Urteil vom Verwaltungsgericht Greifswald (3. Kammer) - 3 A 347/16 As HGW

Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12.03.2014 –– 5708476 – 423 verpflichtet, der Klägerin subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin und die Beklagte jeweils zur Hälfte.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die am … 1983 in Kabul geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige. Sie reiste nach eigenen Angaben am 11.12.2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19.12.2013 einen Asylantrag.

2

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge traf gegenüber der Klägerin mit Bescheid vom 12.03.2014, zugestellt am 15.03.2014, folgende Entscheidung:

3

1. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt.
2. Der Antrag auf Asylanerkennung wird abgelehnt.
3. Der subsidiäre Schutzstatus wird nicht zuerkannt.
4. Das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes liegt vor.

4

Die Klägerin hat am 19.03.2014 Klage erhoben. Sie trägt vor, dass sie nach Abitur und Lehramtsstudium bis 2007 als Lehrerin in Logar gearbeitet habe. Die Ausübung sei ihr wegen des Erstarkens der Taliban in der Region nicht mehr möglich gewesen. Eine Frau, die arbeiten gehe, insbesondere auch eine Lehrerin, die Mädchen unterrichte, gelte aus Sicht der Taliban als Ungläubige und Verräterin am Islam und müsse mit schweren Strafen bis hin zur Tötung rechnen. Als ihr Bruder Faruk gegen Ende 2006 nach Afghanistan abgeschoben worden sei und die Familie in Logar aufgesucht hatte, habe sich dies auch bei den Taliban herumgesprochen, die in ihr Haus eingedrungen seien und den Bruder verprügelt und ihm vorgeworfen hätten, er sei ein Spion, der Informationen an das Ausland weiterleite. Ihr selbst seien mit einem Gewehrkolben die Zähne ausgeschlagen worden und man habe ihr vorgeworfen, als Lehrerin zu arbeiten. Ihr Bruder Ahmad Jawed, mit Bescheid vom 12.03.2014 als Flüchtling anerkannt, habe ab 2003 für die UN und internationale Organisationen gearbeitet. Der Bruder Faruk, mit Bescheid vom 22.08.2014 als Flüchtling anerkannt, habe für das afghanische Telekommunikationsunternehmen AWCC mit ausländischen Kunden gearbeitet; der Bruder Mohammad Jamshid A. als technischer Facharbeiter für die US-Regierung in Kabul. Wegen der Verwestlichung der Brüder sei davon auszugehen, dass sie - die Klägerin - im Wege der Sippenhaft ebenfalls wegen Verwestlichung belangt werde. Die Brüder hätten einen Drohbrief der Taliban mit einem darin enthaltenen Todesurteil erhalten. Alle Geschwister seien aus Sicht der Taliban Verräter und Spione, die mit den Ausländern, insbesondere mit den UN-Organisationen bzw. dem ausländischen Militär zusammenarbeiteten.

5

Aus dem beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten zum Bruder der Klägerin, Ahmad Jawed A., ergibt sich (Bl. 108 d.A.), dass dieser nachweislich für die UN gearbeitet habe und anschließend für eine Firma, die im Auftrag ausländischer Organisationen tätig gewesen sei. Diese Tätigkeiten seien den Taliban bekannt gewesen, daher habe für den Bruder eine Gefährdungssituation in Afghanistan bestanden. Er habe Afghanistan vorverfolgt verlassen, ihm drohe im Falle einer Rückkehr eine erneute Gefährdung und eine inländische Fluchtalternative stehe ihm nicht zur Verfügung.

6

Aus dem beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten zum weiteren Bruder der Klägerin, Faruk A., ergibt sich (Bl. 217 d.A.), dass dieser belegt habe, dass er für die Mobilfunkgesellschaft Aghan Wireless gearbeitet habe und in dieser Funktion auch für die ISAF tätig gewesen sei. Er habe glaubhaft vortragen können, dass er wegen seiner Weigerung, mit den Taliban zusammenzuarbeiten, von diesen mit dem Tode bedroht worden sei.

7

Die Klägerin hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,

8

die Beklagte unter jeweils entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12.03.2014 – – zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen,

9

hilfsweise,

10

ihr subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen.

11

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

12

die Klage abzuweisen.

13

Die Beklagte bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

14

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 13.05.2016 zur Entscheidung auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.

