Beschluss vom Verwaltungsgericht Halle (7. Kammer) - 7 B 125/18 HAL
Tenor
Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, gegenüber den zuständigen Stellen der Hellenischen Republik Griechenland darauf hinzuwirken, dass die Antragsteller zu 2. bis 8. binnen 6 Wochen in die Bundesrepublik Deutschland überstellt werden.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Gründe
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Die von den Antragstellern gestellten Anträge,
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1. der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, gegenüber den zuständigen Stellen der Hellenischen Republik Griechenland bis zum 4. Mai 2018 auf die Überstellung der Antragsteller 2. bis 8. in die Bundesrepublik Deutschland hinzuwirken,
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2. hilfsweise,
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der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, der griechischen Dublin-Einheit im Rahmen der zwischen den griechischen und deutschen Behörden vereinbarten Abstimmung der jeweiligen Maßnahme für die einzeln zu überstellenden Personen durch die Liasonbeamtin der Antragsgegnerin in der Hellenischen Republik Griechenland oder auf anderem Wege mitzuteilen, dass die Antragsteller zu 2. bis 8. von den vereinbarten Regelungen zur Anzahl von Personen bei der Überstellung ausgenommen sind,
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3. und der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, ihrer Prozessbevollmächtigten bis zum 18. April 2018 mitzuteilen, welche Maßnahmen die Antragsgegnerin zur Erfüllung von Ziffer 1. (bzw. 2) ergriffen hat,
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haben im tenorierten Umfang Erfolg.
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Der Antrag unter Ziffer 1. ist für alle Antragsteller zulässig. Der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller hat sowohl eine Vollmacht der in Griechenland aufhältigen Antragsteller zu 2. bis 8., wobei die minderjährigen Antragsteller zu 4. bis 8. nach familienrechtlichen Vorschriften von den Antragstellern zu 2. und 3. vertreten werden, als auch eine Vollmacht des Amtsvormundes des in Deutschland aufhältigen minderjährigen Antragstellers zu 1. vorgelegt. Sämtliche Antragsteller dürften für dieses Begehren antragsbefugt analog § 42 Abs. 2 VwGO sein, da die dem Kindeswohl und dem Schutz der Familie dienenden Regelungen der Art 6, 8 Abs. 3 und 10 Dublin-III-VO dem in Deutschland (als dem danach zuständigen Mitgliedsstaat der EU) ansässigen Minderjährigen bzw. denjenigen Familienangehörigen, die aus einem nicht zuständigen Mitgliedstaat in den zuständigen Staat überstellt werden wollen, ein subjektives Recht auf die Einhaltung der besagten Bestimmungen zu sein Gunsten verbriefen dürfte (vgl. VG Wiesbaden, Beschluss vom 9. März 2018 - 4 L 444/18.WI.A -, juris).
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Der Antrag ist auch begründet.
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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf das streitige Rechtsverhältnis erlassen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder wenn die Regelung aus anderen Gründen nötig erscheint. Der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sowie die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. den §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft zu machen. Wird mit einer Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO die Hauptsache ganz oder teilweise vorweggenommen und dadurch in aller Regel ein faktisch endgültiger Zustand geschaffen, kann eine Regelung nur ergehen, wenn der Antragsteller in der Hauptsache zumindest überwiegende Erfolgsaussichten hat und schlechthin unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Nachteilen ausgesetzt wäre, wenn er auf den rechtskräftigen Abschluss eines Klageverfahrens verwiesen werden müsste. Überwiegende Aussichten in der Hauptsache bestehen hingegen nur dann, wenn der geltend gemachte Anspruch mit größter Wahrscheinlichkeit begründet ist und aller Voraussicht nach auch im Hauptsacheverfahren bestätigt werden wird (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 5. Januar 2007 - 1 M 1/07 -, juris).
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Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Art. 9 Dublin III-Verordnung bestimmt: Hat der Antragsteller einen Familienangehörigen, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist nach Art. 9 Dublin III-Verordnung dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.
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Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der minderjährige Antragsteller zu 1. hat in der Bundesrepublik Deutschland internationalen Schutz beantragt und erhalten: Ihm wurde der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt und er hat eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Er ist gegenüber den Antragstellern zu 2. und 3. Familienangehöriger gemäß Art. 2 lit. g Dublin III-VO. Die Antragsteller zu 2. bis 3. und deren weitere Kinder, die Antragsteller zu 4. bis 8., die sich zusammen in Griechenland aufhalten, haben dort die Familienzusammenführung durch Überstellung nach Deutschland beantragt, der Antragsteller zu 1. hat den Wunsch auf Familienzusammenführung ebenfalls schriftlich geäußert (Blatt 30 der BAMF-Akte). Hierauf hat Griechenland am 24. März 2017 Deutschland um Übernahme der Antragsteller zu 2. bis 8. ersucht. Diesem Ersuchen hat das Bundesamt am 12. Juni 2017, korrigiert am 13. Juli 2017, gemäß Art. 10 Dublin III-VO entsprochen und erklärt, dass die Antragsteller von Deutschland übernommen werden.
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Damit ist Deutschland für den Asylantrag der Antragsteller zu 2. bis 8. zuständig geworden, Deutschland hat sie aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für ihre Ankunft zu treffen (Art. 18 Abs. 1a, 22 Abs. 7, 29 Abs. 1 Dublin III-VO). Hierauf haben die Antragsteller auch einen Anspruch, denn die Vorschriften über den Vorrang der Familienzusammenführung im Dublin-Verfahren (Art. 8 bis 11 Dublin III-VO, hier Art. 10 Dublin III-VO) dienen offensichtlich auch dem Schutz der jeweils betroffenen Familienangehörigen (vgl. VG Wiesbaden, Beschluss vom 9. März 2018 - 4 L 444/18.WI.A - und Beschluss vom 15. September 2017 - 6 L 4438/17 -; VG Freiburg, Beschluss vom 8. Mai 2018 - A 4 K 11125/17 -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Februar 2018 - 22 L 442/18.A -; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 7. März 2018 - 15a 435/18.A -; zitiert nach juris).
