Urteil vom Verwaltungsgericht Greifswald (3. Kammer) - 3 A 244/16 As HGW

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 20.07.2015 (Az.: 5771068 - 423) verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

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Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger und stammt aus Parwan. Er reiste nach eigenen Angaben im Juni 2014, zuletzt auf dem Landweg, in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 25.06.2014 seine Anerkennung als Asylberechtigter.

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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge traf gegenüber dem Kläger mit Bescheid vom 20.07.2015, zugestellt am 24.07.2015, folgende Entscheidung:

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1. „Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt.
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2. Der Antrag auf Asylanerkennung wird abgelehnt.
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3. Der subsidiäre Schutzstatus wird nicht zuerkannt.
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4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes liegen nicht vor.
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5. Der Antragsteller wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung endet die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Sollte der Antragsteller die Ausreisefrist nicht einhalten, wird er in die Islamische Republik Afghanistan abgeschoben. Der Antragsteller kann auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist.“
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Der Kläger hat am 06.08.2015 Klage erhoben.

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Zur Begründung trägt er vor, er sei in eine Familienfehde involviert, die ihren Ausgang vor mehr als 20 Jahren genommen habe. Diese Fehde, in der es ursprünglich um Grundstücksstreitigkeiten gegangen sei, werde vom Prinzip der Blutrache bestimmt. Etwa vor zehn Jahren habe ein Kommandant, der zur gegnerischen Partei gehört habe, seinen Vater getötet. Nun trachte ein Neffe dieses Kommandanten auch nach seinem Leben. Als er, der Kläger, aus Schweden nach Afghanistan zurückgekehrt sei, habe er sich einer bewaffneten Sicherheitseskorte angeschlossen, auch um vor Nachstellungen geschützt zu sein. Arbeitgeber sei die afghanische Firma Haji Homayoon Akhtari gewesen. Sie hätten als Teil einer Lieferkette Waren wie Lebensmittel und Benzin zu den Amerikanern nach Kandahar gebracht, wo sie einer anderen Sicherheitseskorte übergeben worden seien. Sie seien selbst nicht autorisiert gewesen, die Waren direkt an die Amerikaner zu liefern. Während seiner Tätigkeit sei es immer wieder zu bewaffneten Konflikten mit den Taliban gekommen. Als die Sicherheitseskorte aufgelöst worden sei, habe er damit den erforderlichen Schutz verloren. Als ein Bekannter getötet worden war, habe er Angst bekommen. Auch fürchte er wegen seiner Tätigkeit Repressalien durch die Taliban. Die Beklagte konstruiere in der Begründung des Bescheids eine präsumtive Unglaubhaftigkeit, ohne dafür eine Rechtfertigung in der Sache zu finden. Dass die Fehde ihren Ursprung in Ereignissen habe, die mehr als 20 Jahre zurücklägen, bedeute nichts. Habe der bezeichnete Kommandant seinen Vater getötet, liege es in der Logik der maßgeblichen Regeln, dass der Kommandant seine Rache zu fürchten habe und ihr zuvor kommen müsse. Seine, des Klägers, Tätigkeit, wirke sich nach dem Wegfall des durch die Umgebung einer Sicherheitseskorte gewährleisteten Schutzes gefahrerhöhend aus, da schon der Verdacht, jemand arbeite für Ausländer und sympathisiere sich mit ihnen, die Aufmerksamkeit der Aufständischen hervorrufen könne.

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In der mündlichen Verhandlung am 31.08.2016 ergänzte der Kläger seine Verfolgungsgeschichte. Er gab an, dass er durch die Taliban mit dem Tode bedroht worden sei. Sie hätten seinen Kollegen und dessen Familie getötet. Aus Sicht der Taliban seien alle, die mit den Amerikanern gearbeitet hätten, nicht nur Verräter, sondern auch Heiden. Die Taliban fühlten sich berechtigt, alles zu machen, weswegen er Angst bekommen habe. Er, der Kläger, habe bei einer bewaffneten Truppe gearbeitet, die einen Konvoi zu verteidigen gehabt habe. Die Bezahlung sei sehr gut gewesen. Sie seien in Gruppen zu 15 Personen tätig gewesen, um den Schutz der Konvois zu gewährleisten, dies an deren Anfang, Ende und in der Mitte. Er habe auch eine Waffe gehabt. Es habe diverse bewaffnete Auseinandersetzungen und Angriffe mit Magnetminen gegeben. Bei einem Vorfall auf dem Weg von Kabul nach Kandahar habe es bei einem Überfall sechs Tote gegeben, viele Fahrzeuge seien zerstört worden. Beinahe seien alle ums Leben gekommen, wenn nicht amerikanische Bomber eingegriffen hätten, die die Taliban angegriffen hätten. Ihr Kommandant habe die Amerikaner zu Hilfe geholt. Teilweise seien die Auseinandersetzungen von Kameraleuten gefilmt worden.

