Urteil vom Verwaltungsgericht Koblenz (4. Kammer) - 4 K 255/12.KO
Tenor
Der Bescheid vom 7. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Februar 2012 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Sanierungsausgleichsbescheids.
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Die Klägerin ist Eigentümerin des bebauten Eckgrundstücks, Flur 4, Parzelle ... Das Grundstück grenzt im Norden an die G.-Straße. Es gibt mehrere Straßenzüge mit dem Namen G.-Straße. Unter anderem verläuft unter diesem Namen auch eine kurze Verbindungsstraße an der östlichen Seite des klägerischen Grundstücks entlang. Zwischen dieser Straße und dem Grundstück der Klägerin liegt die 6 qm große Splitterparzelle ..., die ebenfalls im Eigentum der Klägerin steht. Die Klägerin hat mit Schreiben vom 5. April 1995 die Erlaubnis erteilt, die Splitterparzelle für die Ortskernsanierung in Anspruch zu nehmen; zugleich hat sie der Widmung als Verkehrsfläche zugestimmt.
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Die Sanierung des Ortskerns gestaltete sich wie folgt: Der Beginn der Vorbereitenden Untersuchungen wurde am 11. November 1988 bekanntgemacht. Etwa zur gleichen Zeit fand eine Bürgerversammlung statt. Die Sanierungssatzung trat mit Bekanntmachung vom 6. April 1990 in Kraft. Das Grundstück der Klägerin lag innerhalb des Geltungsbereichs dieser Satzung. Außerdem gab es zwei Sanierungsbebauungspläne. Die technischen Arbeiten wurden zwischen 1989 und 1998 durchgeführt. Dabei wurde unter anderem die G.-Straße nördlich und östlich des Grundstücks der Klägerin ausgebaut. Am 1. Juni 1991 war ein Artikel in der Rhein-Zeitung erschienen, wonach die Bürger bei den vorzunehmenden Straßenausbaukosten mit keiner Mark belastet würden. Mit Schreiben vom 7. Oktober 1998 wurden die Grundstückseigentümer darüber informiert, dass die Beklagte verpflichtet sei Sanierungsausgleichsbeträge zu erheben. Eine Teilaufhebung der Sanierungssatzung erfolgte am 29. Oktober 1999 für die B.-Straße. Bis zum Jahre 2003 erfolgten noch Vermessungsarbeiten im übrigen Sanierungsgebiet. Das Gutachten des Gutachterausschusses für den Bereich des Landkreises Altenkirchen wurde am 27. Juni 2000 in Auftrag gegeben. Es wurde am 6. Februar 2007 fertig gestellt und kam auf Grund zonaler Richtwerte zu dem Ergebnis, dass die Bodenwertsteigerung für die Zone der Klägerin 8 €/qm beträgt. Mit Wirkung vom 28. Dezember 2007 wurde die restliche Sanierungssatzung aufgehoben.
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Mit Bescheid vom 7. Februar 2008 setzte die Beklagte für das Grundstück der Klägerin einen Sanierungsausgleichsbetrag von 2.976 € fest. Sie schloss sich dabei dem zonalen Richtwertgutachten an, welches für die Zone 32, in der das Grundstück der Klägerin liegt, einen Anfangswert von 47,00 € und einen Endwert von 55,07 € ermittelt hatte. Der Differenzbetrag von abgerundet 8 €/qm, multipliziert mit der Grundstücksfläche der Klägerin, ergab 2.976 €.
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Hiergegen legte die Klägerin, vertreten durch ihren Sohn, am 3. März 2008 Widerspruch ein. Sie trug vor, auf der Bürgerversammlung im Jahre 1988 hätten der Ortsbürgermeister H. und der Städteplaner Dr. I. erklärt, dass keine Kosten auf die Anlieger zukämen. Entsprechendes habe sogar in der Zeitung gestanden. Deshalb sei der Sanierungsausgleichsbetrag verwirkt. Da die Sanierungsarbeiten schon 1998 abgeschlossen gewesen seien, sei er außerdem auch verjährt. Unabhängig davon sei die Bodenwertsteigerung auf jeden Fall zu hoch festgesetzt worden.
