Urteil vom Verwaltungsgericht Halle (5. Kammer) - 5 A 414/17 HAL

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin den subsidiären Schutz zuzuerkennen. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Februar 2017 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Klägerin und die Beklagte tragen jeweils die Hälfte der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe dieses Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise die Gewährung des subsidiären Schutzes hinsichtlich ihres Heimatlandes Afghanistan.

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Die verheiratete Klägerin wurde am 21. Mai 1968 in Mazar-e Sharif/Afghanistan geboren und ist afghanische Staatsangehörige hazarischer Volkszugehörigkeit schiitischer Religionszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben reiste sie im Oktober 2015 in das Gebiet der Beklagten ein.

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Am 23. Mai 2016 stellte die Klägerin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag. Im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 18. Oktober 2016 gab sie insbesondere an, dass sie Hazara sei und mit 13 Jahren aus Afghanistan in den Iran ausgereist sei. Ihr Bruder, ihr Großvater und zwei ihrer Onkel seien in Afghanistan getötet worden, weil sie Schiiten waren. Sie habe keine Verwandten in Afghanistan und zwei bis drei Jahre eine Schule für Analphabeten besucht. Sie habe im Iran geheiratet. Ihr Mann habe nicht nach Afghanistan zurück gewollt, da er dort Feinde habe in Gestalt seiner Cousins. Diese seien Kommunisten gewesen und ihr Mann ein Mudschahedd. Ein Cousin von ihm sei durch einen Mudschahedd getötet worden, wofür ihrem Mann die Schuld gegeben worden sei. Deswegen sei ihr Ehemann in den Iran geflohen, wo sie sich kennengelernt und vor über 30 Jahren geheiratet hätten. Seine Feinde hätten ihren Mann aber auch im Iran telefonisch bedroht und seien ihm bis in den Iran gefolgt. Sie würden die gesamte Familie umbringen, wenn sie sie finden würden. Sie hätten mit einer Tötung ihrer Familie gedroht. Sie hätten deswegen den Wohnort gewechselt. Eines Tages habe ihr Mann einen seiner Cousins auf der Straße gesehen, weshalb sie hiernach ständig Angst gehabt hätten und aus dem Iran ausgereist seien. Hinsichtlich des weiteren Vortrages der Klägerin im Rahmen der Anhörung am 18. Oktober 2016 wird nach § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf deren Niederschrift verwiesen, welche sich in der vorliegenden Asylakte der Beklagten befindet.

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Mit Bescheid vom 1. Februar 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz ab. Zugleich stellte es fest, dass für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.

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Zur Begründung wird insbesondere ausgeführt, dass das Vorbringen der Klägerin in Teilen fragwürdig bis widersprüchlich und damit unglaubhaft sei. Der Cousin ihres Mannes kenne die Klägerin nicht und das auslösende Ereignis für die befürchtete Blutrache liege über 30 Jahre zurück. Es sei unglaubhaft, dass ihr Mann mit seiner Sehschwäche seinen Cousin nach über 30 Jahren auf der Straße erkannt haben will. Die Zugehörigkeit zu den Hazara sei nicht ausreichend, um eine Gruppenverfolgung anzunehmen. Es seien auch keine Anhaltspunkte für die Annahme eines ernsthaften Schadens bei Rückkehr der Klägerin nach Afghanistan erkennbar, da deren Angaben teilweise unglaubhaft seien. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sei zu bejahen, da bei einer älteren Frau in Afghanistan von einer Existenzgefährdung auszugehen sei.

6

Die Klägerin hat am 17. Februar 2017 beim erkennenden Gericht Klage erhoben. Zur Begründung verweist sie darauf, dass die Beklagte die Situation der Hazara falsch eingeschätzt habe. Zudem wird insbesondere auf die aktuelle Bedrohungslage der afghanischen Bevölkerung nach Auffassung von Friederike Stahlmann hingewiesen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Beklagte zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

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hilfsweise ihr den subsidiären Schutz zu gewähren,

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und den Bescheid vom 1. Februar 2017 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

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Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die durch Hinweis des Gerichts in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht kann nach § 102 Abs. 2 VwGO trotz des Ausbleibens der Beklagten zur mündlichen Verhandlung in der Sache entscheiden, da die – ordnungsgemäß zum Termin zur mündlichen Verhandlung geladene – Beklagte in der Ladung hierauf hingewiesen worden ist.

