene amtsrichterliche Entscheidung, die nicht in einem förmlichen Beschlusss (vgl. § 38 FamFG), sondern allein in einem von der Amtsrichterin gefertigten Vermerk schriftlich festgehalten worden ist, überhaupt eine der Rechtskraft zugängliche Entscheidung darstellt. Eine das Gericht für die hier streitgegenständliche Frage bindende Wirkung käme der „Entscheidung“ wegen ihres rein exekutivistischen Charakters jedenfalls nicht zu.
30Vgl. dazu, dass das Tätigwerden des Amtsgerichts nach § 36 PolG NRW keine spruchrichterliche Tätigkeit, sondern vielmehr die Ausübung vollziehender Gewalt darstellt: Bastek in: Möstl/Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen, Kommentar, § 36 PolG , Rdnr. 47; Rachor in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage, Kap. L, Rdnr. 43 ff. u.a. unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02 -, juris.
31Es kann in der vorliegenden Fallgestaltung daher nicht ernstlich bezweifelt werden, dass die Kläger zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes einen Anspruch darauf haben, den erfolgten Eingriff in ihre Grundrechte spruchrichterlich unter Wahrung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör in einem förmlichen Verfahren überprüfen zu lassen.
32Die Voraussetzungen des hier allein in Betracht kommenden § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW lagen im maßgeblichen Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme nicht vor. Nach dieser Vorschrift kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.
33Die Wendung „unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit“ ist vor dem Hintergrund des hohen Ranges der Freiheit der Person zu verstehen. Zu den Belangen des Gemeinwohls, gegenüber denen die Freiheit des Einzelnen unter Umständen zurücktreten muss, gehört der Schutz der Allgemeinheit und Einzelner vor mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Straftaten. Der Begriff „unmittelbar bevorstehend“ ist gleichzusetzen mit „unmittelbar bevorstehende Gefahr“ oder „gegenwärtige Gefahr“. Hieraus ergeben sich besondere Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts. Darüber hinaus stellt der Begriff im Regelfall strengere Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad. Demgemäß müssen nachvollziehbare, bestimmte Tatsachen vorliegen, die die Annahme begründen, dass der Schaden sofort oder in allernächster Zeit und zudem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Bloße Vermutungen, vage Verdachtsgründe und ähnliches reichen hierfür nicht.
34Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Dezember 2011 - 5 A 1045/09 -, juris, Rdnr. 37 m.w.N. zur insoweit gleichlautenden Vorschrift des § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG.
35Es ist bereits fraglich, ob die Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts hier vorlagen. Nach den im maßgeblichen Zeitpunkt der Anordnung der streitigen Maßnahme der Polizei vorliegenden Informationen sollte die befürchtete Aktion von Klimaaktivisten in den frühen Morgenstunden des 2. Februar 2020 stattfinden. Zwischen der gegen Mitternacht erfolgten Ingewahrsamnahme der Kläger und dem befürchteten Schadenseintritt lagen mithin mehrere Stunden. Von daher unterliegt die Annahme des Beklagten, die Begehung von Straftaten habe unmittelbar bevorgestanden, gewissen Zweifeln, denen das Gericht jedoch nicht weiter nachgehen muss, wie sich aus den folgenden Erwägungen ergibt.
36Es kann jedenfalls nicht festgestellt werden, dass der hier fragliche Schaden in Gestalt der Begehung von Straftaten durch die Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten war. Es fehlt an hinreichenden Tatsachen, die dem Erfordernis dieses erhöhten Wahrscheinlichkeitsmaßstabes gerecht werden. Bereits in ihrem Beschluss vom 14. Februar 2020 (Az.: °° L °°°/°°) im Eilverfahren der Klägerin zu 2. betreffend die Vollziehbarkeit des gegen diese verfügten Aufenthalts- und Betretungsverbotes hat die Kammer die im Rahmen des § 34 Abs. 2 PolG NRW anzustellende polizeiliche Gefahrenprognose für voraussichtlich verfehlt erachtet und sogar eine hinreichende Wahrscheinlichkeit,
37also für einen im Vergleich zur Gefahrenprognose, die im Rahmen des § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW anzustellen ist, verminderten Wahrscheinlichkeitsgrad,
38für die Annahme, dass die Begehung von Straftaten zu befürchten waren, in Zweifel gezogen. Diese Bewertung macht sich das Gericht nach erneuter Prüfung auch im Rahmen der hier anzustellenden Gefahrenprognose nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW zu Eigen. Die Situation, in der die Kläger in einem Pkw mit auswärtigem Kennzeichen in unmittelbarer Nähe zum Kraftwerk Datteln 4 in den Abendstunden des 1. Februar 2020 um 23:17 Uhr angetroffen wurden, lässt einen tragfähigen Rückschluss auf von diesen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geplante Straftaten nicht zu. Die im Fahrzeug bzw. bei den Klägern vorgefundenen Gegenstände (Schlafsäcke, Lebensmittel, Stirnlampe) lassen ebenso wie ihre Bekleidung oder die auf dem Handy des Klägers zu 3. vorgefundene Nachricht („Viel Erfolg“) zwar durchaus den Schluss zu, dass sie seinerzeit wegen der geplanten Protestaktion von Klimaaktivisten angereist waren. Das stellen die Kläger auch nicht in Abrede, wenn sie vortragen, sie hätten die Protestaktion beobachten wollen. Für eine Beteiligung der Kläger an strafbaren Handlungen im Rahmen der Aktion geben die soeben beschriebenen Umstände indes nichts Hinreichendes her. An dieser Bewertung ändert sich auch dadurch nichts, wenn man in Rechnung stellt, dass den handelnden Beamten im maßgeblichen Zeitpunkt der Anordnung der Ingewahrsamnahme die Information vorlag, dass die Kläger dem linken politischen Spektrum angehören und „einer“ der Kläger,
