Urteil vom Verwaltungsgericht Hamburg (8. Kammer) - 8 A 275/19

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom […] 2018, soweit dieser entgegensteht, verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des Status als subsidiär Schutzberechtigte und äußerst hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots.

2

Die Klägerin ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit.

3

Am […] 1982 heiratete die Klägerin im Irak Herrn […]. Die Ehe wurde am […] 1992 registriert.

4

Im Jahre 1998 schloss dieser mit Frau […] eine weitere Ehe, die am […] 2004 registriert wurde.

5

Beide verließen den Irak im Jahre 2012. Herr […] reiste am […] 2013 in das Bundesgebiet ein, Frau […] am […] 2013. Sie stellten kurz nach ihrer Einreise Asylanträge.

6

Mit Bescheiden vom […] 2014 erkannte die Beklagte ihnen die Flüchtlingseigenschaft zu, Herrn […] aufgrund einer im Irak erlittenen Verfolgung und Frau […] als dessen Ehegattin gemäß § 26 AsylG.

7

Am […] 2018 entsprach die Beklagte einem die Klägerin betreffenden Übernahmeersuchen aus Tschechien, wo sich diese seit ihrer Einreise aus der Türkei aufhielt. Am 23. April 2018 reiste die Klägerin von Tschechien auf dem Luftweg über den Flughafen Düsseldorf in das Bundesgebiet ein. Ausweislich der Anlaufbescheinigung vom selben Tag wurde die Klägerin verpflichtet, sich in die Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung in Hamburg zu begeben. Am 7. Mai 2018 erschien die Klägerin im dortigen Ankunftszentrum. Sie stellte am 11. Mai 2018 einen förmlichen Asylantrag.

8

Im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am […] 2018 gab die Klägerin ausweislich der Anhörungsniederschrift im Wesentlichen an, sie habe sich bis zu ihrer Ausreise in der Provinz Ninive im Distrikt Shingal (Sinjar) in dem Dorf […] aufgehalten. Im August 2014 sei sie vor dem Islamischen Staat in die Türkei geflohen.

9

Am […] 2018 verzichtete die Beklagte im Rahmen einer durch die Asylantragstellung der Klägerin veranlassten Prüfung auf die Aufhebung des Herrn […] betreffenden Bescheides vom […] 2014.

10

Mit Bescheid vom […] 2018 lehnte die Beklagte den Asylantrag der Klägerin ab und drohte ihr die Abschiebung in die Republik Irak an. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Die IS-Miliz sei mittlerweile aus dem Distrikt Sinjar vertrieben worden. In der Region Kurdistan seien Jesiden weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Familienflüchtlingsschutz sei der Klägerin ebenfalls nicht zuzuerkennen. Dieser sei nur für einen Ehegatten möglich und bereits für die zweite Ehefrau des stammberechtigten Ehemannes abgeleitet worden. Hierbei sei unerheblich, dass die Klägerin die erste Ehefrau des Stammberechtigten sei. Abzustellen sei insoweit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung, der bei der zweiten Ehefrau früher gewesen sei. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen mit Blick auf die Gefahrenlage für Zivilpersonen in der Provinz Ninive nicht vor. Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht festzustellen, insbesondere nicht aufgrund der derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak.

11

Die Klägerin hat hiergegen am […] 2018 Klage erhoben. Zur Begründung trägt ihre Prozessbevollmächtigte im Wesentlichen vor, die Klägerin habe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht nur aus § 3 AsylG, sondern auch aus § 26 AsylG. Bei ihr handle es sich nicht um die zweite, sondern um die erste Ehefrau von Herrn […]. Die Ehe zwischen der Klägerin und Herrn […] sei rechtswirksam nach dem irakischen Familienrecht geschlossen worden, und beide hätten im Irak bis zur Flucht des Ehemannes in ehelicher Lebensgemeinschaft gelebt. Namentlich habe die Klägerin in […] mit ihrem Ehemann, mit der zweiten Ehefrau ihres Ehemannes, sowie mit ihren Kindern und den Kindern der zweiten Ehefrau ihres Mannes zusammengewohnt. Auch hier in der Bundesrepublik Deutschland lebten die Klägerin und ihr Ehemann mit ihren unverheirateten Kindern unter derselben Anschrift zusammen.