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Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

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Denn der Klägerin steht ein Anspruch auf die hilfsweise beantragte Gewährung des subsidiären Schutzes zu. Der Bescheid des Bundesamtes vom 1. Februar 2017 ist zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylG jetzt maßgeblichen Zeitpunkt insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Der Klägerin steht jedoch kein Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft zu. Insoweit ist der vorgenannte Bescheid rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

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Der Klägerin steht kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 1, 8 AufenthG zu. Nach Überzeugung des Gerichts hat die Klägerin im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 18. Oktober 2016, durch ihre Klagebegründung und ihre Befragung in der mündlichen Verhandlung eine flüchtlingsrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht.

19

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftslandes) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2). Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird nach § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

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Maßgebend für die Beantwortung der Frage, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der voraussetzt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen - es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. Nds. OVG - Urteil vom 19. September 2016 - 9 LB 100/15 – Juris). Es ist Sache des Ausländers, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen und das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangen (Nds. OVG a. a. O.). Dabei greift zugunsten eines Betroffenen eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (Nds. OVG Urteil vom 23. November 2015 - 9 LB 106/15 - juris), ohne dass hierdurch jedoch der Wahrscheinlichkeitsmaßstab geändert würde (BVerwG - Urteil vom 7. September 2010 - 10 C 11.09 - Juris; Urteil vom 17. April 2010 - 10 C 5.09 - Juris). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt, beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen, zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal einer ernsthaften Schädigung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG - Urteil vom 17. April 2010 - 10 C 5.09 - Juris). Diese Vermutung kann widerlegt werden, indem stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG a. a. O.).

21

Die Glaubhaftmachung einer flüchtlingserheblichen Verfolgung setzt, entsprechend der Mitwirkungspflicht im Asylverfahren, einen schlüssigen Sachvortrag voraus. Der Ausländer muss mithin unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung und verständiger Würdigung die Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ergibt. Hierzu gehört die lückenlose Schilderung der in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere der persönlichen Erlebnisse (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 1989 – 9 B 405.89 – und Urteil vom 10. Mai 1994 – 9 C 44.93 – jeweils Juris). Die wahrheitsgemäße Schilderung eines realen Vorganges ist dabei erfahrungsgemäß gekennzeichnet durch Konkretheit, Anschaulichkeit und Detailreichtum.

22

Die Klägerin hat durch ihren Vortrag in der Anhörung vor dem Bundesamt am 18. Oktober 2016 und ihre Klagebegründung nicht glaubhaft gemacht, dass bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich die konkrete Gefahr besteht, dass sie wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt wird.

23

Insofern konnte offen bleiben, ob die Angaben der Klägerin zu der Bedrohung durch die Cousins ihres Ehemannes glaubhaft sind und eine Gefahr durch diese Cousins für die Klägerin tatsächlich landesweit in Afghanistan besteht. Denn selbst bei Wahrunterstellung des diesbezüglichen Vortrages der Klägerin ist hieraus jedenfalls keine Verfolgung aus den in § 3 Abs. 1 AsylG abschließend genannten Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ersichtlich. Dies wird von der Klägerin auch nicht geltend gemacht. Die Bedrohung und von der Klägerin vorgetragene Vorverfolgung durch die Cousins ihres Ehemannes bis in den Iran erfolgte nach ihrem eigenen Vortrag nicht aus einem der vorgenannten Gründe, sondern aufgrund des Umstandes, dass ihr Ehemann von seinen Cousins beschuldigt werde, einen anderen Cousin vor über 30 Jahren umgebracht zu haben.

24

Der Klägerin droht auch wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara nicht die Gefahr einer landesweiten Verfolgung in Afghanistan. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG im Urteil vom 18. Juli 2006 – 1 C 15/05 – Juris) setzt die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung voraus, dass eine bestimmte "Verfolgungsdichte" vorliegt, die die Vermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinn der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Zudem gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein müsste (s. zu diesem Absatz auch BayVGH im Urteil vom 3. Juli 2012 - 13a B 11.30064 - Juris).

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Nach dem vorgenannten Maßstab sind unter Würdigung der vorliegenden Erkenntnismittel keine Anhaltspunkte für eine derartige Gruppenverfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure allein wegen der Zugehörigkeit der Klägerin zur Volksgruppe der Hazara und der schiitisch-islamischen Religion zu erkennen. Die Verfolgungshandlungen, denen die Hazara ausgesetzt sind, weisen in Afghanistan jedenfalls nicht die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte auf.

