Beschluss vom Verwaltungsgericht Karlsruhe - 12 K 1706/19

Tenor

1. Es wird im Wege einer einstweiligen Anordnung festgestellt, dass die Abschiebung der Antragstellerin bis zur Entscheidung des Landratsamts Neckar-Odenwald-Kreis über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG als ausgesetzt gilt.

2. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

3. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

4. Der Streitwert wird auf 2.500,- EUR festgesetzt.

Gründe

 
I.
Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine unter Fristsetzung angedrohte Abschiebung.
Die Antragstellerin ist Ukrainerin und reiste am 18.05.2019 zunächst zu Besuchszwecken ohne Visum in die Bundesrepublik ein. Am 27.07.2018 heiratete sie einen deutschen Staatsangehörigen in Dänemark. Nachdem am 18.08.2018 der visumsfreie Aufenthalt endete, richtete der Ehemann der Antragstellerin ein undatiertes Schreiben an das Landratsamt Neckar-Odenwald-Kreis, das dort am 20.09.2018 einging. Unter dem Betreff Aufenthaltserlaubnis führte er aus, dass seine Ehefrau erheblich erkrankt sei und sie sich gegenseitig unterstützen könnten, wenn die Antragstellerin in Deutschland bleiben könne. Er bat insoweit um eine Ausnahme, damit sie schon zu diesem Zeitpunkt zusammen sein könnten. Nach einigen Krankenhausaufenthalten und im Anschluss an zwei Feststellungen des Gesundheitsamts des Landratsamts Neckar-Odenwald-Kreis, wonach die Antragstellerin reiseunfähig sei, wurde sie durch das Landratsamt mit Schreiben vom 14.01.2019 zur beabsichtigten Abschiebungsandrohung mit Ausreiseaufforderung angehört. Das Landratsamt führte aus, das Schreiben des Ehemanns sei nicht als Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis anzusehen. Mit Verfügung vom 11.02.2019 forderte das Landratsamt die Antragstellerin auf, die Bundesrepublik Deutschland bis zum 13.03.2019 zu verlassen und drohte ihr die Abschiebung in die Ukraine an. Hiergegen legte die Antragstellerin am 25.02.2019 Widerspruch ein. Sie gab an, dass das Schreiben des Ehemanns als Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auszulegen sei, und stellte hilfsweise diesen Antrag erneut.
Am 11.03.2019 hat die Antragstellerin den vorliegenden Eilrechtsantrag gestellt. Sie beantragt wörtlich,
den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von einer Abschiebung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über ihren Widerspruch gegen den Bescheid des Landratsamts Neckar-Odenwald-Kreis vom 11.02.2019 vorläufig abzusehen,
hilfsweise die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
II.
1. Das Gericht legt das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin dahingehend aus, dass diese sowohl einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid des Landratsamts Neckar-Odenwald-Kreis vom 11.02.2019 als auch die Feststellung im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO begehrt, dass die Abschiebung als ausgesetzt gilt.
Es ist rechtlich unschädlich, dass die Antragstellerin dem Wortlaut nach vorrangig einen Antrag nach § 123 VwGO und nur hilfsweise einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt hat. Anträge im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind nach §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO sachdienlich auszulegen und gegebenenfalls umzudeuten, um das sich aus dem Antrag zu erkennende Rechtsschutzziel angemessen abzubilden. Dies gilt im ausländerrechtlichen Verfahren um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis umso mehr, weil hier bereits die Abgrenzung der Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO und § 123 VwGO nur rudimentär im Gesetz abgebildet ist und es sich um eine der wenigen Ausnahmen handelt, bei der trotz der in der Hauptsache statthaften Verpflichtungsklage entgegen § 80 Abs. 1 VwGO dennoch ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO einschlägig sein kann. Hier gebietet die verfassungsrechtlich garantierte Rechtsbehelfsklarheit, die erfordert, dem Rechtssuchenden den Weg zur Überprüfung und Abänderung von behördlichen, aber auch gerichtlichen Entscheidungen klar vorzuzeichnen [vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 -, BVerfGE 107, 395 (416)] zur Sicherstellung eines effektiven Rechtsschutzes eine umfassende und großzügige Handhabung von §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO. Unerheblich ist dabei, ob der Antragsteller anwaltlich vertreten ist oder nicht. Denn die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über einstweiligen Rechtsschutz gehalten, der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen und die im Einzelfall gebotene Prüfungsintensität auch unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes zu gewährleisten (VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 18.06.2018 - 11 S 816/18 -, juris Rn. 4; und vom 20.09.2018 - 11 S 1973/18 -, juris Rn. 16). Dies gilt nicht nur, wenn in Streit steht, ob die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG durch die Verbescheidung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entzogen worden ist, sondern auch dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – umstritten ist, ob überhaupt ein solcher Antrag gestellt worden ist, der seinerseits die Fiktionswirkung auszulösen vermag.