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Der Kläger beantragt,

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die Beklagte unter jeweils entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20.07.2015 – – zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen,

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hilfsweise,

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ihm subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen,

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hilfsweise,

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festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz in Bezug auf Afghanistan vorliegt.

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Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Die Beklagte bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

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Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 20.06.2016 zur Entscheidung auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.

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Auf eine Anfrage des Gerichts erfolgte eine schriftliche Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 07.10.2016.

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Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Akten dieses Verfahrens, den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten, auf die mit der Ladung übersandte Erkenntnisquellenliste des Gerichts zum Herkunftsland Afghanistan und auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 31.08.2016 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

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Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist. Darauf war sie in der Ladung hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]).

II.

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Die als Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO zulässig erhobene Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1.

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Der Kläger hat nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz des Asylgesetzes - AsylG -) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 Asylgesetz (AsylG).

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Der Kläger ist Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) [Genfer Konvention], wenn er sich (1.) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (2.) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder (b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

27

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

28

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten: (1.) die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, (2.) gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, (3.) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, (4.) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, (5.) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen, (6.) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind (§ 3a Abs. 2 AsylG).

29

Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).

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Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen vom Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten.

31

Bei der Prüfung der Bedrohung i.S.v. § 3 AsylG ist unabhängig von der Frage, ob der Schutz suchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits vorverfolgt, also auf der Flucht vor eingetretener bzw. unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat, oder ob er unverfolgt ausgereist ist, der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Dabei setzt die unmittelbar, also die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohende Verfolgung eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss (Verwaltungsgericht Oldenburg, Urt. v. 16.02.2016 – 3 A 6563/13 – juris).

32

Nach Art. 4 Abs. 4 der Neufassung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Abl. Nr. L 337 S. 9, sog. „EU-Flüchtlingsschutz-RL“) ist die Tatsache, dass der schutzsuchende Ausländer bereits verfolgt wurde oder er einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

33

Das Betroffensein eines Flüchtlings von politischer Verfolgung erfordert deshalb, dass er vor seiner Ausreise bereits politisch verfolgt war oder ihm eine Verfolgung unmittelbar bevorstand, sofern nicht stichhaltige Gründe gegen das Fortbestehen der fluchtbegründenden Umstände sprechen (Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urt. v. 21.02.2008 - 3 UE 191/07.A - juris).

34

Unverfolgt aus dem Heimatland Ausgereiste können Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG nur erlangen, wenn im Falle einer Rückkehr politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab entspricht der begründeten Furcht vor Verfolgung oder tatsächlichen Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, nach Art. 5 RL 2011/95/EU (vgl. zur vorherigen Regelung in Art. 5 RL 2004/83/EG: Bay. VGH, Urt. v. 31.08.2007 - 11 B 02.31724 - juris).

35

Ob die Voraussetzungen des § 3 AsylG erfüllt sind, richtet sich nach den Umständen im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 AsylG.

36

Aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflichten ist der Kläger gehalten, von sich aus die in seine eigene Sphäre fallenden tatsächlichen Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern sowie eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien nachvollziehbar aufzulösen. Sein Vortrag muss danach insgesamt geeignet sein, den Asylanspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.1983 - BVerwG 9 C 68.81 - juris; Hessischer VGH, Urt. v. 24.08.2010 - VGH 3 A 2049/08.A - juris). Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt dies entsprechend.

37

Maßgebend für die Beantwortung der Frage, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32; VG Potsdam, Urt. v. 11.03.2016 – VG 4 K 1242/15.A – S. 8). Dabei greift zugunsten eines Vorverfolgten bzw. in anderer Weise Geschädigten eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 19; VG Potsdam, aaO.).

38

Nach diesen Maßstäben hat der Kläger glaubhaft gemacht, dass er Afghanistan vorverfolgt verlassen hat oder ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine hinreichend erhebliche Verfolgung seitens des Staates oder privater Dritter droht. Die vom Kläger geltend gemachte Bedrohung in Bezug auf die Gefahr einer Blutrache stellt zwar bereits unabhängig von ihrem Vorliegen keine asylrelevante Verfolgung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar (hierzu nachfolgend a); vgl. VG Bayreuth, Urt. v. 01.04.015 - B 3 K 14.30472 -juris Rn. 26). Jedoch konnte der Kläger aufgrund seiner in Afghanistan ausgeübten beruflichen Tätigkeit glaubhaft machen, dass er in seinem Heimatland bedroht wurde oder im Falle der Rückkehr bedroht werden wird (hierzu nachfolgend b)).

39

a) Die vom Kläger vorgetragene Blutfehde gründet auf einer privaten Auseinandersetzung und knüpft nicht an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannte Merkmale an. Ursache der Blutfehde sei eine Landstreitigkeit vor 20 Jahren zwischen zwei Sippen gewesen. Es ist nicht ersichtlich, dass hierdurch ein Verfolgungsmerkmal der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllt wäre. Grundstücksstreitigkeiten knüpfen weder an eine religiöse oder politische Überzeugung an. Darüber hinaus gehört der Kläger aufgrund der Zugehörigkeit zu seiner Familie nicht einer bestimmten, abgrenzbaren sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an. Danach gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Es bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte dafür, dass die Familie des Klägers in diesem Sinne als andersartig betrachtet wird. Gegenteiliges ergibt sich für den vorliegenden Einzelfall auch nicht aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013. Auf Seite 80 der UNHCR-Richtlinien führt der UNHCR lediglich aus, dass je nach den Umständen des Einzelfalls für Personen, die in Blutfehden verwickelt sind, möglicherweise ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz besteht. Die konkreten Umstände des Einzelfalls rechtfertigen aber vorliegend aufgrund des nicht verfolgungsrelevanten Motivs nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. (vgl. auch VG Bayreuth, Urt. v. 01.04.015 - B 3 K 14.30472 -juris Rn. 26; VG München, Urt. v. 15.06.2015 – M 12 K 14.30589 juris Rn. 27).

40

b) Der Vortrag des Klägers im Hinblick auf seine Tätigkeit bei der Sicherheitseskorte lässt jedoch eine konkrete Verfolgungsgefahr durch die Taliban erkennen. Dieser Aspekt wurde von der Beklagten nicht geprüft; die Beklagte geht in ihrem Bescheid lediglich auf den Vortrag des Beklagten zur Blutrache nach einer Landstreitigkeit ein, nicht dagegen auf die Gefährdungssituation aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit. Nach Auffassung des Gerichts droht Mitarbeitern der in Afghanistan aktiv gewesenen oder aktiven ausländischen Streitkräfte eine Verfolgungsgefahr durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere Taliban (VG Greifswald, Urt. v. 30.06.2016 – 3 A 379/16 As – S. 9). Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass diese Personen eine besondere Risikogruppe darstellen. Danach greifen regierungsfeindliche Kräfte Zivilisten, die für die internationalen Streitkräfte gearbeitet haben, an und bedrohen diese. Betroffen sind dabei sowohl Personen, die mit den internationalen Schutztruppen zusammengearbeitet haben, als auch solche, die in Kontakt zu den nationalen Sicherheitskräften standen. Sie werden der Spionage verdächtigt. Es ist eine Vielzahl von Fällen dokumentiert, in denen regierungsfeindliche Kräfte Personen, die der Zusammenarbeit mit regierungstreuen Kräften verdächtigt wurden, ermordet oder verstümmelt haben (vgl. UNHCR, Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 38 f.). In seiner neuesten Stellungnahme geht der UNHCR weiterhin davon aus, dass Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, ein besonderes Risikoprofil aufweisen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender, 19. April 2016, Seite 1). Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt unter Bezugnahme auf Medienberichte aus, dass lokale Mitarbeitende der ausländischen Sicherheitskräfte, darunter Übersetzer oder Wachpersonal, von regierungsfeindlichen Gruppierungen bedroht und angegriffen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 13. September 2015, S. 17). Nach den Erkenntnissen des Gerichts beschränken sich derartige Übergriffe allerdings nicht ausschließlich auf die jeweiligen Mitarbeiter selbst. Stattdessen gehört es zu einem Grundsatz der Taliban, sowohl die von ihnen in ihrem politischen Kampf um die Macht in Afghanistan bekämpften Personen selbst, also die Mitarbeiter der internationalen Schutztruppen, als auch sogar deren Angehörige zum Ziel von Angriffen zu machen (vgl. VG München, Urt. v. 23.06.2015 – M 24 K 15.30012 –, juris Rn. 25; UNHCR, Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 39).

41

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Ausführungen des Klägers zu seiner Situation in Afghanistan glaubhaft. Der Kläger hat dargelegt, wie er und seine Kollegen durch ihre Tätigkeit bei der die Amerikaner unterstützenden Firma Angriffen der Taliban ausgesetzt waren. Einer seiner Kollegen und dessen Familie wurden bereits durch die Taliban getötet. Der Kläger hat geschildert, dass die Taliban der Auffassung seien, dass Personen, die mit den Amerikanern zusammenarbeiten, als Verräter angesehen werden. Aus Furcht hielt der Kläger sich bei seinem Onkel versteckt und verkaufte sein Haus. Diese Schilderungen entsprechen den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen. Der Umstand, dass Personen schon vor ihrer Ausreise in das Visier der Taliban geraten sind, führt dazu, dass bei einer Rückkehr eine erneute Verfolgung wahrscheinlich ist. Das durch die Flucht entstandene Misstrauen der Taliban wird durch einen Aufenthalt in der Bundesrepublik weiter verfestigt. Das hat zur Folge, dass bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der der Taliban eigenen Brutalität akute Lebensgefahr im ganzen Land besteht (VG Greifswald, Urt. v. 31.08.2016 – 3 A 344/16 As - AuAS 2016, 220/222; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 28.04.2016 – 5a K 4824/15.A – juris Rn. 46).

42

Auch wenn das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 07.10.2016 die konkreten Namen des Klägers oder der Firma, bei der er beschäftigt war, nicht ausfindig machen konnte, führt dieser Umstand nicht dazu, den Vortrag des Klägers in Frage zu stellen. Das Auswärtige Amt hat das Nichtauffinden der konkreten Angaben damit begründet, dass eine Nachverfolgung mangels Handelsregistern und ähnlichen Strukturen schwierig bis unmöglich sei.

43

Die oben dargestellten von den Taliban ausgehenden Handlungen stellen Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG dar.

44

Bei den Taliban handelt es sich schließlich auch um Verfolgungsakteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG, da der afghanische Staat erwiesenermaßen zumindest nicht in der Lage ist, effektiven Schutz vor Verfolgung zu bieten (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand November 2015, S. 4, UNHCR, a.a.O., S. 82 f.).

45

Gründe, die der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegenstehen, sind nicht ersichtlich. Insbesondere zeigt sich nicht, dass dem Kläger eine Fluchtalternative (§ 3e Abs. 1 AsylG) zur Verfügung stehen würde. Nach Auffassung des Gerichts besteht im gesamten Staat Afghanistan kein relevanter Zufluchtsort, an dem dem Kläger Schutz vor der hier in Rede stehenden Verfolgung geboten würde. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger andernorts in Afghanistan, auch nicht in der Hauptstadt Kabul, vor Nachstellungen durch die Taliban sicher ist. Dies ergibt sich aus den Erkenntnissen des Gerichts, wonach die Taliban auch in Kabul Personen aufspüren können, da sie dort über Informationsnetzwerke verfügen (VG Greifwald, Urt. v. 30.06.2016 – 3 A 379/16 As – unter Berufung auf Danesch, Gutachten v. 30.04.2013 an das OVG Lüneburg – 9 LB 2/13 -, S. 6; vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urt. v. 28.04.2016 – 5a K 4824/15.A – juris Rn. 46).

46

Ausschlussgründe im Sinne von § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG und § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) sind gleichfalls nicht ersichtlich.

2.

47

Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheides ist wegen der im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bestehenden Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufzuheben, da die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 AsylG nicht mehr vorliegen.

48

Wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bedarf es eines Eingehens auf die Hilfsanträge nicht.

III.

49

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO). Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

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