39vgl. die dem Amtsgericht vorgelegte Begründung des Polizeipräsidiums S. im Rahmen des Antrages auf gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehungen vom 2. Februar 2020 (Bl. 13 BA 1),
40„bei einer Störaktion von einem Kraftwerk“ bereits in Erscheinung getreten sein soll. Erkenntnisse über einschlägige Vorstrafen der Kläger lagen (und liegen) nicht vor. Vor diesem Hintergrund stellt auch die vom Beklagten hervorgehobene Nähe der Kläger zur Bewegung „Ende Gelände“ als solche keinen tragfähigen tatsächlichen Anhaltspunkt dafür dar, dass die Kläger am 2. Februar 2020 im Zusammenhang mit der Protestaktion gegen das Kraftwerk tatsächlich Straftaten begehen wollten. Die Gefahrenprognose der handelnden Polizeibeamten stützt sich letztlich auf bloße, nicht hinreichend tatsachengestützte Vermutungen. Darauf deutet nicht zuletzt die ersichtlich spekulative Erwägung in der oben zitierten Begründung zum Antrag auf gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehungen hin („Gegenstände, die für eine direkte Störaktion in Gebrauch genommen hätten werden können, wurden nicht aufgefunden. Dies spricht dafür, dass sie im Verlaufe der Nacht weitere Personen treffen wollten oder bereits im Vorhinein Gegenstände verdeckt abgelegt worden waren“).
41Schließlich war die Ingewahrsamnahme der Kläger auch nicht „unerlässlich“ im Sinne des § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW. Unerlässlich ist eine Ingewahrsamnahme als äußerstes Mittel der Gefahrenabwehr nicht bereits dann, wenn sie mangels milderer Mittel mit gleicher Eignung erforderlich ist, sondern nur dann, wenn die Gefahrenabwehr nur auf diese Weise möglich und nicht durch eine andere Maßnahme ersetzbar ist.
42Vgl. Bastek in: Möstl/Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen, Kommentar, § 35 PolG, Rdnr. 47; OVG NRW, Beschluss vom 8. Dezember 2011 - 5 A 1045/09 -, juris, Rdnr. 45 ff.
43Davon ausgehend spricht bereits einiges dafür, dass die Erteilung von Platzverweisen oder der Erlass von Meldeauflagen die Kläger weniger beeinträchtigende Maßnahmen dargestellt hätten, um die möglicherweise bevorstehenden Straftaten zu verhindern. Jedenfalls genügt die Ingewahrsamnahme der Kläger nicht den strengen Anforderungen aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. b EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung,
44vgl. EGMR, Urteil vom 7. März 2013 - 15598/08 -, juris; BVerfG, Beschluss vom 18. April 2016 - 2 BvR 1833/12 u.a. -, juris.
45die im Rahmen der Prüfung des Erfordernisses der Unerlässlichkeit zu berücksichtigen sind.
46Vgl. Tegtmeyer/Vahle, Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen, Kommentar, 12. Auflage, § 35 Rdnr. 9.
47Danach erfordert die Rechtmäßigkeit des Unterbindungsgewahrsams u.a., dass sich der Betroffene unwillig gezeigt hat, die befürchtete Straftat zu unterlassen. Der Betroffene muss, nachdem er auf die konkret zu unterlassende Handlung hingewiesen worden ist, eindeutige und aktive Schritte unternommen haben, die darauf hindeuten, dass er der konkretisierten Verpflichtung nicht nachkommen wird. Zumindest am Letzteren fehlt es hier. Selbst wenn man unterstellt, was die Kläger allerdings bestreiten, dass sie auf die konkret zu unterlassenden Handlungen zur Vermeidung der Verwirklichung von Straftatbeständen hingewiesen worden sind, mangelt es hier an einem entsprechenden aktiven und eindeutigen Verhalten, das darauf hingedeutet hätte, dass die Kläger ihrer Verpflichtung, keine Straftaten zu begehen, nicht erfüllen würden, zumal sich die Kläger bei der gesamten Polizeiaktion kooperativ verhalten hatten. Sie hatten insbesondere nicht unmittelbar zuvor Aktionen oder gar Straftaten begangen, aus denen tragfähig Rückschlüsse dahingehend hätten gezogen werden können, dass sie der Verpflichtung zur Unterlassung strafbarer Handlungen nicht nachkommen.
48Die Kostenentscheidung beruht auf 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
49Rechtsmittelbelehrung:
50Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
511. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
522. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
533. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
544. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
555. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
56Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen.
57Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.
58Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.
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