15

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Akten dieses Verfahrens, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten zur Klägerin und zu ihren Brüdern Faruk und Ahmad Jawed A., auf die mit der Ladung übersandte Erkenntnisquellenliste des Gerichts zum Herkunftsland Afghanistan und auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 04.05.2017 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

16

Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl weder die Klägerin noch die Beklagte zur mündlichen Verhandlung erschienen sind. Darauf waren sie in der jeweiligen Ladung hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]).

II.

17

Die als Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO erhobene Klage ist zulässig und zum Teil begründet.

18

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gemäß § 77 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.

1.

19

Die Klägerin kein Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) [Genfer Konvention], wenn er sich (1.) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (2.) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder (b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

20

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

21

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten: (1.) die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, (2.) gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, (3.) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, (4.) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, (5.) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen, (6.) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind (§ 3a Abs. 2 AsylG).

22

Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).

23

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen vom Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten.

24

Bei der Prüfung der Bedrohung i.S.v. § 3 AsylG ist unabhängig von der Frage, ob der Schutz suchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits vorverfolgt, also auf der Flucht vor eingetretener bzw. unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat, oder ob er unverfolgt ausgereist ist, der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Dabei setzt die unmittelbar, also die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohende Verfolgung eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss (VG Oldenburg, Urt. v. 16.02.2016 – 3 A 6563/13 – juris).

25

Nach Art. 4 Abs. 4 der Neufassung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Abl. Nr. L 337 S. 9, sog. „EU-Flüchtlingsschutz-RL“) ist die Tatsache, dass der schutzsuchende Ausländer bereits verfolgt wurde oder er einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

26

Aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflichten ist der Kläger gehalten, von sich aus die in seine eigene Sphäre fallenden tatsächlichen Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern sowie eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien nachvollziehbar aufzulösen. Sein Vortrag muss danach insgesamt geeignet sein, den Asylanspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.1983 - BVerwG 9 C 68.81 - juris; Hessischer VGH, Urt. v. 24.08.2010 - VGH 3 A 2049/08.A - juris). Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt dies entsprechend.

27

Maßgebend für die Beantwortung der Frage, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32; VG Potsdam, Urt. v. 11.03.2016 – VG 4 K 1242/15.A – S. 8). Dabei greift zugunsten eines Vorverfolgten bzw. in anderer Weise Geschädigten eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 19; VG Potsdam, aaO.).

28

Nach den oben genannten Maßstäben hat die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts nicht glaubhaft gemacht, dass sie Afghanistan vorverfolgt verlassen hat oder ihr im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine hinreichend erhebliche Verfolgung seitens des Staates oder privater Dritter droht.

29

Die Klägerin hat lediglich vorgetragen, dass ihr die Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit als Lehrerin wegen des Erstarkens der Taliban in ihrer Region nicht mehr möglich gewesen sei. Dieser Vortrag ist nicht geeignet, eine Verfolgung der Klägerin aufgrund ihrer Tätigkeit als Lehrerin, dabei anknüpfend an ihre politische Überzeugung, anzunehmen, er ist viel zu vage und entbehrt jeglichen Details. Ob und welche Bedrohung die Klägerin dazu bewogen hat, ihren Beruf aufzugeben, hat sie nicht dargelegt. Eine hinreichende Konkretisierung einer Gefahr bleibt aus, es liegt lediglich eine ungenaue pauschale Aussage der Klägerin vor, die damit ihrer oben genannten substantiierten Darlegungslast nicht genügt.

30

Auch die Schilderung des Vorfalls im Haus der Klägerin nach der Rückkehr ihres Bruders Faruk ist zu ungenau und vage, als dass er eine Verfolgung der Klägerin selbst begründen könnte. Die Klägerin hat vorgetragen, dass die Taliban in ihr Haus eingedrungen seien, den Bruder verprügelt und ihm vorgeworfen hätten, ein Spion zu sein, der Informationen an das Ausland weiterleite. In diesem Zusammenhang habe man sie verletzt und ihr vorgeworfen, als Lehrerin zu arbeiten. Die Schilderung der Klägerin auch in der Anhörung bei der Beklagten zeigt, dass der Angriff der Taliban primär dem Bruder gegolten hatte. Mittels der Personaldokumente hätten diese beabsichtigt, Informationen über ihn zu erlangen. Inmitten der tätlichen Auseinandersetzungen hätten die Taliban die Klägerin verletzt und geäußert, dass sie wüssten, dass sie als Lehrerin in Logar arbeite. Ob die Verletzung der Klägerin innerhalb der Situation des gewaltsamen Übergriffs der Taliban gerade aufgrund eines Verfolgungsmerkmals erfolgte, ist aus den Schilderungen der Klägerin nicht ersichtlich. Die Verletzungshandlung muss gerade aufgrund eines Verfolgungsmerkmals erfolgen, § 3a Abs. 3 AsylG. Dieses Erfordernis ist zur Überzeugung des Gerichts nicht gegeben, da die gesamte Schilderung des Übergriffs im Hause der Klägerin nach ihrem Vortrag der Verfolgung des Bruders galt und sich die Verletzung der Klägerin vielmehr spontan aus der Situation selbst ergab, als die Klägerin und ihre Mutter weinten. Eine gezielte Verletzung der Klägerin in Erfüllung eines Verfolgungsmerkmals ist für das Gericht aus dieser Schilderung nicht erkennbar.