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Das Rechtsschutzziel der Antragstellerin liegt hier erkennbar darin, vorläufig von Vollzugsmaßnahmen des Antragsgegners, nämlich letztlich einer Abschiebung, verschont zu bleiben.
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a) Die Antragsschrift ist zunächst dahingehend auszulegen, dass die Antragstellerin nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Landratsamts Neckar-Odenwald-Kreis vom 11.02.2019 begehrt. Dies kommt auch schon im hilfsweise gestellten Antrag zum Ausdruck.
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b) Darüber hinaus lässt sich der Antragsschrift das Begehren entnehmen, ungeachtet des Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einstweilen verschont zu bleiben. Die vorläufige Sicherung des Aufenthaltsrechts während des anhängigen Verwaltungs- und auch Gerichtsverfahrens um die Erteilung eines Aufenthaltstitels hat dann in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu erfolgen, wenn der Antrag auf Erteilung dieses Titels zum Entstehen einer Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG geführt hat und diese durch die Verbescheidung des Antrags wieder erloschen ist (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.11.2007 - 11 S 2364/07 -, juris). Es fehlt vorliegend aber an einer Verbescheidung, durch die die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erloschen wäre. Der streitgegenständliche Bescheid des Landratsamts Neckar-Odenwald-Kreis setzt sich zwar in seiner Begründung mit den Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG auseinander; er trifft aber keine Sachentscheidung über einen Erteilungsantrag, da das Landratsamt bereits davon ausgeht, dass ein solcher überhaupt nicht gestellt worden sei.
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Die Kammer legt deshalb den Antrag auch dahingehend aus, dass die Antragstellerin die vorläufige Feststellung im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO begehrt, dass die Abschiebung als ausgesetzt gilt. Denn schon § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG enthält eine Duldungsfiktion [dazu unten 2 b) bb) (1)], so dass ein Verpflichtungsausspruch lediglich deklaratorische Wirkung entfalten könnte und somit nicht sachdienlich wäre.
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2. Die so verstandenen Anträge haben lediglich in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Insoweit ist der Antrag auf einstweilige Anordnung zulässig und begründet (b). Im Übrigen ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid zwar zulässig, aber unbegründet (a).
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a) Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Landratsamts Neckar-Odenwald-Kreis vom 11.02.2019 ist zulässig, insbesondere statthaft, da der Widerspruch hiergegen nach § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO, § 1 Abs. 2 Satz 2, § 12 Satz 1 LVwVG keine aufschiebende Wirkung entfaltet; es handelt sich um eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung.
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Der Antrag ist aber unbegründet. Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO, bei der das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung trifft, bedarf es einer Abwägung der gegenseitigen Interessen der Beteiligten. Maßgeblich ist, ob das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs oder das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Ergibt die im Eilverfahren allein mögliche summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das private Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der angegriffene Bescheid hingegen schon bei kursorischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, so verbleibt es bei der Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden öffentlichen bzw. privaten Interessen.
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Unter Anwendung dieser Maßstäbe wird sich die Abschiebungsandrohung im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach als rechtmäßig erweisen. Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung ist § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Danach ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Diese Regelung setzt voraus, dass der Ausländer abzuschieben ist. Nach § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist der Ausländer abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar, eine gewährte Ausreisefrist abgelaufen und deren freiwillige Erfüllung nicht gesichert ist. Die Antragstellerin ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig. Vollziehbar ist die Ausreisepflicht gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Var. 3 AufenthG nur dann, wenn der Aufenthalt des Ausländers trotz erfolgter Antragstellung nicht nach § 81 Abs. 3 AufenthG als erlaubt gilt. Von dieser Verweisung ist aber lediglich § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erfasst, obwohl die Norm auf § 81 Abs. 3 AufenthG insgesamt Bezug nimmt. Hingegen spricht schon der Wortlaut der Norm, der nur von der Fiktion des erlaubten Aufenthalts ausgeht, für den eingeschränkten Verweis. Auch Sinn und Zweck der Norm führen zu keinem anderen Ergebnis. Im Falle der verspäteten Antragstellung im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bleibt die Ausreisepflicht und deren Vollziehbarkeit unberührt; nur die Abschiebung wird vorläufig ausgesetzt, d.h. der Betroffene wird fiktiv geduldet. Eine Duldung bedeutet lediglich, dass zeitlich befristet auf die zwangsweise Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht verzichtet wird (Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 58 AufenthG Rn. 14 m.w.N.).