12

Die Klägerin beantragt,

13

unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom […] 2018, soweit dieser entgegensteht, die Beklagte zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen,

14

hilfsweise ihr den Status als subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen,

15

äußerst hilfsweise festzustellen, dass zu ihren Gunsten die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Republik Irak vorliegen.

16

Aus dem schriftsätzlichen Vorbringen der Beklagten ergibt sich der Antrag,

17

die Klage abzuweisen.

18

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sich die Beklagte auf die angegriffene Entscheidung und führt weiter aus, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Familienflüchtlingsschutzes sei kein anderes Ergebnis gerechtfertigt. Art. 6 Abs. 1 GG schütze allein die Verbindung eines Mannes mit einer Frau. § 26 AsylG sei daher dergestalt auszulegen, dass Familienschutz nach dem Prinzip der grundgesetzlich geschützten Einehe auch nur für jeweils einen Ehegatten möglich sei. Dies gelte selbst dann, wenn die Ehen im Herkunftsland wirksam geschlossen worden seien. Vorliegend sei bereits einer Ehefrau des Ehemannes der Klägerin abgeleiteter Schutz gewährt worden. Eine darüberhinausgehende Ableitung für eine zweite Ehefrau komme nicht in Betracht.

19

Die Kammer hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört. Wegen ihrer Angaben wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Asylakten sowie auf die Erkenntnismittel Bezug genommen, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind.

Entscheidungsgründe

I.

20

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass für die Beklagte in der mündlichen Verhandlung niemand erschienen ist. Hierauf ist die Beklagte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

21

Die zulässige Klage ist begründet.

22

Der Klägerin steht im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Soweit der angegriffene Bescheid dies versagt, ist er rechtswidrig und verletzt die Klägerin gemäß § 113 Abs. 1, 5 VwGO in ihren Rechten (dazu 1.). Die Abschiebungsandrohung ist dementsprechend aufzuheben (dazu 2.).

23

1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 AsylG.

24

Nach den genannten Vorschriften wird dem Ehegatten oder dem Lebenspartner eines Ausländers, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar ist (Nr. 1), die Ehe oder Lebenspartnerschaft schon in dem Staat bestanden hat, in dem derjenige, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, politisch verfolgt wird (Nr. 2), der Ehegatte oder der Lebenspartner vor der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eingereist ist oder er den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat (Nr. 3) und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist (Nr. 4). Diese Voraussetzungen liegen vor.

25

a. Mit Bescheid vom […] 2014 erkannte die Beklagte Herrn […] aufgrund einer im Irak erlittenen Verfolgung die Flüchtlingseigenschaft zu. Der Bescheid ist unanfechtbar und ausweislich des Ergebnisses seiner Überprüfung vom […] 2018 auch weder zu widerrufen noch zurückzunehmen.

26

b. Zwischen Herrn […] und der Klägerin bestand schon im Irak eine Ehe.

27

aa. Ehe im Sinne von § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG ist die bereits im Herkunftsstaat eingegangene und von diesem als Ehe anerkannte Lebensgemeinschaft (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.2005, 1 C 17/03, Rn. 9, und VGH Kassel, Urt. v. 6.11.2018, 3 A 247/17.A, Rn. 11, beide juris). Dieses Begriffsverständnis folgt nicht nur aus dem Wortlaut der Norm, der auf den zivilrechtlichen Ehebegriff verweist; in systematischer Hinsicht ist ferner zu berücksichtigen, dass sowohl im Völkerrecht als auch im Flüchtlingsvölkerrecht der Rückgriff auf das Personalstatut des Heimatstaats verbindlich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.2005, 1 C 17/03, Rn. 9, juris, unter Hinweis auf Art. 12 Abs. 1 GFK).