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Diesem Anspruch der Antragsteller auf Familienzusammenführung, der umfasst, dass die Überstellung auch tatsächlich erfolgt und Deutschland hieran mitwirkt, steht der Ablauf der Überstellungsfrist nicht entgegen (vgl. VG Wiesbaden, Beschluss vom 9. März 2018 - 4 L 444/18.WI.A -; VG Freiburg, Beschluss vom 8. Mai 2018 - A 4 K 11125/17 -; a.A. wohl VG Ansbach, Beschluss vom 9. Februar 2018 - AN 14 E 17.51345 -, juris). Zwar bestimmt Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO, dass, wenn die Überstellung nicht innerhalb von sechs Monaten durchgeführt wird, der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Im Hinblick auf die Verwaltungspraxis des Bundesamts bei der Überstellung von Familienangehörigen aus Griechenland, die ersichtlich nicht auf Einhaltung der 6-Monats-Frist, sondern auf eine Begrenzung des Familiennachzugs ausgerichtet ist (zur Verwaltungspraxis vgl. auch Wohnig, Anmerkung zum Beschluss des VG Wiesbaden vom 9. März 2018 - 4 L 444/18.WI.A -), gilt der Anspruch auf Familienzusammenführung auch nach Ablauf der Überstellungsfrist weiter. Auf der Grundlage der mitgeteilten Zahlen von bewilligten und tatsächlich erfolgten Überstellungen von Griechenland nach Deutschland (vgl. Antworten der Bundesregierung auf schriftliche Fragen der Bundestagsabgeordneten Jelpke aus September, August, Juni und Mai 2017 [Anlagen 7 bis 10 zur Antragsschrift]) ist offensichtlich, dass in der ganz überwiegenden Zahl der bewilligten Überstellungen eine solche nicht innerhalb des Sechs-Monats-Frist erfolgt (vgl. VG Freiburg, a.a.O.), was nahelegt, dass die Bundesrepublik ihrer Verpflichtung zur Übernahme nicht hinreichend nachkommt.
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Dass sich hieran in jüngster Zeit etwas geändert hätte, ist nicht ersichtlich. Zu den den Entscheidungen des VG Freiburg und VG Wiesbaden zugrundeliegenden tatsächlichen Annahmen, etwa, dass es eine Entscheidungspraxis gibt, nach der die Bundesrepublik Deutschland Einfluss auf die zu überstellenden Personen hat, dass aber im Übrigen eine Kontingentierung vorgesehen ist (VG Wiesbaden, Beschluss vom 15. September 2017 - 6 L 4438/17.WI.A -, juris), dass die griechischen Behörden von einer Überstellung absehen, weil die Antragsgegnerin darum gebeten hat, nur eine begrenzte Zahl an Überstellungen zeitnah auszuführen (VG Freiburg, Beschluss vom 8. Mai 2018 - A 4 K 11125/17 -) hat sich das Bundesamt nicht geäußert. Auch in anderen Verfahren hat die Antragsgegnerin zur Sache nicht näher vorgetragen (vgl. VG Freiburg a.a.O., unter Verweis auf die vom VG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Februar 2018 - 22 L 442/18.A -, juris RdNr. 7 ff. wiedergegebenen Äußerungen des Leiters des Referats DU 2 des Bundesamts).
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Der Ablauf der Überstellungsfrist kann vor diesem Hintergrund dem Anspruch auf Übernahme der Antragsteller zu 2. bis 8. nicht entgegen gehalten werden. Die Antragsgegnerin macht auch selbst nicht geltend, die Angehörigen des Antragstellers nicht mehr übernehmen zu wollen. Im Übrigen dürfte sie wegen der Verletzung ihrer Pflicht zur Übernahme auch eine Folgenbeseitigungslast treffen (vgl. VG Freiburg, a.a.O).
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Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin hat der Übernahme der Antragsteller bereits vor einem Jahr zugestimmt, ohne dass bisher ein konkreter Termin für die tatsächliche Überstellung auch nur in Aussicht gestellt worden ist. Es steht daher zu besorgen, dass die Antragsgegnerin auch in absehbarer Zeit die Überstellung nicht zu organisieren in der Lage oder bereit ist. Eine fortdauernde Trennung der Familie und damit Vereitelung ihres Anspruchs auf Zusammenführung ist den Antragstellern aber nicht zumutbar. Dies gilt insbesondere für den allein in Deutschland lebenden minderjährigen Antragsteller zu 1. Dass mit der Anordnung die Hauptsache vorweggenommen wird, ist unschädlich, da ansonsten effektiver Rechtsschutz nicht erreicht werden könnte.
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Das Gericht hat hier eine Frist von 6 Wochen für ausreichend erachtet, die Überstellung der Antragsteller zu 2. bis 8. nach Deutschland zu bewerkstelligen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Referenzen
- § 83b AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 6 L 4438/17 2x (nicht zugeordnet)
- 22 L 442/18 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 42 1x
- ZPO § 920 Arrestgesuch 1x
- 1 M 1/07 1x (nicht zugeordnet)
- § 80 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- VwGO § 123 3x
- 4 K 11125/17 3x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 294 Glaubhaftmachung 1x
- § 25 Abs. 2 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 4 L 444/18 4x (nicht zugeordnet)