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Die Beklagte gab daraufhin ein Einzelgutachten für das Grundstück der Klägerin in Auftrag, welches am 30. September 2011 vorgelegt wurde. Darin kam der Gutachterausschuss zu dem Ergebnis, dass der Anfangswert 47,91 €/qm und der Endwert 56,02 €/qm betrage. Die Differenz von 8,12 €/qm könne auf 8 € abgerundet werden.
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Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Kreisrechtsausschusses Altenkirchen vom 16. Februar 2012 zurückgewiesen. In den Gründen ist ausgeführt, dass weder ein wirksamer Verzicht noch eine Verjährung oder Verwirkung vorliege. Die Höhe des festgesetzten Betrags sei nicht zu beanstanden, denn er sei durch das nachträglich eingeholte Einzelgutachten sogar bestätigt worden.
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Am 15. März 2012 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie zunächst nur geltend gemacht hat, dass die Sanierungssatzung wesentlich früher hätte aufgehoben werden können. Im Verlauf der Klage hat sich der jetzige Prozessbevollmächtigte bestellt. Er trägt vor, die Festsetzung sei verjährt, weil die Sanierungssatzung bereits Ende 1998, spätestens jedoch Ende 2000 funktionslos geworden sei. Die weitere Verwirklichung der Satzung sei damals auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen gewesen bzw. von der Beklagten aufgegeben worden. Insoweit beruft sich die Klägerin auf Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichts Düsseldorf. Die restlichen Vermessungsarbeiten hätten nur der Ermittlung der Bodenwerterhöhung gedient. Hilfsweise werde geltend gemacht, dass das Ergebnis nach dem Modell Niedersachsen in dem eingeholten Richtwertgutachten (4 €/qm) zu gering gewichtet worden sei. Der Stichtag für den Anfangswert hätte auf Mitte 1988 festgelegt werden müssen. Der Endwert hätte nicht unter Berücksichtigung der ersparten Aufwendungen für den Ausbauvorteil ermittelt werden dürfen.
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Die Klägerin beantragt,
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den Sanierungsausgleichsbescheid vom 7. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Februar 2012 aufzuheben,
hilfsweise insoweit aufzuheben, als mehr als 1.488 € festgesetzt wurden.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage anzuweisen.
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Sie nimmt im Wesentlichen Bezug auf den Widerspruchsbescheid.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift und die beigezogenen Verwaltungsakten und Gutachten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Sanierungsausgleichsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
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Dem Grunde nach ist der Bescheid nicht zu beanstanden. Der Höhe nach beruht die Ermittlung der Bodenwertsteigerung jedoch auf einem eindeutigen Bewertungsfehler zu Lasten der Klägerin und dem Gericht ist es verwehrt, von Amts wegen den „richtigen“ Wert zu bestimmen.
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Die Voraussetzungen des § 154 BauGB zur Erhebung des Sanierungsausgleichsbetrags liegen dem Grunde nach vor. Das Grundstück der Klägerin lag im Geltungsbereich einer Sanierungssatzung und eines Bebauungsplans. Die Sanierung wurde durchgeführt und die Sanierungssatzung wurde aufgehoben.
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Eine abgabenrechtliche Verjährung ist nicht eingetreten. Die vierjährige Festsetzungsfrist war im Zeitpunkt des Sanierungsausgleichsbescheids vom 7. Februar 2008 noch nicht abgelaufen, denn sie beginnt erst mit Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 155 Abs. 5 BauGB, § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG, § 170 AO). Dem Grunde nach entsteht der Anspruch erst - von anderen, hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen - mit der Aufhebung der Sanierungssatzung, vorliegend also erst am 28. Dezember 2007 (§ 154 Abs. 2 Satz 1, § 162 Abs. 1 Nr. 1 BauGB). Selbst wenn man unterstellt, dass die Sanierungssatzung schon nach Abschluss der letzten Vermessungsarbeiten im Jahre 2003 oder möglicherweise noch früher hätte aufgehoben werden können, wird die Klägerin durch die „späte“ Aufhebung im Jahre 2007 wirtschaftlich nicht beschwert. Da sie bis dahin nicht zu Sanierungsausgleichsbeträgen herangezogen werden durfte, konnte sie während dieses Zeitraums über ihr Kapital uneingeschränkt verfügen. Eine Aufrechnung mit etwaigen Entschädigungs- oder Schadensersatzansprüchen wegen einer „überlangen“ Belastung ihres Grundstücks mit dem Sanierungsvermerk wurde bisher nicht erklärt und wäre auch unwirksam, da eine Aufrechnung nur mit unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Gegenansprüchen zulässig ist (§ 226 AO). Die Befürchtung, dass die Bodenwerterhöhung „nach so langer Zeit“ nicht mehr zutreffend ermittelt werden könne, beruht nicht auf Tatsachen, sondern auf bloßen Vermutungen der Klägerin.
