Urteil vom Verwaltungsgericht Halle (5. Kammer) - 5 A 415/17 HAL
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 2. Februar 2017 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzes hinsichtlich Afghanistan.
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Die ledige Klägerin wurde am 10. Mai 1992 in Maschhad/Iran geboren. Sie ist afghanische Staatsangehörige hazarischer Volkszugehörigkeit sunnitisch-islamischer Religionszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben reiste sie im Oktober 2015 in das Gebiet der Beklagten ein.
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Am 23. Mai 2016 stellte sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag. Im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 18. Oktober 2016 gab die Klägerin insbesondere an, dass sie das Abitur erworben habe, gerne studieren würde und noch nie in Afghanistan gewesen sei. Ihre Familie habe den Iran verlassen, weil die Feinde ihres Vaters sie mit dem Tode bedroht hätten. Ihr Vater sei ein Mudschahedd in Afghanistan gewesen und habe gegen die Regierung gekämpft. Die Cousins ihres Vaters seien hingegen Kommunisten und für die damalige Regierung tätig gewesen. Als einer der Cousins ihres Vaters durch eine Mudschaheddingruppe getötet worden sei, hätten die anderen Cousins ihren Vater beschuldigt und ihn bedroht. Daraufhin habe er das Land verlassen müssen und sei in den Iran gegangen, wo er ihre Mutter kennengelernt habe. Vor zwei bis drei Jahren hätten die Bedrohungen durch die Cousins ihres Vaters wieder angefangen. Er sei telefonisch bedroht worden und ihm sei gesagt worden, dass sie ihn auch im Iran nicht in Ruhe lassen würden. Sie hätten gesagt, dass sie wissen, dass ihr Vater Familie habe und seine Töchter entehren und die Familie umbringen werden. Sie haben daraufhin ihren Wohnort ändern müssen und hätten ständig von Freunden und Bekannten gehört, dass man nach ihnen suche und sie gewarnt, dass sie vorsichtig sein sollten. Eines Tages habe ihr Vater seine Cousins auf der Straße gesehen. Die Familie habe in großer Angst gelebt und ihre Schwester, ihr Vater und ihre Mutter infolgedessen gesundheitliche Beschwerden gehabt. Ihre Familie habe deswegen beschlossen, den Iran zu verlassen. Sie seien nicht nach Afghanistan gezogen, da die Feinde ihres Vaters sie dann umgebracht hätten. Zudem würden sie von dem IS oder den Taliban getötet werden, da sie Schiiten seien. Hinsichtlich des weiteren Vortrages der Klägerin im Rahmen ihrer Anhörungen am 18. Oktober 2016 wird nach § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf deren Niederschrift verwiesen, welche sich in der vorliegenden Asylakte der Beklagten befindet.
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Mit Bescheid vom 2. Februar 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz ab. Zugleich stellte es fest, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.
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Zur Begründung wird insbesondere ausgeführt, dass das Vorbringen der Klägerin in Teilen fragwürdig bis widersprüchlich und somit unglaubhaft sei. Der Cousin als Verfolger kenne die Klägerin nicht. Das auslösende Ereignis für die befürchtete Blutrache liege über 30 Jahre zurück. Es sei unglaubhaft, dass ihr Vater wegen seiner Sehschwäche nach über 30 Jahren seinen Cousin auf der Straße erkannt habe. Die Zugehörigkeit zu den Hazara sei nicht ausreichend für eine Gruppenverfolgung. In Anbetracht der teils unglaubhaften Angaben seien auch keine Anhaltspunkte für die Annahme erkennbar, dass der Klägerin bei Einreise nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden drohe. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sei zu bejahen, da bei der jungen ledigen Klägerin von einer Existenzgefährdung auszugehen sei. Für die weiteren Ausführungen des Bundesamtes wird im Übrigen auf dessen Bescheid vom 2. Februar 2017 nach § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO verwiesen.