28

Den Anforderungen dieses Ehebegriffs genügt die Ehe zwischen Herrn […] und der Klägerin, die ausweislich der in Kopie vorgelegten Heiratsurkunde (Bl. […] der Gerichtsakte) am […] 1982 geschlossen und am […] 1992 registriert wurde.

29

Unschädlich ist, dass der Ehegatte der Klägerin bereits im Irak eine weitere Ehe einging, die am […] 2004 registriert wurde (Bl. […] der Gerichtsakte).

30

Denn in der Republik Irak ist die Eheschließung eines Mannes mit mehr als einer Frau gemäß Art. 3 Abs. 4 und 7 des Personalstatusgesetzes in der Fassung vom 2. Juli 1999 zulässig (vgl. zur deutschsprachigen Übersetzung der Norm https://www.familienrecht-in-nahost.de/22948/irak-PSG-Ehe, zuletzt abgerufen am 7.5.2020, ferner CEDAW, Seventh periodic report submitted by Iraq, 15.8.2018, S. 39, sowie BFA, Anerkennung traditionell geschlossener Ehe, 26.7.2018, S. 2 f.). Erst recht bleibt danach die Wirksamkeit der ersten Ehe vom Eingehen einer weiteren Ehe unberührt.

31

Die von dem aufgezeigten Begriffsverständnis ermöglichte Ableitung von Flüchtlingsschutz in Mehrehen (vgl. dazu bereits VGH Kassel, Urt. v. 6.11.2018, 3 A 247/17.A, Rn. 11, juris, VG Darmstadt, Gerichtsbesch. v. 5.9.2002, 3 E 1490/02.A(4), NVwZ-Beilage I 3/2003, S. 23 [obiter dictum], sowie Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 26 AsylG, Rn. 12, Epple in GK-AsylG, 119. Ergänzungslieferung März 2019, § 26 Rn. 39 f., Günther in BeckOK, Ausländerrecht, 24. Edition 1.11.2019, § 26 Rn. 8, Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 27; Schröder in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl 2016, § 26 AsylG, Rn. 8, Hailbronner, Ausländerrecht, 86. Aktualisierung Juni 2014, § 26 AsylG, Rn. 35) ist im hiesigen Fall auch mit dem Sinn und Zweck der Norm (dazu (1.)) sowie mit höherrangigem Recht (dazu (2.)) vereinbar.

32

(1.) Eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereiches von § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG dahingehend, dass vom Begriff der Ehe nur die Einehe umfasst ist, ist nicht angezeigt. Vielmehr ist die tatbestandliche Berücksichtigung von Ehegatten in Mehrehen nach dem Sinn und Zweck der Norm geboten.

33

Denn die Gewährung von abgeleitetem Flüchtlingsschutz an Ehegatten folgt insbesondere der Erwägung, dass dies wegen der Nähe des Ehegatten zum Verfolgungsgeschehen und der daraus gleichfalls für ihn herrührenden Gefahr – die ungeprüft bleibt – gerechtfertigt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.1.1992, 9 C 63/91, Rn. 12, Urt. v. 15.12.1992, 9 C 61/91, Rn. 7, sowie VGH München, Urt. v. 5.9.2019, 21 B 16.31043, Rn. 19, VG Karlsruhe, Urt. v. 29.1.2018, A 3 K 6202/16, Rn. 28; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 18.12.2019, 1 C 2/19, Rn. 19, alle juris). Hierbei wird die richterrechtlich entwickelte Regelvermutung weitergeführt, welche an die Erfahrung anknüpft, dass im Kampf gegen oppositionelle Kräfte unduldsame Staaten dazu neigen, anstelle des politischen Gegners, dessen sie nicht habhaft werden können, auf Personen zurückzugreifen, die dem Verfolgten besonders nahestehen, um hierdurch in der einen oder anderen Weise ihr auf Unterdrückung abweichender Meinungen gerichtetes Ziel doch noch zu erreichen (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.7.1985, 9 C 35/84, Rn. 7, Urt. v. 21.1.1992, 9 C 63/91, Rn. 12 sowie Beschl. v. 18.12.2019, 1 C 2/19, Rn. 19, alle juris). Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, dass sich die weiteren Ehegatten des Verfolgten, die mit diesem schon im Herkunftsstaat zusammenlebten (vgl. zu diesem Erfordernis noch unter lit. bb.), in einer von derjenigen des ersten Ehegatten abweichenden Gefährdungslage befanden bzw. befinden (so auch Epple in GK-AsylG, 119. Ergänzungslieferung März 2019, § 26 Rn. 40, und Günther in BeckOK, Ausländerrecht, 24. Edition 1.11.2019, § 26 Rn. 8 und 2).