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Die schiitische Minderheit der Hazara stellt mit einem Anteil von 10 Prozent der Bevölkerung eine religiöse Minderheit in Afghanistan dar, welche zwar weiterhin diskriminiert wird. Die Lage für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich jedoch erheblich verbessert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 21. Januar 2016, S. 171). Gesellschaftliche Diskriminierung gegen die schiitischen Hazara mit Bezug auf Klasse, Ethnie und Religion hält jedoch weiter an in Form von Erpressung, durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit, physische Misshandlung und Verhaftung (BFA a. a. O. S. 172, sowie UNHCR vom 19. April 2016 - Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender). In jüngerer Zeit stiegen Berichten zufolge die Fälle von Schikanierung, Einschüchterung, Entführung und Tötung durch Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (UNHCR a. a. O.). Seit dem Ende des Taliban-Regimes im Jahre 2001 haben die Hazara Berichten zufolge jedoch erhebliche wirtschaftliche und politische Fortschritte gemacht (UNHCR a. a. O.). Schiitischen Muslimen ist es allgemein möglich, ihre traditionellen Feierlichkeiten und Rituale ohne Hindernisse öffentlich durchzuführen (BFA a. a. O. s. 163). Zwar ist die schiitische Minderheit weiterhin mit Diskriminierung konfrontiert, nach den Informationen eines Vertreters einer internationalen Organisation mit Sitz in Kabul sind Hazara indes entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung keiner gezielten Diskriminierung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt (BFA a. a. O.). Der letzte große Zwischenfall in Gestalt eines Selbstmordattentates auf eine heilige Stätte der Hazara in Kabul ereignete sich 2011 und liegt damit bereits circa 6 Jahre zurück (vgl. BFA a. a. O.). Die politischen Kräfte des Landes zeigten sich über diesen Vorfall erschüttert und verurteilten diesen und riefen zur Einigkeit auf (BFA a. a. O.).

27

Die von der Klägerin genannten Vorfälle in Gestalt der Tötung ihres Bruders, Großvaters und zwei ihrer Onkel aufgrund ihrer schiitischen Religionsangehörigkeit liegen nach ihrem eigenen Vortrag bereits circa 15 bis 20 Jahre zurück, weshalb hieraus keine Schlüsse für die entscheidungserhebliche aktuelle Lage der schiitischen Hazara in Afghanistan gewonnen werden können. Dies insbesondere auch deshalb, da nach den vorgenannten Erkenntnismitteln sich die Lage der Hazara in den letzten Jahren erheblich verbessert hat.

28

Nach Würdigung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ist das Gericht bei Anwendung des oben genannten Maßstabes der Überzeugung, dass Hazara in Afghanistan zwar noch einer gewissen Diskriminierung unterliegen, derzeit und in überschaubarer Zukunft aber keiner an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung ausgesetzt sind. So wird eine politische oder religiöse Verfolgung durch die derzeitige Regierung in den vorliegenden Erkenntnismitteln übereinstimmend verneint. Auch die berichteten Nachstellungen durch regierungsfeindliche Gruppierungen einschließlich der Taliban erreichen bei der Anzahl der Rechtsverletzungen im Verhältnis zur Gesamtzahl dieser Gruppe nicht die Schwelle, ab der eine Verfolgungsdichte anzunehmen ist.

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Die Voraussetzungen für die hilfsweise beantragte Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG liegen jedoch vor.

30

Nach Satz 1 der Regelung ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach Satz 2 der Regelung die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 AsylG und die Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG wird von der Klägerin selbst nicht geltend gemacht.

31

Der Klägerin droht bei Rückkehr nach Kabul Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch die Cousins ihres Ehemannes.

32

Die Klägerin hat durch ihren Vortrag im Asyl- und im hiesigen Klageverfahren zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nach dem oben genannten Maßstab glaubhaft gemacht, dass bei ihrer Rückkehr nach Kabul tatsächlich ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch die Cousins ihres Mannes droht. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft ausgeführt, dass ihr Ehemann von seinen Cousins im Iran telefonisch bedroht und verfolgt wurde, auch wenn der Anlass für diese Blutrache bereits über 30 Jahre zurückliegt. Die Klägerin schilderte mit unterschiedlichen Formulierungen übereinstimmend in der Anhörung vor dem Bundesamt und bei ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung jeweils die telefonische Bedrohung ihres Mannes circa zwei bis drei Monate vor ihrer Ausreise aus dem Iran und die Suche der im Iran anwesenden Cousins ihres Mannes nach ihrem Mann und seiner Familie, d. h. auch nach ihr. Ihre Ausführungen sind auch in Anbetracht des großen Zeitraumes zwischen dem Anlass der Blutrache und der geschilderten Bedrohung im Iran schlüssig und nachvollziehbar, da sie detailliert den konkreten Anlass für die neuerlichen Bedrohungen in Gestalt eines Hochzeitsfilmes schilderte, auf dem sie und ihre Familie zu sehen waren und welchen die Cousins ihres Ehemannes in Afghanistan gesehen hatten. Nach den Ausführungen der Klägerin bedrohten die Cousins ihres Mannes nicht nur ihren Mann mit dem Tode, sondern unter anderem auch sie selbst als Ehefrau und kündigten an, alle Familienmitglieder zu töten.

