Urteil vom Verwaltungsgericht Hamburg (10. Kammer) - 10 A 20/19
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 13. Dezember 2018 – soweit dieser entgegensteht – verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und weiter hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich der Islamischen Republik Iran.
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Die Klägerin ist iranische Staatsangehörige persischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste ihrer Erstbefragung zufolge im Mai 2018 auf dem Luftweg von Iran über die Türkei, nach späteren Angaben bereits im Dezember 2017 auf dem Luftweg von Iran über die Niederlande in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 29. Oktober 2018 stellte sie einen Asylantrag.
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Am 3. Dezember 2018 hörte die Beklagte – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) – die Klägerin persönlich an. Diese gab ausweislich der hierzu aufgenommenen Niederschrift im Wesentlichen an, vor ihrer Ausreise aus Iran in der Wohnung einer Freundin in Teheran gelebt zu haben. Zu ihrem ebenfalls in Teheran wohnenden Ehemann, von dem sie seit Januar 2018 getrennt lebe, habe sie keinen Kontakt. Nach dem Schulabschluss habe sie einen Bachelor im Bereich Filmregie erworben und zuletzt in der Werbebranche gearbeitet. Im September 2016 habe sie eine Frau namens F kennen gelernt, die – wie sie später erfahren habe – Bahá‘í sei. Da es ihr – der Klägerin – aufgrund des Todes ihrer Mutter im Januar 2017 und beruflichen Drucks schlecht gegangen sei, habe sich ihre Bekannte um sie gekümmert, wodurch sie mit dem Bahaitum in Berührung gekommen sei; der Islam habe sie nie überzeugt. Nach der Trennung von ihrem Ehemann habe sie noch intensiveren Kontakt zu ihrer Bekannten gehabt und mehr über das Bahaitum erfahren wollen, weshalb sie hierzu auf einem Dienstcomputer recherchiert habe. Dies sei in ihrer Firma aufgefallen, eine Freundin habe ihr von gegen sie – die Klägerin – ausgesprochenen Drohungen des Firmenvorsitzenden berichtet. Aus Angst habe sie sich daraufhin bei einer Freundin versteckt. Durch ein Telefonat mit ihrer Putzfrau habe sie erfahren, dass ihre Wohnung gestürmt und durchsucht worden sei; in der Wohnung hätten sich Unterlagen über das Bahaitum befunden, die sichergestellt worden seien. Anschließend habe sie Kontakt zu einem Schleuser aufgenommen und sei mit dessen Hilfe ausgereist. In Deutschland besuche sie einen Glaubenskurs; in diesem Zusammenhang legte die Klägerin eine Bestätigung der Bahá‘í-Gemeinde Hamburg über die Teilnahme an Informationsveranstaltungen und an den Ruhi-Kursen 1 und 2 aus September 2018 vor. Im Übrigen wird auf die Niederschrift Bezug genommen.
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Mit Bescheid vom 13. Dezember 2018 lehnte die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), den Antrag auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) ab und stellte fest (Nr. 4), dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Weiter (Nr. 5 und 6) forderte sie die Klägerin zur Ausreise auf, drohte ihr die Abschiebung in die Islamische Republik Iran an und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbote gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, es sei nicht davon auszugehen, dass die Klägerin Iran aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Abwendung vom Islam bzw. der Hinwendung zum Bahaitum verlassen hat. Die Klägerin habe nicht glaubhaft gemacht, den Bahá’í-Glauben aus tiefer innerer Überzeugung angenommen zu haben bzw. in einer identitätsprägenden Weise zu leben. Wegen der weiteren Begründung wird auf den Bescheid verwiesen.
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Am 2. Januar 2019 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie räumt ein, unverfolgt aus Iran ausgereist zu sein und nimmt von ihren Angaben gegenüber dem Bundesamt weitgehend Abstand: Zutreffend sei nur, dass sie schon in Iran durch eine Bekannte mit dem Bahaitum in Berührung gekommen sei. In Deutschland habe sie sich dem Bahaitum (weiter) zugewandt; hierzu legt die Klägerin – neben anderen Dokumenten – eine Bestätigung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá‘í in Deutschland über ihre Mitgliedschaft in der Bahá‘í-Gemeinde aus Juli 2019 sowie einen Mitgliedsausweis vor. Für den (weiteren) Inhalt der vorgelegten Dokumente wird auf diese Bezug genommen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 13. Dezember 2018 – soweit dieser entgegensteht – zu verpflichten,
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ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
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hilfsweise, ihr den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
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weiter hilfsweise, festzustellen, dass zu ihren Gunsten Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Islamischen Republik Iran vorliegen.