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Die von der Klägerin zitierten Entscheidungen führen zu keinem anderen Ergebnis. Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Oktober 1993 - 4 UE 884/90 - ist bereits nicht einschlägig. Es beschäftigt sich mit der Frage, ob bzw. wann ein Anspruch auf Abschlusserklärung nach § 163 BauGB besteht. Das ist hier nicht im Streit, denn die Klägerin hat zu keinem Zeitpunkt eine Abschlusserklärung für ihr Grundstück verlangt. Außerdem heißt es schon im Leitsatz des zitierten Urteils, dass weder der Zeitablauf allein noch eine unzureichende Förderung der Sanierung zur Folge hätten, dass die Sanierungssatzung außer Kraft tritt.
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Das Urteil des VG Düsseldorf vom 3. Dezember 2010 - 25 K 4618/10 - ist ebenfalls nicht einschlägig, denn dort heißt es im Leitsatz, dass eine Sanierungssatzung funktionslos werde, wenn die Gemeinde die Sanierung nicht nur in langsamem Tempo vorantreibt, sondern endgültig aufgegeben hat. Von einer endgültigen Aufgabe kann jedoch keine Rede sein, wenn der Sanierungszweck - wie die Klägerin einräumt - erfüllt worden ist. Eine durchgeführte Sanierung begründet lediglich die Pflicht zur Aufhebung der Satzung (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 BauGB). Würde die Durchführung der Sanierung zur Funktionslosigkeit der Satzung führen, bedürfte es nicht der Regelung des § 162 Abs. 1 Nr. 2 BauGB.
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In der Sache einschlägiger ist das vom VG Düsseldorf in Bezug genommene Urteil des OVG Saarland vom 9. Dezember 2009 - 1 A 387/08 -, mit dem sich die Klägerin aber nicht auseinandergesetzt hat. Das OVG Saarland hat sehr deutlich gesagt, dass selbst dann, wenn nach vollständiger Durchführung der Sanierung eine Pflicht zur Aufhebung der Satzung besteht, die Nichtaufhebung nicht zur Unwirksamkeit der Sanierungssatzung und auch nicht zur Verwirkung des Rechts zur Erhebung von Ausgleichsbeträgen führt.
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Schließlich sei auf das Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 5. Oktober 2010 - 6 A 10164/09.OVG - verwiesen. Dort heißt es schon im Leitsatz:
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„Der Anspruch auf Entrichtung des Sanierungsausgleichsbetrags entsteht gemäß § 154 Abs. 3 Satz 1 BauGB erst mit dem Abschluss der Sanierung, d.h. wenn die Gemeinde die Sanierungssatzung aufhebt (§ 162 BauGB) oder die Sanierung für ein Grundstück als abgeschlossen erklärt (§ 163 BauGB). Dies gilt auch, falls die Gemeinde den Fortgang der Sanierung oder ihren förmlichen Abschluss verzögert hat.“
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In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt,
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„Die Auffassung der Klägerin, für das Entstehen des Sanierungsausgleichs-anspruchs komme es unabhängig vom Fortbestehen der Sanierungs-satzung lediglich auf den faktischen Abschluss der Sanierungsmaßnahmen an, findet im Gesetz keine Grundlage. …“
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Dem schließt sich die Kammer an.
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Hinzu kommt, dass ein schriftlicher Verzicht nicht vorliegt. Er wäre auch unwirksam, da er gegen das gesetzliche Gebot der Abschöpfung der Bodenwertsteigerung (§ 154 Abs. 4 BauGB) verstieße. Eine etwaige mündliche Zusage des Ortsbürgermeisters auf Nichterhebung des Sanierungsausgleichs wäre schon wegen der fehlenden Schriftform unwirksam (§ 155 Abs. 5 VwGO, § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG, § 205 AO).