33

Der Verweis der Beklagten auf die lange Zeit, die zwischen dem Auslöser der befürchteten Blutrache in Gestalt des Vorwurfs gegenüber ihrem Ehemann, einen seiner Cousins getötet zu haben, und den neuerlichen Bedrohungen liegt, ist nicht geeignet, die Angaben der Klägerin zu ihrer Bedrohungslage unglaubhaft erscheinen zu lassen. Denn Blutfehden können in Afghanistan zu lang anhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 91). Die Rache kann sich unter Umständen auch Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen (s. UNHCR a. a. O.). Je nach den Einzelfallumständen können auch Familienangehörige oder Partner von an Blutfehden beteiligten Personen aufgrund ihrer Verbindung zur unmittelbar betroffenen Person gefährdet sein (vgl. UNHCR a. a. O.). Letzteres ist hier anzunehmen, da die Klägerin glaubhaft geschildert hat, dass die Cousins auch mit der Tötung der Familie ihres Ehemannes gedroht haben.

34

Für die Klägerin greift die tatsächliche Vermutung ein, dass sich die früheren Bedrohungen durch die Cousins ihres Mannes bei einer Rückkehr nach Kabul wiederholen werden und die Gefahr besteht, dass diese wahrgemacht werden und die Klägerin getötet wird, da sie aus den o. g. Gründen glaubhaft ihre Vorverfolgung durch diese Cousins geschildert hat.

35

Der Klägerin droht in Gestalt der Cousins ihres Ehemannes eine Verfolgung durch einen nichtstaatlichen Akteur, vor denen weder der afghanische Staat, noch eine andere nationale oder internationale Organisation ausreichend Schutz vor Verfolgung bietet (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3 c Nr. 3 AsylG). Denn die großen und grundlegenden Einschränkungen der Schutzfähigkeit des afghanischen Staates in Gestalt der Machtlosigkeit gegenüber vielfältigen Bedrohungen werden beispielsweise sichtbar durch den systematischen Machtmissbrauch durch afghanische Sicherheitsorgane und mächtige politische Eliten. Des Weiteren herrscht in Afghanistan ein Klima der Straflosigkeit (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, vom 19. April 2016, S. 28; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, vom 30. September 2016, S. 15). So bleibt auch die weit verbreitete Gewalt gegen Frauen und Mädchen üblicherweise straflos; staatlicher Schutz ist für Frauen insoweit nicht zu erlangen (vgl. auch UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, vom 19. April 2016, S. 66, 69; BT-Drs. 18/10336, 18. Wahlperiode 16.11.2016, Frage Nr. 28).

36

Der Klägerin steht bei der drohenden Verfolgung durch die Cousins ihres Ehemannes auch keine inländische Fluchtalternative i. S. d. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3 e AsylG zur Verfügung. Nach dessen Absatz 1 wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er 1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3 d hat und 2. sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

37

Die vorgenannten Voraussetzungen für eine inländische Fluchtalternative der Klägerin in einen anderen Teil von Afghanistan sind nicht gegeben.

38

Der Klägerin ist es bereits aus humanitären Gründen nicht zumutbar, sich in einem anderen Landesteil von Afghanistan anzusiedeln und dort ihr Existenzminimum erwirtschaften zu können. Das Gericht konnte daher offen lassen, ob die Klägerin in einem anderen Landesteil von Afghanistan vor den Cousins ihres Ehemannes ausreichend sicher wäre.

39

Nach den vorliegenden aktuellen Erkenntnismitteln ist anzunehmen, dass es der Klägerin bei Berücksichtigung der hier zu beachtenden Einzelfallumstände nicht möglich ist, sich in einem anderen Landesteil von Afghanistan neu anzusiedeln und zumindest ihr Existenzminimum erwirtschaften zu können. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass es nur alleinstehenden leistungsfähigen Männern und verheirateten Paaren im berufsfähigen Alter auch ohne externe Unterstützung abhängig von den jeweiligen Einzelfallumständen möglich ist, in Afghanistan Zugang zu Unterkunft, grundlegender Versorgung wie sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsdiensten und Bildung und Erwerbsmöglichkeiten zu erlangen (vgl. hierzu UNHCR vom 19. April 2016 - Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, S. 99). Bei der Klägerin handelt es sich indes um eine fast 50 Jahre alte alleinstehende Frau, da sich ihr Ehemann nach wie vor im Iran aufhält. Die Klägerin verfügt nach ihren glaubhaften Angaben in Afghanistan auch über keine Verwandte mehr, welche ihr bei einer Neuansiedlung behilflich sein könnten.