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Aus dem Schriftsatz der Beklagten vom 10. Januar 2019 ergibt sich der Antrag,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die angegriffene Entscheidung.
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Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört und Beweis erhoben über deren Hinwendung zum Bahaitum durch Vernehmung der Zeugen Dr. Z1 und Z2. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
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Die Sachakte der Beklagten zum Asylverfahren der Klägerin, die Ausländerakte der Klägerin und die vom Gericht bezeichneten Erkenntnisquellen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
I.
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Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem der Rechtsstreit durch Beschluss vom 20. April 2020 gemäß § 76 Abs. 1 AsylG übertragen wurde. Der Einzelrichter konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, da die Beklagte mit der Ladung auf die Folgen eines Ausbleibens hingewiesen wurde, § 102 Abs. 2 VwGO.
II.
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Die gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage hat Erfolg: Der Bescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2018 ist unter Berücksichtigung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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1. Der mit dem Hauptantrag geltend gemachte Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht.
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Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 der Vorschrift ist, grundsätzlich – vorbehaltlich § 60 Abs. 8 Satz 1 und 3 AufenthG – die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559; sog. Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
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Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer entsprechende Gefahren bzw. Handlungen im Sinne von § 3a AsylG angesichts der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände und seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. – auch zum Folgenden – BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 = BVerwGE 146, 67; Beschl. v. 13.2.2019, 1 B 2/19, juris Rn. 6; OVG Hamburg, Urt. v. 29.5.2019, 1 Bf 284/17.A, juris Rn. 38). Dies ist anzunehmen, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtung im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen und zu bewerten, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
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Bei einer Vorverfolgung des Ausländers greift insoweit die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie): Der Umstand, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist hiernach ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.
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Dies berücksichtigend obliegt es dem um Asyl bzw. Flüchtlingsschutz nachsuchenden Ausländer, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat dazu unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – ergibt, dass er bei verständiger Würdigung Verfolgung im oben genannten Sinne ausgesetzt war bzw. eine solche im Rückkehrfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Hierzu gehört eine Schilderung zu den in die Sphäre des Ausländers fallenden Ereignissen, insbesondere zu dessen persönlichen Erlebnissen, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.10.2001, 1 B 24/01, juris Rn. 5; OVG Hamburg, Urt. v. 21.9.2018, 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 37; OVG Münster, Urt. v. 14.2.2014, 1 A 1139/13.A, juris Rn. 35 und auch bereits BVerwG, Urt. v. 22.3.1983, 9 C 68/81, juris Rn. 5).
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Schließlich kann eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nur festgestellt werden, wenn das Gericht die nach § 108 Abs. 1 VwGO erforderliche volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vorgetragenen individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, 9 C 109/84, juris Rn. 16 = BVerwGE 71, 180; Beschl. v. 29.11.1996, 9 B 293/96, juris Rn. 2; OVG Hamburg, Urt. v. 2.11.2001, 1 Bf 242/98.A, juris Rn. 29).
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Hiervon ausgehend steht zur gerichtlichen Überzeugung fest, dass der Klägerin im Fall einer Rückkehr nach Iran aufgrund ihrer Konversion zum Bahaitum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG droht.
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a) Das Gericht geht entsprechend der gefestigten Erkenntnislage und Rechtsprechung davon aus, dass die Abwendung vom Islam und Hinwendung zum Bahaitum in Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu Verfolgung im Sinne der §§ 3 ff. AsylG führt (vgl. etwa VG Trier, Urt. v. 16.5.2013, 2 K 1011/12.TR, juris S. 10; VG Würzburg, Urt. v. 21.10.2015, W 6 K 15/30149, juris Rn. 25; Urt. v. 13.11.2017, W 8 K 17/31790, juris Rn. 30; VG Berlin, Urt. v. 7.3.2018, 3 K 829/16 A, juris Rn. 26; VG Augsburg, Urt. v. 9.5.2019, Au 5 K 18/31137, juris Rn. 29 f.; auch VG München, Urt. v. 1.8.2014, M 2 K 14/30088, juris Rn. 26).