34

Die darüber hinaus bestehenden Gesetzeszwecke – namentlich die Entlastung von Behörden und Gerichten, die Erleichterung der Integration der engen Familienangehörigen sowie die Berücksichtigung des Gedankens der Familieneinheit (vgl. dazu Hailbronner, Ausländerrecht, 108. Aktualisierung Januar 2019, § 26 AsylG, Rn. 3, unter Hinweis auf BT-Drs. 11/6960, S. 29 f. und BT-Drs. 15/420, S. 109, während in BVerwG, Beschl. v. 18.12.2019, 1 C 2/19, Rn. 19, juris, nur von einer „Doppelfunktion“ die Rede ist: Schutz der dem Verfolgten besonders nahestehenden Personen vor Verfolgung und Wahrung der Familieneinheit) – zwingen ebenfalls nicht dazu, den Begriff der Ehe in § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG enger zu fassen, da die Berücksichtigung von Ehegatten in Mehrehen ihnen nicht zuwiderläuft.

35

(2.) Das dargestellte Begriffsverständnis ist im vorliegenden Fall auch nicht mit höherrangigem Recht unvereinbar.

36

Dies gilt zunächst mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG.

37

Zwar gebietet es Art. 6 Abs. 1 GG nicht, die Mehrehe als vom Begriff der Ehe in § 26 Abs. 1 AsylG umfasst anzusehen (vgl. Epple in GK-AsylG, 119. Ergänzungslieferung März 2019, § 26 Rn. 40; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschl. v. 3.6.1991, 2 BvR 720/91, juris, Rn. 3, sowie BVerwG, Urt. v. 7.3.1995, 9 C 389/94, Rn. 11, beide juris, die ein unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 GG folgendes Asylrecht von Familienangehörigen verneinen). Das Art. 6 Abs. 1 GG innewohnende Prinzip der Einehe als verfassungsrechtliches Strukturprinzip steht der Schutzgewährung an Ehegatten in Mehrehen jedoch auch nicht entgegen.

38

Insoweit ist – anders als die Beklagte mit Teilen der Rechtsprechung meint (vgl. etwa VG Oldenburg, Urt. v. 19.10.2011, 3 A 2625/10, UA S. 9 ff., m.w.N.; vgl. ferner krit. OVG Lüneburg, Beschl. v. 21.3.2012, 13 LA 245/11, BA S. 5, beide juris) – zwischen dem Recht des Familiennachzugs und demjenigen des Familienflüchtlingsschutzes zu differenzieren.