40

Darüber hinaus bestehen für die Klägerin weitere erhebliche Erschwernisse für den Zugang zu den elementaren Bedürfnissen in Afghanistan. Sie hat keine Schulbildung erworben, sondern nur zwei bis drei Jahre Kurse für Analphabeten besucht. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Klägerin noch erhebliches Vermögen in Deutschland oder Afghanistan für die Gewährleistung ihres Existenzminimums zur Verfügung steht oder sie auf andere Weise als durch Erzielung von Erwerbseinkommen ihre Existenz in Afghanistan sichern könnte.

41

Durch ihren mangelnden vorherigen Aufenthalt in Afghanistan ist eine Eingliederung in die afghanische Gesellschaft und damit das Erreichen des Existenzminimums für sie auch deshalb erheblich schwerer, da sie nicht mit den Verhältnissen in Afghanistan vertraut ist. Denn sie ist bereits im Kindesalter aus Afghanistan in den Iran ausgereist. Nach einem langjährigen Aufenthalt im Ausland sind die Rückkehrer Fremde im eigenen Land und verfügen insbesondere zumeist nicht über bestehende soziale Netzwerke, um ihr Existenzminimum zu sichern (vgl. hierzu ACCORD vom 12. Juni 2015 - Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen; Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren). Die Kenntnisse der aktuellen Verhältnisse in Afghanistan konnte die Klägerin insbesondere auch nicht durch ihre Eltern erlangen, da diese damals mit ihr gemeinsam aus Afghanistan ausgereist und mittlerweile verstorben sind.

42

Des Weiteren wird die Eingliederung der Klägerin in die afghanische Gesellschaft weiter durch deren Volkszugehörigkeit zu den Hazara erschwert. Die Lage der Hazara hat sich zwar nach den o. g. Erkenntnismitteln erheblich verbessert. Jedoch ist nach wie vor von einer Diskriminierung der schiitischen Minderheit der Hazara in Afghanistan auszugehen (s. o.), was eine Neuansiedlung der Klägerin in Afghanistan noch weiter erschwert.

43

Schließlich steht die Eigenschaft der Klägerin als alleinstehende Frau in besonderem Maße einer Neuansiedlung in Afghanistan entgegen. Denn Afghanistan ist weiterhin ein sehr gefährliches Land für Mädchen und Frauen (vgl. Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 24. Mai 2016 zur besonderen Gefährdung von Frauen in Afghanistan). Tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen ist in Afghanistan endemisch. Gewalt gegen Frauen und Mädchen bleibt weit verbreitet und nimmt zu, wobei Straflosigkeit für solche Verbrechen die Regel sei. Frauen begegnen weiterhin großen Herausforderungen beim vollen Zugang zu ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Trotz Fortschritten sind sie weiterhin überdurchschnittlich von Armut, Analphabetismus und ungenügendem Zugang zu Gesundheitsdiensten betroffen. Die Umsetzung von Gesetzen zum Schutz von Frauenrechten geht laut Beobachtern nur sehr langsam vorwärts. Dies betrifft besonders die Umsetzung des Gesetzes zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Den Behörden fehlt der politische Wille, das Gesetz umzusetzen und sie setzten es besonders in ländlichen Gebieten nicht vollständig durch (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe a. a. O.).

44

Schutz können Frauen in größeren Städten theoretisch zwar in Frauenhäusern finden, diese verfügen jedoch nicht über ausreichend Plätze (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, vom 30. September 2016, S. 18); auch ist ein Leben außerhalb im Anschluss regelmäßig nicht mehr möglich (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016, S. 15). Geschlechtsspezifische Gewalt gehört zu den häufigsten Gründen für Selbstmord und Selbstverbrennung bei Frauen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Flüchtlinge, vom 19. April 2016, S. 68). Das Justizsystem funktioniert in Afghanistan nur sehr eingeschränkt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Oktober 2016, S. 5).

45

Neben der mangelnden inländischen Fluchtalternative war auch kein anderweitiger Ausschlussgrund für die Gewährung subsidiären Schutzes wie nach § 4 Abs. 2 AsylG ersichtlich, welcher hier bei der Klägerin in Betracht kommt.

46

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 83 b AsylG.

47

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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