- 26
Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26. Februar 2020 (S. 13 [2020/1]1) geht hervor, dass Bahá’í in Iran als Abtrünnige angesehen werden; sie seien wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und stellten derzeit die am stärksten in ihren Rechten eingeschränkte Minderheit dar. Vom Pensions- und Sozialversicherungssystem seien Bahá’í ebenso ausgeschlossen wie vom Zugang zu höherer Bildung. Seit Januar 2020 müsse zudem für die Beantragung eines Personalausweises ein Formular verwendet werden, in dem das Bahaitum nicht als Glaubensrichtung angegeben werden könne, sodass Bahá’í gezwungen seien, zur Erlangung eines Ausweises als Voraussetzung für die Inanspruchnahme grundlegender öffentlicher Dienstleistungen ihren Glauben zu verleugnen. Entsprechend stellt sich die Erkenntnislage des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl dar (s. Länderinformationsblatt Iran, Stand: Gesamtaktualisierung am 19.6.2020, S. 52 ff. [G 9/20]): Staatliche Stellen schürten Hass gegen Bahá’í, Gewaltakte gegen Angehörige des Bahaitums würden kaum geahndet. In den Jahren 2017 und 2018 seien dutzende von Bahá’í geführte Unternehmen behördlich geschlossen worden, nachdem sie an Bahá’í-Feiertagen nicht geöffnet hatten. Zwar ist im Jahr 2019 ein Urteil eines iranischen Berufungsgerichts bekannt geworden, dem zufolge die reine, nicht missionierende Religionsausübung der Bahá’í nicht als Propaganda gegen die Regierung strafbar sein soll (s. Bundesamt, Erkenntnisse Iran, Stand: Mai 2019, S. 3 [G 5/19]). Gleichwohl wurde über die Verhängung langjähriger Haftstrafen gegen Bahá’í berichtet, die an einer Zeremonie zum 200. Geburtstag des Bahá´u´lláh teilgenommen hätten; den Betroffenen sei dabei auf Grundlage von Art. 499 des iranischen Strafgesetzbuchs die Gründung und Leitung bzw. Mitgliedschaft in einer illegalen Gruppierung der Bahá’í vorgeworfen worden (s. Bundesamt, Erkenntnisse Iran, Stand: Dezember 2019, S. 9 f. [G 32/19]). Insgesamt ist den Erkenntnisquellen zu entnehmen, dass Bahá’í in Iran als Anhänger einer vom Islam abgefallenen Sekte betrachtet werden. Angehörige des Bahaitums und insbesondere muslimische Konvertiten, die zum Bahaitum übertreten und sich zu ihrem neuen Glauben bekennen, sind fortgesetzter systematischer Diskriminierung und willkürlicher Behandlung durch staatliche Stellen ausgesetzt, die bis hin zu Festnahmen und Inhaftierungen reicht (vgl. auch Amnesty International, Amnesty Report Iran 2019, S. 6 [G 1/20]). Diese allgemeine Gefahrenlage, die sich in jüngster Zeit noch verschärft haben soll (vgl. Bundesamt, Briefing Notes v. 20.7.2020, S. 4 [G 11/20] unter Bezugnahme auf den Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland) hat sich dahin verdichtet, dass von einer konkreten Gefahr für jeden einzelnen Bahá’í auszugehen ist (im Ergebnis ebenso VG Augsburg, Urt. v. 3.8.2015, Au 5 K 14/30496, juris Rn. 37; VG Würzburg, Urt. v. 21.10.2015, W 6 K 15/30149, juris Rn. 30).
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Ein bloß formal vollzogener Übertritt vom islamischen Glauben zum Bahaitum genügt gleichwohl nicht für die Annahme einer dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung (so auch VG München, Urt. v. 1.8.2014, M 2 K 14/30088, juris Rn. 26 f.; VG Stuttgart, Urt. v. 13.5.2016, A 11 K 3939/15, juris Rn. 40; VG Augsburg, Urt. v. 9.5.2019, Au 5 K 18/31137, juris Rn. 31). Aus den Erkenntnisquellen ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass eine vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland ausgestellte Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde den Betroffenen schon für sich genommen der Gefahr aussetzt, im Rückkehrfall Diskriminierungen oder Willkürmaßnahmen der genannten Art zu erleiden. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt vielmehr eine echte Glaubensentscheidung des Schutzsuchenden voraus, die im Fall einer Rückkehr trotz der in Iran drohenden Nachteile und Gefahren Bestand hätte und erwarten lässt, dass der Betroffene an seinem neuen Glauben festhält und diesen auch in Iran praktizieren will. Es muss – so auch vorliegend – festgestellt werden können, dass die Hinwendung des Schutzsuchenden zum Bahaitum auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit festen, identitätsprägenden Überzeugungen und nicht bloß auf Opportunitätserwägungen beruht (vgl. VG Stuttgart, a.a.O. Rn. 41; VG Augsburg, a.a.O.). Denn nur wenn der Glaubenswechsel die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt, ist es ihm nicht zumutbar, seine neue Glaubenszugehörigkeit im Herkunftsland zur Vermeidung staatlicher oder nichtstaatlicher Repressionen zu verschweigen, zu verleugnen oder aufzugeben (vgl. für den Fall einer Konversion zum christlichen Glauben OVG Hamburg, Urt. v. 11.9.2012, 5 Bf 336/04.A, juris Rn. 48). Sich hierzu gezwungen zu sehen, würde den Schutzsuchenden in aller Regel existenziell in seiner sittlichen Person treffen und ihn in eine ausweglose, unzumutbare Lage bringen (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 26.7.2007, 8 UE 3140/05.A, juris Rn. 20).