39

Die ausländerrechtlichen Familiennachzugsregeln in §§ 27 ff. AufenthG sollen den grundgesetzlich (und von der Richtlinie 2003/86/EG mittlerweile auch unionsrechtlich) gebotenen Schutz von Ehe und Familie einfachgesetzlich ausformen: Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist nicht auf rein inlandsbezogene Ehen beschränkt; vielmehr umfasst er eheliche und familiäre Lebensgemeinschaften unabhängig davon, wo und nach Maßgabe welcher Rechtsordnung sie begründet wurden und ob die Rechtswirkungen des ehelichen oder familiären Bandes nach deutschem oder ausländischem Recht zu beurteilen sind. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Lebensgemeinschaften ehelicher und familiärer Art, die der Vorstellung des Grundgesetzes von Ehe und Familie fremd sind, ohne Weiteres dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG unterfielen (vgl. nur Tewocht in BeckOK AuslR, 25. Edition, 1.3.2020, § 27 AufenthG, Rn. 42). Insoweit kommt der Bezugnahme von § 27 AufenthG auf Art. 6 Abs. 1 GG eine anspruchsbegrenzende Funktion zu (vgl. Tewocht in BeckOK AuslR, 25. Edition, 1.3.2020, § 27 AufenthG, Rn. 42, sowie zu § 17 AuslG a. F. BT-Drs. 11/6321, S. 60, und VGH Mannheim, Beschl. v. 21.8.2007, 11 S 995/07, Rn. 4, juris [„begrenzende Funktion“]). Bei der Auslegung und Anwendung von an das Institut der Ehe anknüpfenden gesetzlichen Regelungen sind namentlich die sich aus der Verfassung selbst ergebenden Strukturprinzipien zu berücksichtigen; hieran gemessen wurde die Nachzugsberechtigung von Ehegatten in Mehrehen unter Verweis auf das Art. 6 Abs. 1 GG immanente Prinzip der Einehe bereits vor Umsetzung der Richtlinie 2003/86/EG durch § 30 Abs. 4 AufenthG eingeschränkt (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 6.1.2009, 18 B 1914/08, Rn. 16, sowie VGH Mannheim, Beschl. v. 21.8.2007, 11 S 995/07, Rn. 4; offenlassend, ob die „polygame Ehe in jeder Hinsicht außerhalb des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 1 GG steht oder nicht“, BVerwG, Urt. v. 30.4.1985, 1 C 33/81, Rn. 20, alle juris).

40

Die in § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG geregelte Anspruchsberechtigung knüpft demgegenüber nicht an das von Art. 6 Abs. 1 GG garantierte Institut der Ehe an. Während im Recht des Familiennachzugs der Schutzgehalt von Art. 6 Abs. 1 GG sowohl den Grund als auch die Grenze der Anspruchsberechtigung vorgibt, folgt die statusrechtliche Gleichstellung von Schutzberechtigten und Ehegatten nicht aus dem grundgesetzlichen Schutz der ehelichen Lebensgemeinschaft. Sie fußt vielmehr auf den tatsächlichen Auswirkungen des solchen Lebensgemeinschaften immanenten Näheverhältnisses, das in Weiterführung der vorerwähnten richterrechtlichen Regelvermutung für eine typisierte Gefährdungsbeurteilung herangezogen wird. Damit wird der Umfang des zu gewährenden Familienflüchtlingsschutzes zwar durch die tatsächliche eheliche Verbundenheit bestimmt, nicht aber von der verfassungsrechtlichen Schutzwürdigkeit des Verwandtschaftsverhältnisses abhängig gemacht. Der Schutz der Ehe stellt sich mit anderen Worten als Reflex des individuellen Schutzes der dem Stammberechtigten nahestehenden Personen dar (vgl. ähnlich bereits VG Karlsruhe, Urt. v. 29.1.2018, A 3 K 6202/16, Rn. 16, juris, m.w.N.: „Maßgeblich war dabei jedoch nicht der Schutz des Familienverbundes als solcher, sondern der Schutz der einzelnen Familienangehörigen vor Repressalien des Verfolgerstaats […]. Ziel der Regelungen über das Familienasyl ist daher mitnichten der absolute Schutz des Familienverbands als solchen mittels Zuerkennung eines gleichwertigen flüchtlingsrechtlichen Schutzstatus, sondern dessen an eine Verfolgungsgemeinschaft bzw. ein gemeinsames Verfolgungsschicksal anknüpfender und damit relativer Schutz […].“).