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Die Klägerin hat am 17. Februar 2017 beim erkennenden Gericht Klage erhoben. Zur Begründung verweist sie darauf, dass die Beklagte die Situation der Hazara falsch eingeschätzt habe. Zudem wird insbesondere auf die aktuelle Bedrohungslage der afghanischen Bevölkerung nach Auffassung von Friederike Stahlmann hingewiesen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
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hilfsweise ihr den subsidiären Schutz zu gewähren,
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und den Bescheid vom 2. Februar 2017 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
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Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die durch Hinweis des Gerichts in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht kann nach § 102 Abs. 2 VwGO trotz des Ausbleibens der Beklagten zur mündlichen Verhandlung in der Sache entscheiden, da die – ordnungsgemäß zum Termin zur mündlichen Verhandlung geladene – Beklagte in der Ladung hierauf hingewiesen worden ist.
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). Der Bescheid des Bundesamtes vom 2. Februar 2017 ist zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylG jetzt maßgeblichen Zeitpunkt rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Nach Überzeugung des Gerichts hat die Klägerin im Rahmen ihrer persönlichen Anhörungen beim Bundesamt am 18. Oktober 2016 und insbesondere durch ihre Befragung in der mündlichen Verhandlung eine flüchtlingsrelevante Verfolgung glaubhaft gemacht.
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Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftslandes) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2). Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird nach § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.
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Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten nach § 3 a Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3 a Abs. 2 AsylG unter anderem die folgenden Handlungen gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3 b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss nach § 3 a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3 b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
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Die Verfolgung kann nach § 3 c AsylG ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummer 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3 d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Schutz vor Verfolgung kann nach § 3 d Abs. 1 AsylG nur geboten werden 1. vom Staat oder 2. von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Abs. 2 zu bieten. Gemäß dieses § 3 d Abs. 2 Satz 1 AsylG muss der Schutz insbesondere wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein.
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Maßgebend für die Beantwortung der Frage, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der voraussetzt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen - es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. Nds. OVG - Urteil vom 19. September 2016 - 9 LB 100/15 – juris). Es ist Sache des Ausländers, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen und das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangen (Nds. OVG a. a. O.). Dabei greift zugunsten eines Betroffenen eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (Nds. OVG Urteil vom 23. November 2015 - 9 LB 106/15 - juris), ohne dass hierdurch jedoch der Wahrscheinlichkeitsmaßstab geändert würde (BVerwG - Urteil vom 7. September 2010 - 10 C 11.09 - juris; Urteil vom 17. April 2010 - 10 C 5.09 - juris). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt, beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen, zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal einer ernsthaften Schädigung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG - Urteil vom 17. April 2010 - 10 C 5.09 - juris). Diese Vermutung kann widerlegt werden, indem stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG a. a. O.).
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Die Glaubhaftmachung einer flüchtlingserheblichen Verfolgung setzt, entsprechend der Mitwirkungspflicht im Asylverfahren, einen schlüssigen Sachvortrag voraus. Der Ausländer muss mithin unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung und verständiger Würdigung die Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ergibt. Hierzu gehört die lückenlose Schilderung der in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere der persönlichen Erlebnisse (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 1989 – 9 B 405.89 – und Urteil vom 10. Mai 1994 – 9 C 44.93 – jeweils juris). Die wahrheitsgemäße Schilderung eines realen Vorganges ist dabei erfahrungsgemäß gekennzeichnet durch Konkretheit, Anschaulichkeit und Detailreichtum.
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Zwar führt die bloße Geschlechtszugehörigkeit als solche nicht dazu, dass die Klägerin als Frau einer bestimmten sozialen Gruppe i. S. d. § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG angehört, die verfolgt wird. Nach dieser Norm gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3 b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG können danach auch westlich geprägte afghanische Frauen bilden, wenn diese in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (vgl. Nds. OVG im Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 – Juris). Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frau im Fall ihrer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG ausgesetzt ist, bedarf danach einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls; dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen (vgl. Nds. OVG a. a. O.).
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Aufgrund der derzeitigen Erkenntnismittel geht das Gericht davon aus, dass afghanische Frauen, deren Identität in der oben beschriebenen Weise westlich geprägt ist, in der Islamischen Republik Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3 a Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG), ausgesetzt sein können (vgl. Nds. OVG a. a. O.). Insbesondere können ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3 a Abs. 2 Nr. 6), drohen (vgl. Nds. OVG a. a. O.).
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Zwar hat sich die Situation afghanischer Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft verbessert (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016, S. 13). Die Verbesserungen der Situation von Frauen und Mädchen blieben jedoch Berichten zufolge marginal und Afghanistan wird weiterhin als "sehr gefährliches" Land für Frauen und Mädchen betrachtet (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 65 ff.). Die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleibt endemisch. Berichten zufolge ist Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor weit verbreitet und nimmt weiter zu. Es wird berichtet, dass derartige Gewaltakte üblicherweise straffrei bleiben. Für Frauen ist die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Trotz Bemühungen der Regierung, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, sind Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken, durch die sie marginalisiert werden, nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf (s. zu diesem Absatz UNHCR a. a. O.). Des Weiteren werden Personen, welche in der Wahrnehmung der Taliban gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte verstoßen haben, Berichten zufolge von den Taliban getötet, angegriffen und bedroht (vgl. UNHCR a. a. O. S. 63).
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Bei der Klägerin sind die Voraussetzungen für eine o. g. Verfolgung als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe unter Berücksichtigung der hier zu beachtenden Einzelfallumstände zu bejahen, da ihr infolge des erlangten Grades ihrer westlichen Identitätsprägung jedenfalls nicht zugemutet werden kann, sich den in Afghanistan erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen.
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Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Klägerin die in Afghanistan erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen gar nicht persönlich kennengelernt hat, da sie 1992 im Iran geboren wurde und sich noch nie in ihrem Leben in Afghanistan aufgehalten hat. Sie konnte jedenfalls die aktuellen Gewohnheiten in Afghanistan auch nicht durch ihre afghanische Familie erfahren, da ihre Mutter bereits mit sieben Jahren und ihr Vater vor über 30 Jahren aus Afghanistan in den Iran ausgereist sind und sie glaubhaft in der Anhörung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass sie auch über keine ihr bekannten Verwandten in Afghanistan verfügt.
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Darüber hinaus hat die Klägerin durch ihr äußeres Erscheinungsbild und insbesondere ihr Auftreten in der mündlichen Verhandlung für das Gericht glaubhaft den Eindruck vermittelt, dass sie zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung durch ihre Vergangenheit und insbesondere ihren nunmehr über zwei Jahre andauernden Aufenthalt im Bundesgebiet eine derartige Prägung erfahren hat, dass es ihr jedenfalls infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht zugemutet werden kann, bei einer erstmaligen Einreise in die Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen.
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Die Klägerin verfügt mit dem im Iran erworbenen Abitur über eine weit überdurchschnittliche Bildung, welche bei den Frauen in Afghanistan nur äußerst selten anzutreffen ist, weshalb sie bereits aus diesem Grund auffällig wäre. Darüber hinaus gab die Klägerin bereits in der Anhörung vor dem Bundesamt am 18. Oktober 2016 an, dass sie auch studieren möchte, was der in Afghanistan üblichen Rolle der Frau als Hausfrau weiter widerspricht. Die Klägerin machte auch durch das fehlende Tragen eines Kopftuches und ihre übrige Kleidung in der mündlichen Verhandlung, welche sich in keiner Weise von deutschen Frauen unterschied, deutlich, dass sie sich den hiesigen Lebensgewohnheiten angepasst hat. Die Klägerin wirkte bei ihrem Auftreten und ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig und es bestand kein Grund zu der Annahme, dass sie sich für die mündliche Verhandlung besonders gekleidet hätte.
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Vor allem aber vermittelte die Klägerin am Ende der mündlichen Verhandlung durch ihre spontanen und umfassenden Angaben den glaubhaften Eindruck, dass sie nunmehr keine Schiitin mehr sei, sondern keinen Glauben mehr habe und Ansichten vertritt, die dem üblichen afghanischen Frauenbild sehr deutlich entgegenstehen. Nach Befragung zu ihrem Verfolgungsschicksal und nach Stellung der Anträge durch ihren Rechtsanwalt hat die Klägerin von sich aus angefangen, auf ihre nunmehr fehlende Religion hinzuweisen. Sie gab hiernach an, dass aus ihrer Sicht Männer und Frauen gleichberechtigt sein sollten. Sie führte aus, dass sie im Iran keine Fragen stellen konnte und nicht sagen konnte, dass sie keine Muslimin sein. Sie möchte aber denken können und frei sei. Der Islam sei nicht ihre Meinung und sie möchte kein Buch, dass ihr eine Meinung vorschreibe. Sie möchte auch nicht heiraten. Durch die Art und Weise dieser und weiterer Angaben war das Gericht davon überzeugt, dass diese Ausführungen nicht aus asyltaktischen Gründen erfolgten, sondern dieser spontane Ausbruch ihrer Gedanken ihre tatsächlichen und ernsthaften Überzeugungen widerspiegelte. Durch ihre bereits sehr guten Deutschkenntnisse wies sie überdies ihren überdurchschnittlichen Bildungsstand nach, da die vorgenannten Ausführungen und auch ihre gesamte vorherige Befragung in der mündlichen Verhandlung in deutscher Sprache erfolgten und sie nur bei wenigen Worten die Hilfe des Dolmetschers in Anspruch nahm.
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Durch die zuvor dargestellte eigene Meinungsbildung und ihre selbstbewusste Meinungsäußerung hat die Klägerin gezeigt, dass sie sich westlichen Anschauungen angeschlossen hat und nicht den Traditionen und Gebräuchen des Islam unterworfen ist, wie er in Afghanistan praktiziert wird. Durch die von ihr getätigten Angaben in der Anhörung vor dem Bundesamt und vor allem bei ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass ihre Ausführungen ihre tatsächliche westlich geprägte offene Lebenseinstellung und Lebensweise wiedergeben.
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Aus diesen Gründen hält es das Gericht für unzumutbar, die Klägerin zu zwingen, sich nunmehr einem dem traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan angepassten Lebensstil zu unterwerfen. Denn sie müsste dafür den wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben und würde dadurch in ihrer Menschenwürde verletzt (vgl. Nds. OVG im Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 – Juris). Mit ihrem westlich geprägten Verhalten würde die Klägerin im Fall der Rückkehr in ihre Heimat unweigerlich wieder auffallen und wäre mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtspezifischen Gewaltakten, Belästigungen und Diskriminierungen ausgesetzt, die in ihrer Kumulation einer schweren Menschenrechtsverletzung gleichkämen (vgl. Nds. OVG a. a. O.).
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Gründe, welche der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegenstehen, sind bei der Klägerin nicht ersichtlich. Insbesondere zeigt sich nicht, dass der Klägerin die in § 3 d AsylG (s. o.) genannten Akteure Schutz vor der ihr drohenden Verfolgung bieten können. Denn die afghanischen staatlichen Akteure aller drei Gewalten sind entweder nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte in Afghanistan zu schützen (vgl. Nds. OVG a. a. O. m. w. N.).
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Der Klägerin steht auch keine interne Fluchtalternative i. S. d. § 3 e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Nach Auffassung des Gerichts besteht im gesamten Staat Afghanistan kein relevanter Zufluchtsort, der der Klägerin ausreichend Schutz vor einer Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu der o. g. bestimmten sozialen Gruppe bietet. Denn die Klägerin hat nach Überzeugung des Gerichts eine derart nachhaltige westliche Prägung erfahren, dass sie auch in weniger konservativen Landesteilen der Islamischen Republik Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt wäre (vgl. Nds. OVG im Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 – Juris). Dies gilt umso mehr, als die Klägerin noch nie in diesem Land gelebt hat und mit den dortigen strengen Verhaltensregeln für Frauen zuvor noch nie konfrontiert war. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die in den o. g. Erkenntnismitteln geschilderte Diskriminierung von afghanischen Frauen, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten in Afghanistan verstoßen, gerade nicht nur einen Teil von Afghanistan betrifft, sondern für das gesamte Land anzunehmen ist, auch wenn diese in ländlichen Gebieten nochmals verstärkt festzustellen ist.
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Die von der Klägerin angenommene Gefahr durch die Cousins ihres Vaters begründet dem hingegen unabhängig von der Glaubhaftigkeit des diesbezüglichen Vortrages nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da diese angenommene Verfolgung jedenfalls nicht an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG anknüpft.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 83 b AsylG.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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