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Die religiöse Identität des Schutzsuchenden kann dabei als innere Tatsache nur auf Grundlage von dessen Vorbringen und im Wege eines Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen festgestellt werden (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 25.8.2015, 1 B 40/15, juris Rn. 14 m.w.N.). Ein danach grundsätzlich zu berücksichtigender Umstand ist die Bestätigung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde. Hiervon zu trennen ist jedoch die Frage, welche Aspekte der Glaubensüberzeugung und -betätigung für die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägend sind (vgl. zuletzt – bezogen auf die durch Taufe begründete Zugehörigkeit zu einer christlichen Religionsgemeinschaft – BVerfG (K), Beschl. v. 3.4.2020, 2 BvR 1838/15, juris Rn. 30; vorgehend BVerwG, a.a.O. Rn. 11). Insoweit besteht keine Bindung des Gerichts an die Bewertung der individuellen Glaubensüberzeugung und -betätigung durch die Religionsgemeinschaft, welcher der Schutzsuchende angehört. Vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, wie der Betroffene seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 11 unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 5.9.2012, C-71/11 u.a., NVwZ 2012, 1612; bestätigt durch BVerfG (K), a.a.O. Rn. 27 ff.; s. auch Fleuß, BDVR-Rundschreiben 1/2020, 38, 39). Hierzu ist der Stellung des Schutzsuchenden zu seinem Glauben nachzugehen, namentlich der Intensität und Bedeutung der von ihm selbst empfundenen Verbindlichkeit von Glaubensgeboten für die eigene religiöse Identität (vgl. BVerfG (K), a.a.O. Rn. 31). Dass er sich in diesem Sinne zur Betätigung seines Glaubens verpflichtet fühlt, muss der Schutzsuchende dabei zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (§ 108 Abs. 1 VwGO, vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 30 m.w.N. = BVerwGE 146, 67), wobei im Rahmen der tatrichterlichen Beweiswürdigung die besondere Bedeutung des Grundrechts auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfG (K), a.a.O. Rn. 34). Von einem erwachsenen Schutzsuchenden kann danach im Regelfall erwartet werden, dass er schlüssige und nachvollziehbare Angaben zu den inneren Beweggründen für seine Konversion macht und im Rahmen seiner Persönlichkeit, seines Bildungsniveaus und seiner intellektuellen Disposition mit den Grundzügen seiner neuen Religion vertraut ist (vgl. BVerfG (K), a.a.O. Rn. 36; BVerwG, Beschl. v. 25.8.2015, 1 B 40/15, juris Rn. 14 und dem folgend etwa VGH Mannheim, Urt. v. 5.12.2017 A 11 S 1144/17, juris Rn. 63; VGH München, Urt. v. 14.11.2019, 13a B 19.33359, juris Rn. 54; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 72; OVG Weimar, Urt. v. 28.5.2020, 3 KO 590/13, juris Rn. 73).
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b) In Anwendung dieser Grundsätze hat der Einzelrichter die Überzeugung gewonnen, dass sich die Klägerin in einer ihre religiöse Identität prägenden Weise dem Bahaitum zugewandt hat.