41

Die Berücksichtigung von Mehrehen nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG ist vorliegend auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie mit den Maßgaben der Richtlinie 2011/95/EU unvereinbar und deshalb unionsrechtswidrig wäre.

42

Insbesondere folgt dies nicht aus der näheren Bestimmung des Begriffs der „Familienangehörige[n]“. Zwar grenzt der Wortlaut des Art. 2 Buchst. j, erster Spiegelstrich RL 2011/95/EU den Anwendungsbereich von Art. 23 RL 2011/95/EU auf Einehen ein, indem dort lediglich von „der Ehegatte“ im Singular die Rede ist und in der Folge auf im nationalen Ausländerrecht vergleichbar behandelte „nicht verheiratete Paare“ abgestellt wird. Art. 3 RL 2011/95/EU ermöglicht jedoch auch eine über diesen Wortlaut hinausgehende (überschießende) Umsetzung des Unionsrechts. Danach können die Mitgliedstaaten günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind. Dies bedeutet nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass eine günstigere Norm die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährden darf; insbesondere sind Normen verboten, die die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkennen sollen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen. Das gilt u. a. für Normen, die diese Eigenschaft oder diesen Status Personen zuerkennen, die unter einen der in Art. 12 RL 2011/95/EU genannten Ausschlussgründe fallen (EuGH, Urt. v. 4.10.2018, C-652/16, Rn. 71; vgl. ferner BVerwG, Beschl. v. 18.12.2019, 1 C 2/19, Rn. 17 ff., beide juris). Die so verstandenen Voraussetzungen von Art. 3 RL 2011/95/EU liegen vor.

43

Ein Ausschlussgrund nach Art. 12 RL 2011/95/EU ist nicht dargelegt oder sonst erkennbar. Die auf § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG gestützte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft weist ferner einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes auf. Denn die statusrechtliche Gleichstellung von Ehegatten in Mehrehen nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG gewährleistet – wie gesehen – den aufgrund eines besonderen Näheverhältnisses erforderlichen Schutz vor solchen Verfolgungsgefahren, die Gegenstand des internationalen Schutzes sind.

44

Der Annahme eines Zusammenhangs mit dem Zweck des internationalen Schutzes steht auch nicht der 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU entgegen. Danach sind Familienangehörige aufgrund der alleinigen Tatsache, dass sie mit dem Flüchtling verwandt sind, in der Regel gefährdet, in einer Art und Weise verfolgt zu werden, dass ein Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gegeben sein kann. Zwar nimmt der Wortlaut der Richtlinie insoweit lediglich auf „Familienangehörige“ (im oben dargestellten Sinne der Richtlinie) sowie auf den Zusammenhang von Verwandtschaft und Gefährdung Bezug. Da die hiermit erkennbar benannte Gefahr jedoch regelmäßig – wie dargelegt – nicht aus dem Verwandtschaftsverhältnis an sich, sondern aus dem damit einhergehenden Näheverhältnis resultiert (vgl. zu dieser Interpretation des Erwägungsgrundes auch BVerwG, Beschl. v. 18.12.2019, 1 C 2/19, Rn. 19) und ein solches Näheverhältnis – wie ebenfalls dargelegt – in Ein- und Mehrehen bestehen kann, schließt der Wortlaut des Erwägungsgrundes den erforderlichen Zusammenhang zwischen der Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes an Ehegatten in Mehrehen und dem internationalen Schutz nicht aus.

45

Nach alledem handelt es sich bei der hier verfahrensgegenständlichen Mehrehe um eine Ehe im Sinne des § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG.