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Dies zugrunde gelegt, ist die Antragstellerin vollziehbar ausreisepflichtig. Denn ihr Recht auf sichtvermerkfreien Aufenthalt ist am 18.08.2018 abgelaufen und ihr Aufenthalt wegen ihres Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug gilt nicht nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG als erlaubt. Der von der Antragstellerin spätestens im Widerspruch am 25.02.2019 gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug ist erst nach Ablauf des 90-tätigen Aufenthaltsrechts und damit verspätet gestellt. Nichts anderes gilt, wenn man schon das Schreiben des Ehemanns, das am 20.09.2018 beim Landratsamt eingegangen ist, als einen solchen Antrag auslegt. Denn auch dieser ist verspätet eingegangen.
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Die Fortgeltung eines Aufenthaltstitels wird auch nicht nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG fingiert. Selbst wenn die von der Visumspflicht befreite Antragstellerin so anzusehen wäre, als hätte sie einen Aufenthaltstitel gehabt, ist ein solches Besuchsvisum gemäß § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG von der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG explizit ausgenommen. Im Übrigen wäre auch insoweit der Antrag verspätet gestellt worden; dies hätte – anders als nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG – keine Fiktionswirkung kraft Gesetzes zur Folge gehabt, sondern hätte einer Ermessensentscheidung der Behörde bedurft.
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Ferner ist die Ausreisefrist am 13.03.2019 abgelaufen; die Antragstellerin ist auch nicht freiwillig ausgereist.
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Damit liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für die Abschiebungsandrohung vor. Abschiebungsverbote sowie Duldungsgründe sind gemäß § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG unbeachtlich; sie stehen der Abschiebungsandrohung nicht entgegen.
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b) Der weitere Antrag, im Wege einer einstweiligen Anordnung festzustellen, dass die Abschiebung der Antragstellerin bis zur Entscheidung des Landratsamts Neckar-Odenwald-Kreis über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug als ausgesetzt gilt, ist zulässig und begründet.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen, nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der zugrundeliegende materielle Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht sind (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgeblich sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
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aa) Dem Antrag, der neben dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft ist, weil Duldungsgründe die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nicht tangieren können (vgl. § 59 Abs. 3 AufenthG; Haedicke, in: HTK-AuslR, Stand 22.06.2017, § 59 AufenthG, zu Abs. 3, Rn. 5), fehlt insbesondere nicht das erforderliche Rechtsschutzinteresse. Denn in dem Vortrag der Antragstellerin, im Schreiben des Ehemanns sei ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu sehen, bzw. indem sie diesen hilfsweise im Widerspruch gestellt hat, ist in der Sache die Geltendmachung eines verfahrensbezogenen Duldungsgrunds zur Sicherung ihres aufenthaltsrechtlichen Verfahrens zu sehen.
25 
bb) Der Antrag ist auch begründet. Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt ebenfalls nicht vor.
26 
(1) Zugunsten der Antragstellerin greift die Duldungsfiktion des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ein. Danach gilt ab dem Zeitpunkt der verspäteten Antragstellung bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde die Abschiebung als ausgesetzt. Aus dem systematischen Zusammenhang zu § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG folgt, dass es sich um einen rechtmäßigen Aufenthalt handeln muss, der wegen des abgelaufenen Aufenthaltsrechts in einen rechtswidrigen Aufenthalt umschlägt. Der verspätete Antrag muss zudem in einem zeitlichen Zusammenhang zu dem rechtmäßigen Aufenthalt stehen. Es genügt nicht, wenn der Antrag irgendwann, nachdem der rechtmäßige Aufenthalt rechtswidrig geworden ist, gestellt wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand 09.03.2019, § 81 AufenthG, zu Abs. 3 und 4, Rn. 26). Vielmehr folgt schon aus dem Wortlaut („Verspätung“), dass zwischen dem Ende des rechtmäßigen Aufenthalts und der Antragstellung ein überschaubarer Zeitraum liegen muss (verneint bei einjähriger Verspätung, vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.04.2012 – 18 B 1181/11 -, juris; bejaht bei dreiwöchiger Verspätung VG Düsseldorf, Beschluss vom 26.11.2015 – 7 L 3422/15 -, juris). Entscheidend sind dabei aber die Umstände des Einzelfalls.
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Danach ist die Antragstellerin von dieser Regelung umfasst, da sie während eines Kurzaufenthalts als Anhang-II-Staaterin von der Visumspflicht befreit gewesen ist (vgl. Art. 20 SDÜ, Art. 6 SGK, Art. 1 Abs. 2 VO (EG) Nr. 539/2001 i.V.m. Anlage II zu dieser Verordnung). Das Schreiben des Ehemanns dürfte jedenfalls noch den erforderlichen zeitlichen Kontext einhalten, da es lediglich etwa einen Monat nach Ende des Aufenthaltsrechts eingegangen ist. Vorliegend steht aber selbst der vorsorglich gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Widerspruchsschreiben vom 22.02.2019 noch in dem erforderlichen zeitlichen Zusammenhang. Denn das Landratsamt Neckar-Odenwald-Kreis hat der Antragstellerin erstmals im Anhörungsschreiben vom 14.01.2019 mitgeteilt, dass es das Schreiben des Ehemanns nicht als Antrag ansehe. Damit hat die Ausländerbehörde ihre Pflicht zur Klarstellung und Hinwirkung darauf, dass sachdienliche Anträge gestellt werden, verletzt (§ 25 Abs. 1 Satz 1, 2 LVwVfG). Es lässt sich nicht ausschließen, dass dieser Umstand mitursächlich für die späte Antragstellung im Widerspruchsverfahren geworden ist. Es kann mithin offenbleiben, ob schon das Schreiben des Ehemanns, das am 20.09.2018 beim Landratsamt eingegangen ist, als Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG anzusehen ist.
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Es kann nach summarischer Prüfung auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Antragstellerin schon während des 90-tägigen visumfreien Besuchs rechtswidrig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Ihr Aufenthalt ist ursprünglich aufgrund von Art. 20 SDÜ, Art. 6 SGK, Art. 1 Abs. 2 VO (EG) Nr. 539/2001 iVm Anhang II zu dieser Verordnung sowie § 15 AufenthV legal gewesen. Von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG kann allerdings nur ausgegangen werden, wenn der von der Visumspflicht befreite Ausländer nicht schon bei der Einreise einen Daueraufenthalt anstrebt. Wenn der Ausländer subjektiv die zeitliche Grenze von 90 Tagen nicht überschreiten will, sich dann aber ein Sinneswandel während des Aufenthalts ergibt und nunmehr ein Daueraufenthalt angestrebt wird, führt ein entsprechender Antrag die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG herbei (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.09.2018 - 11 S 1973/18 -, juris Rn. 14; Samel, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, § 81 AufenthG Rn. 37). Es spricht keine tatsächliche Vermutung dafür, dass die Antragstellerin bereits bei ihrer Einreise am 18.05.2019 beabsichtigt hat, in Deutschland ein Daueraufenthaltsrecht anzustreben. Denn die den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug begründende Heirat in Dänemark erfolgte erst am 27.07.2018 und damit mehr als zwei Monate nach der Einreise. Damit fehlt der erforderliche enge zeitliche Zusammenhang zur Einreise und zum darauf zu stellenden Antrag, der eine solche tatsächliche Vermutung begründen kann (vgl. für einen Zeitraum zwischen Einreise, Heirat und Antragstellung von 9 Tagen, vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 20.10.2016 - 7 B 2174/16 -, juris Rn. 28). Daneben ist in der Antragsauskunft in der Visa-Datei (AS 6) als Hauptreisezweck der Besuch von Familie oder Freunden und die Tochter der Antragstellerin als einladende Person angegeben. Allein daraus, dass die Tochter im selben Ort wohnt wie der jetzige Ehemann der Antragstellerin, kann noch nicht auf eine entsprechende Daueraufenthaltsabsicht der Antragstellerin bei ihrer Einreise geschlossen werden.
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Nach alledem ist die verfahrensbezogene Duldung eingetreten. Diese Duldungsfiktion hat die Ausländerbehörde mangels Verbescheidung der beantragten Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch nicht beendet.
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Ob die Antragstellerin daneben einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis glaubhaft gemacht hat, kann dahinstehen. Es bedarf im gerichtlichen Verfahren auch keiner Klärung, ob weitere Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung bestehen. Im Verwaltungsverfahren wird insbesondere zu klären sein, ob der Abschiebung eine mögliche Reiseunfähigkeit oder die behauptete Pflegebedürftigkeit, die eine Pflege im Rahmen der ehelichen Beistandsgemeinschaft aus Art. 6 Abs. 1 GG, § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB bedingen kann, entgegenstehen.
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(2) Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, d.h. ihr steht ein Erfordernis der vorläufigen Sicherung ihres Aufenthalts durch einstweilige Anordnung zur Seite.
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Wie ausgeführt ist die Antragstellerin vollziehbar ausreisepflichtig (§ 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG); zudem ist ihr die Abschiebung angedroht worden (§ 59 AufenthG). Der dagegen eingelegte Widerspruch entfaltet keine aufschiebende Wirkung. Sie muss deshalb jederzeit mit ihrer Abschiebung rechnen.
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(3) Da vorliegend nicht über die begehrte Aufenthaltserlaubnis zu entscheiden ist, liegt auch keine Vorwegnahme der Hauptsache vor.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, 2, § 52 Abs. 1 GKG (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.09.2007 - 11 S 561/07 -, juris Rn. 11).

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