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Berücksichtigung findet dabei zunächst die Bestätigung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland über die Mitgliedschaft der Klägerin in der Bahá’í-Gemeinde, die allein für die Überzeugungsbildung des Einzelrichters allerdings nicht hinreicht. Zwar bestehen angesichts der ausführlichen und glaubhaften Angaben des Zeugen Dr. Z1 keine Zweifel, dass das einer Aufnahme in die Bahá’í-Gemeinde vorausgehende Verfahren und insbesondere das mit dem jeweiligen Interessenten geführte Gespräch ebenfalls darauf zielen, sich von der Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit der individuellen Glaubens(-wechsel-)entscheidung zu überzeugen. Auch deutet nichts darauf hin, dass Interessenten vor dem Hintergrund der in Iran für Angehörige des Bahaitums bestehenden Gefährdungssituation „leichtfertig“ bzw. aus asyltaktischen Gründen in die Gemeinde aufgenommen würden. Das von dem Zeugen Dr. Z1 für die Region Nordwest geschilderte Aufnahmeverfahren – dessen Ablauf und Inhalt sich dem Zeugen zufolge von entsprechenden Verfahren in anderen Regionen durchaus unterscheiden kann – besteht nach dem Eindruck des Einzelrichters aber vornehmlich in einem Austausch über Inhalte des Bahaitums und unterscheidet sich hierin vom gerichtlichen Verfahren zur Feststellung einer im obigen Sinne identitätsprägenden Glaubensüberzeugung. Gewiss weisen die Fähigkeit und Bereitschaft zum vertieften Austausch über Glaubensinhalte darauf hin, dass sich der Betroffene ernsthafte mit dem Glauben befasst (hat), und bieten insofern Anhalt für eine nicht bloß auf Opportunitätserwägungen beruhende Glaubensentscheidung. Ob sich der Betroffene zur Betätigung seines Bahá’í-Glaubens in einer Weise verpflichtet fühlt, dass ihm ein Verschweigen, Verleugnen oder gar die Aufgabe seines Glaubens nach rechtlichen Maßstäben unzumutbar ist, kann und soll nach der auf die Bekundungen des Zeugen Dr. Z1 gestützten Einschätzung des Einzelrichters im Rahmen des gemeindlichen Aufnahmeverfahrens jedoch nicht festgestellt werden. Hieran ändert es auch nichts, dass ein Anliegen der Bahá’í-Gemeinde(n) darin liegen mag, Missbrauch in Gestalt von asyltaktisch motiviertem Interesse vorzubeugen (vgl. VG Würzburg, Urt. v. 21.10.2015, W 6 K 15/30149, juris Rn. 34 f.): So nahe sie liegt, so wenig enthebt diese Annahme das Gericht von der Verpflichtung, die Glaubensüberzeugung des Betroffenen als Voraussetzung für die Schutzgewährung anhand eines rechtlichen Maßstabs eigenständig zu beurteilen. Dessen bedarf es umso mehr, als es sich bei dem Aufnahmegespräch nach der Aussage des Zeugen Dr. Z1 nicht um eine Prüfung bzw. einen Test handelt und die der Aufnahmeentscheidung letztlich zugrunde gelegten Erwägungen variieren können, da das Gespräch auf den jeweiligen Interessenten abzustimmen versucht werde. Ein der gleichmäßigen Rechtsanwendung verpflichtetes Gericht ist in Anbetracht dessen gehindert, die Entscheidung der Bahá’í-Gemeinde „mechanisch“ – ohne eigene Prüfung – zu übernehmen. Dies gilt schließlich in beiderlei Hinsicht: Die Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde ist weder hinreichende noch notwendige Voraussetzung für die Annahme einer identitätsprägenden Hinwendung des Betroffenen zum Bahaitum, sondern – wie ausgeführt – „nur“ ein zu berücksichtigender Umstand. Es ist nicht schlechthin ausgeschlossen, dass eine Person in einer rechtlich als identitätsprägend anzuerkennenden Weise zum Bahaitum übergetreten ist, ohne (schon) in die Bahá’í-Gemeinde aufgenommen worden zu sein.