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Unabhängig davon ist eine Verwirkung des Rechts (und der Pflicht) zur Erhebung von Sanierungsausgleichsbeträgen ebenfalls nicht eingetreten. Eine Verwirkung setzt voraus, dass nach Treu und Glauben nicht mehr mit der Geltendmachung eines Rechts gerechnet werden muss. Insoweit ist nicht nur ein gewisser Zeitablauf, sondern auch ein Umstandsmoment bzw. eine zurechenbare Erklärung erforderlich, um das Vertrauen auf die Nichtgeltendmachung des Rechts zu begründen (vgl. insoweit auch OVG Rheinland-Pfalz, a.a.O.). Insoweit kann sich die Klägerin von vorneherein nicht auf Presseberichte berufen, denn diese sind nur der Zeitungsredaktion, nicht aber der Beklagten zuzurechnen. Auch die angeblichen Erklärungen des Ortsbürgermeisters sind nicht der für die Beklagte handelnden Verbandsgemeindeverwaltung zuzurechnen, denn die Verwaltung der kommunalen Abgaben obliegt nicht dem Ortsbürgermeister, sondern der Verbandsgemeindeverwaltung in Vertretung der Ortsgemeinde (§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GemO). Zwar heißt es in § 68 Abs. 1 Satz 1 GemO, dass die Verbands-gemeindeverwaltung an die Entscheidungen des Ortsbürgermeisters gebunden sei, allerdings ist keine Entscheidung des Ortsbürgermeisters aktenkundig geworden. Außerdem wäre eine etwaige Entscheidung des Ortsbürgermeisters zur Nichterhebung von Sanierungsausgleichsbeträgen kommunalaufsichtlich zu beanstanden gewesen (§ 121 GemO). Selbst wenn die Klägerin auf die angeblichen Äußerungen des Ortsbürgermeisters hätte vertrauen dürfen, wäre diesem Vertrauen spätestens durch das Informationsschreiben vom 7. Oktober 1998 mit der Ankündigung der Erhebung von Sanierungsausgleichsbeträgen der Boden entzogen worden. Dass sie bis dahin im Vertrauen auf die angeblichen Äußerungen irgendwelche größeren Vermögensdispositionen getroffen hätte, die sie ansonsten unterlassen hätte, hat sie nicht vorgetragen. Die daran anschließende Zeitspanne bis zur tatsächlichen Erhebung des Ausgleichsbetrags genügt ebenfalls nicht als Vertrauensgrundlage, denn insoweit fehlt es an einem zusätzlichen Umstands- oder Erklärungstatbestand. Die bloße Vermutung der Klägerin, dass die Beklagte trotz des Informationsschreibens in Wahrheit keinen Sanierungsausgleich habe erheben wollen, genügt jedenfalls nicht als schutzwürdige Vertrauensgrundlage.
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Der Höhe nach besteht jedoch ein Bewertungsfehler, der vom Gericht nicht korrigiert werden kann. Anders als die Klägerin sieht das Gericht den Fehler jedoch weder in dem festgelegten Stichtag für den Anfangswert noch in den angewandten Bewertungsmethoden. Vielmehr gilt Folgendes:
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Die Beklagte hat sich ursprünglich auf das zonale Richtwertgutachten vom 6. Februar 2007 gestützt. Durch den Widerspruchsbescheid ist jedoch das konkrete Einzelgutachten vom 30. September 2011 als zusätzliche (und letztlich sogar entscheidende) Stütze herangezogen worden. Indem der Widerspruchsbescheid auf die „schlüssige Darlegung“ der Ermittlung der Bodenwerte Bezug nimmt, gegen die keine Bedenken bestünden, macht er sich das Einzelgutachten zu Eigen.
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Das Einzelgutachten hat zwar die methodischen Schritte zur Ermittlung des Anfangs- und Endwerts sorgfältig beschrieben und auch nachvollziehbar dargestellt. Insgesamt wurden drei verschiedene Bewertungsmethoden angewendet, deren Einzelergebnisse nicht arithmetisch gemittelt, sondern unter höherer Gewichtung der Komponentenmethode und unter geringerer Gewichtung des Bodenrichtwertverfahrens zu einer Bodenwertsteigerung von 8,12 €/qm, abgerundet auf 8,00 €/qm führte (S. 46 des Gutachtens). Die Bevorzugung der Komponentenmethode wurde mit dem direkteren Marktbezug begründet und ist nicht zu beanstanden. Allerdings fällt auf, dass im Rahmen der Komponentenmethode der Ausbauvorteil zwar nicht in voller Höhe eines (in Sanierungsgebieten unzulässigen) Ausbaubeitrags, wohl aber in Bezug auf die Restnutzungsdauer der Straße bewertet wurde. Das OVG Rheinland-Pfalz hatte noch mit Urteil vom 14. September 2004 - 6 A 10530/04.OVG - die Auffassung vertreten, dass
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„… der gesetzliche Ausschluss der Beitragspflicht nach § 154 Abs. 1 Satz 2 BauGB jeder rechtlichen Konstruktion entgegensteht, mit der die durch Erschließungsmaßnahmen bewirkte Wertsteigerung eines im förmlichen Sanierungsgebiets gelegenen Grundstücks in Analogie zum Beitragsrecht geltend gemacht wird.“
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Das Bundesverwaltungsgericht hat jedoch im anschließenden Nichtzulassungsverfahren mit Beschluss vom 21. Januar 2005 - 4 B 1.05 - wie folgt differenziert:
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„Wegen dieses rechtlichen Unterschieds zwischen Ausgleichsbeträgen nach § 154 Abs. 1 BauGB einerseits und Erschließungs- und Ausbaubeiträgen andererseits dürfen fiktiv ermittelte Ausbaubeiträge jedenfalls nicht ohne weiteres zur Bemessung der durch den Ausbau der Erschließungsanlagen bedingten Bodenwertsteigerung angesetzt werden. Das schließt allerdings nicht aus, dass fiktive Ausbaubeiträge je nach den Umständen des Einzelfalls als Anhaltspunkte bei der Ermittlung einer sanierungsbedingten Bodenwerterhöhung mit herangezogen werden. Je nach Art und Umfang des Erschließungsvorteils, der Höhe der Erschließungskosten im Verhältnis zum absoluten Grundstückswert (vgl. Kleiber/ Simon/Weyers, Verkehrswertermittlung von Grundstücken, 4. Aufl. 2002, § 14 WertV Rn. 138) und den Gegebenheiten des Grundstücksmarktes kann die Annahme gerechtfertigt sein, dass ersparte Aufwendungen für Erschließungs- oder Ausbaubeiträge zu einer Wertsteigerung des Grund-stücks in entsprechender Höhe führen (so im Ergebnis Kleiber, in: Ernst/ Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 28 WertV Rn. 46). Insoweit müssen jedoch die tatsächlichen Umstände, die den Rückschluss von fiktiven Ausbau-beiträgen auf entsprechende Bodenwerterhöhungen tragen sollen, konkret und nachvollziehbar dargelegt werden.“
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Die Kammer folgt dem Bundesverwaltungsgericht. Das Einzelgutachten hat auf Seite 55 bei der Bewertung des Ausbauvorteils einerseits zu Recht berücksichtigt, dass der Ausbauvorteil wegen des zurückliegenden Zeitraums zum Teil bereits „verbraucht“ war. Es ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, auf die „Restnutzungsdauer“ einer Anlage abzustellen (vgl. § 6 Abs. 6 ImmoWertV). Andererseits hat das Gutachten jedoch zu Unrecht eine übliche Nutzungsdauer der Erschließungsanlagen von 40 Jahren angenommen. Da der Ausbau der G.-Straße im Zeitpunkt der Entstehung des Sanierungsausgleichs bereits 11 Jahre zurück lag, wäre der Ausbauvorteil bei Annahme eines 40-jährigen Nutzungszeitraums in der Tat nur um 27,5 % „verbraucht“ gewesen, was zu den entsprechend geringen Abzügen und zu einer Wertsteigerung (im Rahmen der Komponentenmethode) von 9,63 €/qm führte. Nach dem - an sich ebenfalls nicht zu beanstanden - gewichteten Vergleich mit den übrigen Bewertungsmethoden wäre folglich ein Endwert von 56,02 €/qm und eine Bodenwertsteigerung von abgerundet 8,00 €/qm vertretbar gewesen (S. 46 des Einzelgutachtens).
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Nach ständiger Rechtsprechung beträgt aber die übliche Lebensdauer einer Erschließungs- oder Ausbaumaßnahme bei Straßen regelmäßig 20 Jahre, lediglich bei der Kanalisation geht man je nach Material und Funktion von 40 bis 100 Jahren aus (vgl. Nutzungsdauer von Abwasserkanal-Systemen, http://six4.bauverlag.de). Der Gesetzgeber hatte in § 42 Abs. 9 KAG 1986 sogar nur einen Zeitraum von 15 Jahren angenommen, bis im Anschluss an einen einmaligen Ausbaubeitrag wiederkehrende Beiträge erhoben werden konnten. In § 10a Abs. 5 KAG in der Fassung vom 16.12.2006 wurde der Zeitraum auf 20 Jahre ausgedehnt. Daraus ergibt sich, dass der Ausbauvorteil auch nach Auffassung des Gesetzgebers heutzutage regelmäßig nach 20 Jahren „verbraucht“ ist. Das schließt zwar nicht aus, dass es im Einzelfall auch länger dauern kann, bis eine Straße tatsächlich erneuerungsbedürftig wird. Es gibt aber keine starre Regel, wonach die „mittlere wirtschaftliche Gesamtnutzungsdauer von Erschließungsanlagen“ 40 Jahre beträgt. Bei Zugrundelegung eines Zeitraums von 20 Jahren wäre der Ausbauvorteil einer 11 Jahre alten Maßnahme bereits zu 55 % „verbraucht“ gewesen, was zu deutlich höheren Abzügen geführt hätte.
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Dem Gericht ist es jedoch verwehrt, den „richtigen“ Ausbauvorteil zu bestimmen. Es kann nur feststellen, dass die Beklagte ein Gutachten angewandt hat, das bezüglich des Ausbauvorteils im Rahmen der Komponentenmethode punktuell fehlerhaft ist. Die Ermittlung der Bodenwertsteigerung ist ein bewertender Vorgang, der dem Bewertungsermessen der verantwortlichen Gemeinde obliegt. Die Gemeinde kann zwar nach § 193 Abs. 1 Nr. 1 BauGB den Gutachterausschuss mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragen, sie ist aber nicht an das Gutachten gebunden (§ 193 Abs. 3 BauGB). Es liegt daher in ihrer Verantwortung und in ihrer Einschätzungsprärogative, das Gutachten auf seine Verwertbarkeit zu überprüfen und gegebenenfalls auch abweichende Schlussfolgerungen hieraus zu ziehen. Vorliegend bedeutet das, dass die Beklagte den Ausbauvorteil nach eigenem Bewertungsermessen selbst einschätzen muss und entweder in Anwendung der übrigen methodischen Schritte des Gutachtens oder auf sonstige Weise den Endwert bzw. die Bodenwertsteigerung neu bestimmen muss.
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Da das Gutachten, wie ausgeführt, an sich nachvollziehbar und aussagekräftig ist und nur an einem punktuellen Fehler leidet, bedurfte es hier auch keiner Einholung eines neuen Gutachtens durch das Gericht.
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Es ist auch nicht möglich, subsidiär auf das zonale Richtwertgutachten vom 6. Februar 2007 zurückzugreifen. Letzteres berücksichtigte nur die Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Zone, ohne konkret auf ein bestimmtes Grundstück einzugehen. Außerdem kam es im Rahmen der Komponentenmethode aufgrund bloßer Schätzungen (S. 14 unten) zu dem gleichen Ausbauvorteil von 9,63 €/qm (S. 15). Dies führte nach einem Vergleich mit dem Modell Niedersachsen (4,00 €/qm) zu einem gewichteten Endwert von 55,07 €/qm und damit zu einer Bodenwertsteigerung von 8,07 €/qm (S. 18). Da aber das Einzelgutachten vom 30. September 2011, wie dargelegt, auf Grund eines eindeutigen Bewertungsfehlers zu einem überhöhten Betrag kommt, kann das zonale Richtwertgutachten, das in diesem Punkt zum gleichen Zwischenergebnis gekommen war, ebenfalls nicht richtig sein.
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Da der Hauptantrag Erfolg hat, kommt es auf den Hilfsantrag nicht an.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit wegen der Kosten folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.
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Beschluss
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Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.976 € festgesetzt (§§ 52, 63 Abs. 2 GKG).
- 45
Die Festsetzung des Streitwertes kann nach Maßgabe des § 68 Abs. 1 GKG mit der Beschwerde angefochten werden.
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