2.

31

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung des hilfsweise geltend gemachten subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG, über den wegen des im Hauptantrag ausbleibenden Erfolgs der Klage zu entscheiden ist. Insoweit ist die Klage auch begründet.

32

a) Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als solche Gründe gelten: die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) und eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).

33

Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen, um in den Schutzbereich von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Kriterien hierfür sind abzuleiten aus allen Umständen des Einzelfalles, wie etwa der Art der Behandlung oder Bestrafung und dem Zusammenhang, in dem sie erfolgte, der Art und Weise ihrer Vollstreckung, ihrer zeitlichen Dauer, ihrer physischen und geistigen Wirkungen, sowie gegebenenfalls abgestellt auf Geschlecht, Alter bzw. Gesundheitszustand des Opfers. Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 06.03.2012 – A 11 S 3070/11 –, juris Rn. 16).

34

Der Ausländer hat stichhaltige Gründe für die Annahme darzulegen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Der Maßstab der stichhaltigen Gründe (essential grounds, Art. 2 lit. f QualRL) bei der Prüfung, ob eine konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung besteht, entspricht dem asylrechtlichen Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit steht die Rechtsgutsverletzung bevor, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise, d.h. bei einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung, die für die Rechtsgutsverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Die in diesem Sinne erforderliche Abwägung bezieht sich nicht allein auf das Element der Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern auch auf das Element der zeitlichen Nähe des befürchteten Ereignisses; auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs ist in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 06.03.2012 – A 11 S 3070/11 –, juris Rn. 17, unter Bezugnahme auf BVerwG, Beschl. v. 10.04.2008 – 10 B 28.08 – juris Rn. 6; Urt. v. 14.12.1993 – 9 C 45.92 – juris Rn. 10 f.; Urt. v. 05.11.1991 – 9 C 118.90 – juris Rn. 17).

35

Die Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG kann gemäß § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

36

Schutz vor einem ernsthaften Schaden gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3d Abs. 1 AsylG kann nur geboten werden vom Staat oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz zu gewähren, vgl. § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat, § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG.

37

Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn eine sogenannte interne Schutzalternative besteht, weil in einem Teil seines Herkunftslands keine Gefahr eines ernsthaften Schadens besteht oder der Ausländer Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V. § 3e Abs. 2 AsylVfG sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und persönlichen Umstände des Ausländers zu berücksichtigen. Der Ausländer muss am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden, das heißt es muss zumindest (in faktischer Hinsicht) das Existenzminimum gewährleistet sein, was er unter persönlich zumutbaren Bemühungen sichern können muss. Dies gilt auch dann, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind. Unerheblich ist, ob eine Gefährdung wie am Herkunftsort in gleicher Weise besteht. Darüber hinaus ist erforderlich, dass das Zufluchtsgebiet für den Ausländer erreichbar ist (BVerwG, Urt. v. 29.05.2008 - 10 C 11/07 - juris).

38

Bei der individuellen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz sind alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslands und der Weise, in der sie angewandt werden, sowie die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er einen ernsthaften Schaden erlitten bzw. erleiden könnte (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a und b QualRL). Weiterhin sind zu berücksichtigen die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. c QualRL).

39

b) Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Das Gericht geht davon aus, dass auch Angehörigen von Mitarbeitern internationaler Streitkräfte oder Organisationen in Afghanistan Vergeltungsmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure drohen (VG Greifswald, Urt. v. 30.06.2016 – 3 A 379/16 As). Dasselbe gilt für Mitarbeiter von Unternehmen, die für ausländische Auftraggeber tätig werden, da auch deren Mitarbeiter im Fokus der Taliban stehen (VG Greifswald, Urt. v. 29.03.2017 – 3 A 1164/16 As).

40

Das erkennende Gericht geht zunächst davon aus, dass Mitarbeitern der in Afghanistan aktiv gewesenen oder aktiven ausländischen Streitkräfte oder Organisationen eine Verfolgungsgefahr durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere Taliban, droht. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass diese Personen eine besondere Risikogruppe darstellen. Danach greifen regierungsfeindliche Kräfte Zivilisten, die für die internationalen Streitkräfte gearbeitet haben an und bedrohen diese. Betroffen sind dabei sowohl Personen, die mit den internationalen Schutztruppen zusammengearbeitet haben, als auch solche, die in Kontakt zu den nationalen Sicherheitskräften standen. Sie werden der Spionage verdächtigt. Es ist eine Vielzahl von Fällen dokumentiert, in denen in denen regierungsfeindliche Kräfte Personen, die der Zusammenarbeit mit regierungstreuen Kräften verdächtigt wurden, ermordet oder verstümmelt haben (vgl. UNHCR, Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 38 f.). In seiner neuesten Stellungnahme geht der UNHCR weiterhin davon aus, dass Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen ein besonderes Risikoprofil aufweisen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender, 19. April 2016, Seite 1). Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt unter Bezugnahme auf Medienberichte aus, dass lokale Mitarbeitende der ausländischen Sicherheitskräfte, darunter Übersetzer oder Wachpersonal, von regierungsfeindlichen Gruppierungen bedroht und angegriffen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 13. September 2015, S. 17). Nach den Erkenntnissen des Gerichts beschränken sich derartige Übergriffe allerdings nicht ausschließlich auf die jeweiligen Mitarbeiter selbst. Stattdessen gehört es zu einem Grundsatz der Taliban, sowohl die von ihnen in ihrem politischen Kampf um die Macht in Afghanistan bekämpften Personen selbst, also die Mitarbeiter der internationalen Schutztruppen, als auch deren Angehörige zum Ziel von Angriffen zu machen (vgl. VG München, Urt. v. 23.06.2015 – M 24 K 15.30012 –, juris Rn. 25; UNHCR, Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 39).

41

Nach Auffassung des Gerichts genügt allein der Umstand, dass – wie die Beklagte in den jeweiligen Verwaltungsverfahren festgestellt hat - zwei – inzwischen als Flüchtlinge anerkannte - Brüder der Klägerin für die UN oder eine internationale ausländische Organisation bzw. für eine Mobilfunkgesellschaft, die die ISAF (International Security Assistance Force) unterstützt hat, tätig gewesen sind, um sie selbst in die konkrete Gefahr der Verfolgung durch die Taliban zu bringen.

42

Die Klägerin hat vorgetragen, wie die Taliban auf der Suche nach ihrem Bruder in ihr Haus eingedrungen sind und sie dabei selbst Opfer einer Gewalttat wurde. Sie gab bei der Anhörung bei der Beklagten an, dass die Verfolgung der Brüder ausschlaggebend für die Ausreise gewesen sei.

43

Nach der Rechtsprechung des Gerichts wird zwar den Angehörigen der Mitarbeiter oben genannter Organisationen nicht selbst der Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung zugeschrieben; die drohenden Vergeltungsmaßnahmen der Taliban rechtfertigen jedoch die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG (VG Greifswald, Urt. v. 30.06.2016 – 3 A 379/16 As).

44

Die der Klägerin drohenden Vergeltungsakte erreichen das für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG notwendige Mindestmaß an Schwere. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln folgt nämlich, dass der Klägerin Behandlungen drohen, die bis zur Verstümmelung und Ermordung reichen (vgl. UNHCR, Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 39).

45

Die Taliban sind auch als nicht staatlicher Akteur im Sinne von §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3c Nr. 3 AsylG zu qualifizieren.

46

Die Klägerin kann auch nicht auf internen Schutz nach §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e Abs. 1 AsylG verwiesen werden. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin andernorts in Afghanistan, auch nicht in der Hauptstadt Kabul, vor Nachstellungen durch die Taliban sicher ist. Das ergibt sich aus den Erkenntnissen des Gerichts, wonach die Taliban auch in Kabul Personen aufspüren können, da sie dort über Informationsnetzwerke verfügen (vgl. Danesch, Gutachten vom 30. April 2013 an OVG Lüneburg - 9 LB 2/13 -, S. 6). Ebenso wenig wird der Klägerin durch einen tauglichen Akteur im Sinne von §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e Abs. 1 AsylG wirksamer und nicht nur vorübergehenden Schutz geboten.

III.

47

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 83b Abs. 1 AsylG.

48

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11 und § 711 Zivilprozessordnung [ZPO].

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