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Die Anhaltspunkte für eine echte Glaubensentscheidung zugunsten des Bahaitums sind im Fall der Klägerin indes nicht auf die Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde beschränkt. Vielmehr vermochte die Klägerin die Beweggründe für ihre bereits in Iran begonnene Auseinandersetzung mit dem Bahá’í-Glauben plausibel zu erläutern: Dass sie nach dem Tod ihrer Mutter eine Stütze in ihrer dem Bahaitum angehörenden Freundin F gefunden hat und so mit dem Bahá’í-Glauben zunehmend in Berührung gekommen ist, erscheint nachvollziehbar. Aufgrund der emotional authentischen Ausführungen zu ihrer von Unterdrückung und Gewalt geprägten Ehe ist der Klägerin auch abzunehmen, dass ihr die weitere Hinwendung angesichts des im Bahaitum herrschenden Toleranzverständnisses und der von dem Zeugen Dr. Z1 ebenfalls betonten Anerkennung der Gleichwertigkeit von Frau und Mann nahelag; in diesem Zusammenhang wurden über eine abstrakte Überzeugung vom Bahá’í-Glauben hinaus persönliche Bezüge der Klägerin zu konkreten Glaubensinhalten deutlich. Dem entspricht es, dass die Klägerin übereinstimmend mit ihrer Tochter (= Klägerin im Verfahren 10 A 5538/18) eine durch ihre Konversion bedingte positive Veränderung des zwischen beiden bestehenden Verhältnisses beschrieb und diese mit der Bahá’í-Lehre über die Grundlagen der Kindererziehung (Ruhi 3) verknüpfte. Der hierdurch entstandene Eindruck einer Verinnerlichung des Bahaitums wird bestätigt durch das Engagement der Klägerin als Tutorin in einer Kinderklasse ihrer Gemeinde.
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Mit zentralen Inhalten des Bahá’í-Glaubens zeigte sich die Klägerin auch im Übrigen vertraut: Die Verkündigung Bahá´u´lláhs und das aus diesem Anlass begangene Ridvan-Fest, die Gebetspraxis, die Bedeutung der Wallfahrt und insbesondere die ethischen Grundsätze des Bahaitums konnte sie verständlich erklären und darüber hinaus – wiederum – individuelle Bezüge zu einzelnen Grundsätzen aufzeigen (Pflicht zur selbstständigen Erforschung der Wahrheit, gemeinsame Grundlage aller Religionen, Übereinstimmung von Religion und Wissenschaft). Hierbei ließ die Klägerin ein aufrichtig wirkendes Bemühen erkennen, ihr Verhalten an diesen Grundsätzen auszurichten: Dass sie in der Vergangenheit für ein ihrem Ehemann oder ihrer Schwiegermutter widerfahrendes Unglück gebetet habe, bewertete sie vor dem Hintergrund ihres Bahá’í-Glaubens überzeugend als Fehler. Ihr Bekenntnis zur eigenverantwortlichen Entscheidung des Einzelnen über seinen Glauben setzt die Klägerin nach dem Eindruck des Einzelrichters vor allem in Bezug auf ihre Tochter um, der sie – wie diese glaubhaft bestätigte – zwar einen Einblick in das Bahaitum gegeben, nicht aber auf einen Glaubenswechsel hingewirkt hat. Die Schilderungen der Klägerin zum Verhältnis von Bahaitum und islamischen Glauben und den insoweit bestehenden Unterschieden gingen zudem über eine pauschale Religionskritik hinaus und zeugten allgemein von einer reflektierten Beschäftigung mit dem eigenen Glauben.
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Insgesamt ist der Einzelrichter davon überzeugt, dass die Klägerin ihre Hinwendung zum Bahaitum im Fall einer Rückkehr nach Iran nicht verheimlichen bzw. auf eine Betätigung ihres Bahá’í-Glaubens allenfalls unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungenermaßen verzichten würde.
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2. Über die hilfsweise gestellten Anträge war danach nicht mehr zu entscheiden. Allerdings lässt die Verpflichtung zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus die in Nr. 3 und 4 des angegriffenen Bescheids enthaltenen Entscheidungen gegenstandslos werden, weshalb der Bescheid auch insoweit aufzuheben ist. Entsprechendes gilt für Nr. 5 und 6 des Bescheids.
III.
- 35
Die Kostenentscheidung beruht auf § 83b AsylG und § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Satz 1 und 2, § 709 Satz 2 ZPO.
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- 5 K 18/31 2x (nicht zugeordnet)
- 2 K 14/30 2x (nicht zugeordnet)
- 5 K 14/30 1x (nicht zugeordnet)
- 11 K 3939/15 1x (nicht zugeordnet)
- 5 Bf 336/04 1x (nicht zugeordnet)
- 8 UE 3140/05 1x (nicht zugeordnet)
- 1 B 40/15 2x (nicht zugeordnet)
- 2 BvR 1838/15 1x (nicht zugeordnet)
- 11 S 1144/17 1x (nicht zugeordnet)
- 13 A 3930/18 1x (nicht zugeordnet)
- 3 KO 590/13 1x (nicht zugeordnet)
- 10 A 5538/18 1x (nicht zugeordnet)