46

bb. Diese Ehe bestand auch schon im Irak in dem Sinne, dass zwischen den Eheleuten in ihrem Herkunftsstaat in tatsächlicher Hinsicht eine Lebensgemeinschaft bestand (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, Urt. v. 15.12.1992, 9 C 61/91, Rn. 7, sowie VGH München, Urt. v. 5.9.2019, 21 B 16.31043, Rn. 19) und im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch bzw. wieder besteht (vgl. hierzu VG Berlin, Gerichtsbesch. v. 30.5.1996, 34 X 64.96, BeckRS 1996, 31185781, beck-online). Denn die Klägerin und ihr Ehegatte lebten bis zu dessen Ausreise in […] in der Provinz Ninive in häuslicher Gemeinschaft; auch im Bundesgebiet wohnen sie wieder zusammen. Die vorübergehende und fluchtbedingte Trennung der Eheleute ist unschädlich (vgl. erneut VG Berlin, Gerichtsbesch. v. 30.5.1996, 34 X 64.96, BeckRS 1996, 31185781, beck-online).

47

c. Die Klägerin stellte ihren Asylantrag gemäß § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Nr. 3 AsylG schließlich unverzüglich nach der Einreise.

48

Unverzüglich bedeutet nach der Legaldefinition des § 121 BGB ohne schuldhaftes Zögern. Der Antrag muss danach zwar nicht sofort, aber – unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände des Ausländers – alsbald gestellt werden. Dabei ist einerseits dem Ausländer eine angemessene Überlegungsfrist zuzubilligen, andererseits aber auch das öffentliche Interesse, möglichst rasch Rechtsklarheit zu schaffen, zur Geltung zu bringen. Im Hinblick auf die im gesamten Asylverfahrensrecht verkürzten Fristen ist eine Frist von zwei Wochen in der Regel angemessen und ausreichend. Ein späterer Antrag ist folglich regelmäßig nur dann rechtzeitig, wenn sich aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.5.1997, 9 C 35/96, Rn. 10, juris). Hieran gemessen liegt eine unverzügliche Antragstellung vor.

49

Dabei legt die Kammer als Datum der Antragstellung den 7. Mai 2018 zugrunde. Denn Antrag im Sinne des § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG ist bereits jedes Vorbringen, dem materiell ein Asylgesuch i.S.d. § 13 AsylG entnommen werden kann (VG Aachen, Urt. v. 5.3.2020, 5 K 2046/18.A, Rn. 23; vgl. auch OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.7.2019, 9 LA 87/19, Rn 11, beide juris). Ein solches Asylgesuch ist am 7. Mai 2018 aktenkundig geworden. Auf dem Anmeldebogen des Ankunftszentrums Hamburg von diesem Tag vermerkte die Klägerin als Grund ihrer Einreise „Asyl“ (Bl. […] der Asylakte).

50

Von der in der mündlichen Verhandlung geltend gemachten, früheren schriftlichen Antragstellung am […] 2018 durch die Prozessbevollmächtigte der Klägerin konnte sich die Kammer keine hinreichende Überzeugungsgewissheit verschaffen. Weder ergibt sich ein Antragseingang bei der Beklagten vor dem 7. Mai 2018 in nachvollziehbarer Weise aus der Asylakte der Klägerin noch hat die Klägerin selbst einen schriftlichen Nachweis über den Antragseingang vorgelegt. In der Asylakte befindet sich – ohne Eingangsstempel – lediglich das auf den […] 2018 datierte Antragsschreiben. Die Ladung der Klägerin zur Aktenanlage und erkennungsdienstlichen Behandlung datiert auf den […] 2018 (Bl. […] der Asylakte); nicht erkennbar ist, ob diese durch das Antragsschreiben vom […] 2018 oder durch das Asylgesuch vom 7. Mai 2018 veranlasst worden ist.

51

Die Antragstellung am 7. Mai 2018 erfolgte dennoch unverzüglich. Zwischen der Einreise am 23. April 2018 und dem 7. Mai 2018 liegen 14 Tage.

52

2. Nach dem Vorstehenden erweist sich auch die in dem angefochtenen Bescheid verfügte Abschiebungsandrohung als rechtswidrig. Die gesetzlichen Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG liegen nicht vor, weil der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.

III.

53

Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen