Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 7 K 5304/18
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
T a t b e s t a n d
2Die am 00.00.1970 in Baku, Aserbaidschan, geborene Klägerin ist Staatsangehörige der Republik Aserbaidschan. Sie begehrt die Aufnahme als Spätaussiedlerin.
3Sie stellte erstmals am 12.05.1997 einen Antrag auf Erteilung eines Aufnahmebescheides beim Bundesverwaltungsamt (BVA). Ausweislich der vorgelegten Geburtsurkunde, die am 29.10.1970 ausgestellt wurde, ist sie die Tochter des am 00.00.1939 geborenen aserbaidschanischen Volkszugehörigen S. N. und der am 00.00.1947 geborenen aserbaidschanischen Volkszugehörigen P. N1. . In ihrem Aufnahmeantrag bestätigte sie, dass ihre Eltern Aserbaidschaner seien, als Muttersprache aserbaidschanisch erlernt hätten und auch die heutige Umgangssprache in der Familie aserbaidschanisch sei. Auch der Großvater väterlicherseits sowie die Großeltern mütterlicherseits seien Aserbaidschaner gewesen. Die Großmutter väterlicherseits, die am 00.00.1906 in Astrachan geborene F. N1. , geb. M. , sei jedoch Deutsche gewesen. Sie habe als Muttersprache die deutsche Sprache gesprochen. Sie habe die deutsche Kirche in Baku regelmäßig besucht und habe Privatunterricht in der deutschen Sprache erteilt. Sie sei im Jahr 1987 verstorben; zuvor habe sie von 1930 bis 1984 in Baku gelebt. Zum Nachweis der Abstammung des Vaters wurde seine Geburtsurkunde vorgelegt, die am 06.03.1997 neu ausgestellt worden war. Darin ist die Mutter F. N2. N1. mit deutscher Volkszugehörigkeit eingetragen. Dem Antrag war ferner die Fotokopie eines Passantrages der Großmutter K. N1. vom 22.10.1984 (Forma Nr. 1) beigefügt, in dem diese die deutsche Nationalität angegeben hatte und eine Neuausstellung des Passes wegen Verlustes beantragt hatte.
4Die Klägerin gab weiter an, sie sei selbst aserbaidschanische Volkszugehörige. Diese Volkszugehörigkeit ist auch in ihrem 1994 ausgestellten Inlandspass eingetragen. Ihre Muttersprache sei aserbaidschanisch. Die deutsche Sprache könne sie verstehen. In der Familie werde überhaupt nicht deutsch gesprochen.
5Mit Bescheid des BVA vom 04.12.2000 wurde der Aufnahmeantrag abgelehnt. In der Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin sei keine deutsche Volkszugehörige, weil sie väterlicherseits wie mütterlicherseits von aserbaidschanischen Volkszugehörigen abstamme. Das Merkmal der Abstammung von deutschen Volkszugehörigen sei somit nicht erfüllt. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
6Am 17.07.2017 stellte die Klägerin einen neuen Aufnahmeantrag mit im Wesentlichen gleichlautenden Angaben. Den Formularabschnitt zum Spracherwerb füllte sie nicht aus. Im Begleitschreiben der OSCE Deutschland vom 28.06.2017 wurde erklärt, die Familie verfüge über keinerlei Deutschkenntnisse. Die Großmutter der Antragstellerin sei Wolgadeutsche gewesen.
7Mit dem Antrag wurde u.a. eine Rehabilitationsbescheinigung der Abteilung für „Einsatz und statistische Information“ des Innenministeriums der Republik Aserbaidschan vom 15.09.1997 vorgelegt. Darin wurde erklärt, die zwangsweise Ansiedlung der Einwohnerin der Stadt Baku, Frau M. L. N2. , geb. 1906, mit ihrem Sohn N. Z. B. I. , geb. 1933, als Deutsche nach Kasachstan nach dem Beschluss des Volkskommissariats des Inneren der SSR Aserbaidschan vom 10.10.1941 werde als gesetzwidrig abgebrochen und die Familie sei rehabilitiert.
8Eine weitere Archivbescheinigung des Hauptamtes für Operation und Statistische Information vom 18.04.2017 bestätigte ebenfalls die Aussiedlung der Großmutter mit dem Sohn Z. aus der Stadt Baku nach Kasachstan wegen deutscher Abstammung sowie die Rehabilitation.
9Ferner wurde der Inlandpass der Großmutter L. N1. vom 27.11.1984 mit Eintragung der deutschen Nationalität vorgelegt.
10Durch Bescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 27.02.2018 wurde der Aufnahmeantrag als Antrag auf Wiederaufgreifen des bestandskräftig abgeschlossenen Erstverfahrens ausgelegt und abgelehnt. In der Begründung wurde angegeben, es liege kein Grund für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG vor. Insbesondere habe sich die Rechtslage durch das am 14.09.2013 in Kraft getretene 10. Änderungsgesetz zum BVFG nicht zugunsten der Klägerin geändert. Die Ablehnung sei wegen fehlender Abstammung von deutschen Volkszugehörigen erfolgt. Dieses Merkmal sei durch das 10. Änderungsgesetz nicht verändert worden. Weitere Gründe für ein Wiederaufgreifen seien nicht geltend gemacht worden. Ein Wiederaufgreifen im Ermessenswege nach § 51 Abs. 5 VwVfG komme ebenfalls nicht in Betracht. Bei der Abwägung der gegenläufigen Interessen werde dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung des bestandskräftigen Bescheides der Vorzug vor den privaten Interessen der Klägerin gegeben. Anhaltspunkte dafür, dass das Ermessen auf ein Wiederaufgreifen reduziert sei, beispielsweise wegen offensichtlicher Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides, seien nicht ersichtlich.
11Gegen den am 30.03.2018 zugestellten Bescheid hat die Klägerin mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 16.04.2018 am 18.04.2018 Widerspruch eingelegt und mit Schriftsatz vom 20.06.2018 begründet.
12Mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2018 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Gegen den am 02.07.2018 zugestellten Bescheid hat die Klägerin am 26.07.2018 Klage erhoben, mit der sie ihren Antrag auf Erteilung eines Aufnahmebescheides als Spätaussiedlerin weiter verfolgt.
13Die Klägerin ist der Auffassung, es liege ein Grund für das Wiederaufgreifen des Aufnahmeverfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vor, weil sich die Rechtslage durch das 10. Änderungsgesetz zum BVFG zu ihren Gunsten verändert habe. Die gesetzlichen Änderungen des § 6 Abs. 2 BVFG hätten Wirkung für die gesamte bestandskräftige Feststellung, dass ein Anspruch auf Aufnahme nicht bestehe. Das gelte auch, wenn nicht sämtliche Tatbestandsmerkmale der Anspruchsnorm von der Rechtsänderung erfasst seien, die Neubewertung aber infolge einer Änderung der Rechtsprechung zu einer günstigeren Beurteilung führe (OVG NRW, Urteil vom 14.07.2017 – 11 A 155/17 –). Denn Gegenstand der Bestandskraft sei der Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides, und nicht die Anspruchsvoraussetzung der deutschen Abstammung. Eine Frist für die Stellung des Antrages bestehe nach § 27 Abs. 3 Satz 1 BVFG nicht. Die Beklagte habe die Klägerin daher zwecks Nachweises ausreichender deutscher Sprachkenntnisse im Rahmen des wiederaufgegriffenen Verfahrens zu einem Sprachtest zu laden und die weiteren Voraussetzungen zu prüfen.
14Mit Beschluss der Einzelrichterin vom 28.01.2019 ist der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt worden. Die Erfolgsaussichten der Klage wurden verneint, weil nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 20.11.2018 – 1 C 23.17 – juris, Rn. 18) keine Änderung der Rechtslage zugunsten der Klägerin vorliege. Denn die Rechtsänderung durch das 10. Änderungsgesetz habe sich nicht auf das allein entscheidungserhebliche Tatbestandsmerkmal der deutschen Abstammung bezogen. Die Änderung der Auslegung des Abstammungsmerkmals durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.01.2008 – 5 C 8.07 – sei keine Änderung der Rechtslage.
15Auf die Beschwerde des Prozessbevollmächtigten der Klägerin wurde ihr durch Beschluss vom 01.03.2019 Prozesskostenhilfe bewilligt, da im Zeitpunkt der Entscheidungsreife des PKH-Antrages die Erfolgsaussichten der Klage von der Klärung einer schwierigen und umstrittenen Rechtsfrage abhingen, nämlich von der Auslegung des Merkmals der zugunsten des Betroffenen veränderten Rechtslage in § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Diese Klärung erfolgte erst durch die spätere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.11.2018 zu Ungunsten der Klägerin.
16Nach Ladung haben die Beteiligten auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet.
17Die Klägerin beantragt,
18die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesverwaltungsamtes vom 27.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2018 zu verpflichten, das Aufnahmeverfahren der Klägerin auf Erteilung eines Aufnahmebescheides wiederaufzugreifen.
19Die Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Sie hält an ihrer Auffassung fest, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens habe und verweist auf die Begründung der Ausgangsbescheide.
22Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
23E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
24Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung über die Klage entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
25Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 27.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen ihres bestandskräftig abgeschlossenen Aufnahmeverfahrens.
26Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung und Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- und Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Dies ist im vorliegenden Verfahren nicht der Fall.
27Eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen liegt vor, wenn sich die für den ergangenen Verwaltungsakt entscheidungserheblichen Rechtsnormen oder tatsächlichen Grundlagen geändert haben, sodass die Änderung eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder doch ermöglicht. Die Sach- oder Rechtslage muss sich hinsichtlich solcher Umstände geändert haben, die für den bestandskräftigen Verwaltungsakt tatsächlich entscheidungserheblich waren.
28vgl. BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 – 1 C 23.17 – , juris, Rn. 13.
29Im vorliegenden Verfahren war die Ablehnung des Aufnahmeantrags der Klägerin durch den bestandskräftigen Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 04.12.2000 auf einen einzigen Ablehnungsgrund, nämlich die fehlende Abstammung von einem deutschen Staatsangehörigen oder einem deutschen Volkszugehörigen gestützt.
30In Bezug auf den Ablehnungsgrund der nicht belegten Abstammung von Deutschen liegt keine Änderung der Sach- oder Rechtslage vor. Insbesondere kann sich die Klägerin nicht auf die Änderung der Rechtslage durch das am 14. September 2013 in Kraft getretene 10. BVFG-Änderungsgesetz (BGBl. I S. 3554) berufen. Durch dieses Gesetz wurde keine Änderung des Abstammungsmerkmals vorgenommen. Die Erleichterung der Anforderungen an die deutsche Volkszugehörigkeit in § 6 Abs. 2 BVFG bezog sich allein auf das Bekenntnis des Aufnahmebewerbers zum deutschen Volkstum und auf die familiäre Vermittlung der deutschen Sprachkenntnisse an den Aufnahmebewerber,
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2019 – 1 C 43/18 – juris, Rn. 16 und Urteil vom 20. November 2018 – 1 C 24.17 –, Rn. 16; OVG NRW, Beschluss vom 17.01.2019 – 11 A 1863/17 – ; VG Köln, Urteil vom 10.07.2018 – 7 K 12955/17– , juris, Rn. 43.
32Mit dem 10. Änderungsgesetz wurden auch die Anforderungen an die deutsche Volkszugehörigkeit oder deutsche Staatsangehörigkeit der Person, von der der Aufnahmebewerber seine deutsche Abstammung herleitet, nicht verändert. Das 10. Änderungsgesetz hat im Hinblick auf diese Frage keine Neuregelung getroffen. Vielmehr beurteilt sich die Frage, ob die Abstammungsperson die deutsche Volkszugehörigkeit oder die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers und damit nach § 6 BVFG in der vor dem 01.01.1993 geltenden Fassung. Die Frage, ob jemand von einem deutschen Volkszugehörigen oder deutschen Staatsangehörigen abstammt, wird somit im Zeitpunkt der Geburt fixiert und ist keinen Veränderungen im weiteren Zeitverlauf zugänglich,
33vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2019 – 1 C 43/18 – juris, Rn. 26; OVG NRW, Urteil vom 13.11.2019 – 11 A 648/18 – und Urteil vom 27.11.2019 – 11 A 2262/17–.
34Dies bedeutet, dass es hinsichtlich des Merkmals der Abstammung des Aufnahmebewerbers von einem deutschen Volkszugehörigen oder Staatsangehörigen keine Änderung der Rechtslage durch nachfolgende Gesetze geben kann, die die Anforderungen an die deutsche Volkszugehörigkeit des Aufnahmebewerbers für die Zukunft modifizieren.
35Eine Änderung der Rechtslage kann auch nicht mit der Begründung geltend gemacht werden, hinsichtlich der Abstammung könne nach den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Januar 2008 – 5 C 8.07 – und vom 29.10.2019 – 1 C 43.18 – auch auf die Großmutter der Klägerin väterlicherseits, Frau F. N1. , geb. M. , abgestellt werden. Mit dem Urteil vom 25.01.2008 hat das Bundesverwaltungsgericht die umstrittene Frage, welche Generationen der Abstammungsbegriff umfasst, erstmals geklärt und auch die Generation der Großeltern und weiterer Voreltern in den Abstammungsbegriff einbezogen. Die erstmalige Klärung einer Rechtsfrage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung begründet aber regelmäßig keine Änderung der Rechtslage i. S. v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG; eine Änderung der Rechtslage kann nur durch den Gesetzgeber erfolgen,
36vgl. BVerwG, Urteile vom 20.11.2018 – 1 C 23.17 –, juris, Rn. 17 und vom 13.12.2011 – 5 C 9.11 – juris, Rn. 27; OVG NRW, Beschluss vom 17.01.2019 – 11 A 1863/17 – .
37Andere Wiederaufgreifensgründe nach § 51 Abs. 1 VwVfG hat die Klägerin nicht geltend gemacht. Insbesondere sind die nun vorgelegten Rehabilitationsbescheinigungen für die Großmutter väterlicherseits keine neuen Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG. Denn sie hätten seinerzeit nicht zu einer günstigeren Entscheidung geführt, weil nach der damaligen Rechtsauffassung die deutsche Volkszugehörigkeit der Eltern oder eines Elternteils für die Bejahung der deutschen Abstammung erforderlich war. Die Abstammung von einem deutschen Großelternteil genügte nicht.
38Der Klägerin steht auch kein Anspruch auf ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG zu.
39Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann die Behörde ‑ auch wenn, wie hier, die in § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG normierten Voraussetzungen nicht vorliegen - ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren wiederaufgreifen und eine neue, der gerichtlichen Überprüfung zugängliche Sachentscheidung treffen. Hinsichtlich der in § 51 Abs. 5 i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG zu sehenden Ermächtigung zum Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne, welche die Korrektur inhaltlich unrichtiger Entscheidungen ermöglicht, besteht für den Betroffenen allerdings nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander. Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht jedoch ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ ist, was von den Umständen des Einzelfalls und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann „schlechthin unerträglich“, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, dessen Rücknahme begehrt wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei „schlechthin unerträglich“.
40Vgl. BVerwG, Urteile vom 20. November 2018
41– 1 C 23.17 – , juris, Rn. 25 ff. und vom 13. Dezember 2011 – 5 C 9.11 – , BayVBl. 2012, 478 (479 f.), juris, Rn. 29.
42Daran gemessen ist es nicht zu beanstanden, dass die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden vom 27.02.2018 und vom 26.06.2018 auch ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinn abgelehnt hat.
43Für einen Verstoß gegen Treu und Glauben oder gegen den Gleichheitsgrundsatz ist nichts ersichtlich. Der bestandskräftige Ablehnungsbescheid vom 04.12.2000 war auch nicht offensichtlich rechtswidrig, sondern nach Maßgabe der seinerzeitigen Rechtslage und Rechtsauslegung rechtmäßig.
44Der Bescheid war darauf gestützt, dass die Klägerin die Abstammung von einem deutschen Staatsangehörigen oder einem deutschen Volkszugehörigen nicht belegen konnte. Beide Eltern der Klägerin waren ausweislich der vorgelegten Geburtsurkunde und der Angaben der Klägerin im Aufnahmeantrag aserbaidschanische Volkszugehörige. Eine Abstammung von deutschen Großeltern wurde seinerzeit nicht als ausreichend angesehen und daher nicht geprüft. Diese Auslegung des Abstammungsmerkmals in der damals gültigen Norm des § 6 Abs. 2 BVFG 1993 entsprach der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die sich auf die Gesetzesmaterialien zum Kriegsfolgenbereinigungsgesetz stützen konnte (BT-Drucks 12/3212 S. 23),
45vgl. hierzu auch BVerwG, Urteile vom 20. November 2018– 1 C 23.17 – , juris, Rn. 25 und vom 13. Dezember 2011
46– 5 C 9.11 – , BayVBl. 2012, 478 (480), juris, Rn. 30; OVG NRW, Beschluss vom 17.01.2019 – 11 A 1863/17 – ,
47war also nicht offensichtlich rechtswidrig.
48Auch soweit das Bundesverwaltungsamt im Jahr 2000 für die Frage der Volkszugehörigkeit des Vaters der Klägerin anstelle des zum Zeitpunkt der Geburt im Jahr 1970 geltenden Rechts das im Zeitpunkt des Ablehnungsbescheides gültige Recht in der Fassung von 1993 angewandt hat, liegt ein offensichtlicher Rechtsfehler nicht vor. Diese Praxis entsprach bis zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.10.2019 – 1 C 43/18 – der einhellig angewandten Auslegung des Abstammungsmerkmals. Hierbei wurde die deutsche Volkszugehörigkeit der Abstammungsperson nach dem aktuell geltenden Recht geprüft und damit nach denselben Kriterien wie die Volkszugehörigkeit des Aufnahmebewerbers. Da der Vater des Klägers sich nach § 6 Abs. 2 BVFG 1993 zum aserbaidschanischen Volkstum bekannt hatte, war dieser nach dem damaligen Recht kein deutscher Volkszugehöriger.
49Es kommt daher nicht darauf an, ob der Vater der Klägerin als Frühgeborener (Geburtsjahr 1939) deutscher Volkszugehöriger nach Maßgabe des vor dem 01.01.1993 geltenden Rechts war, da nur offensichtliche Rechtsfehler zu einer Ermessensverdichtung führen können.
50Andere Gründe, die das Festhalten an dem bestandskräftigen Ablehnungsbescheid als schlechthin unerträglich erscheinen lassen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
51Das Gericht weist nur ergänzend darauf hin, dass auch die deutsche Volkszugehörigkeit der Großmutter väterlicherseits, Frau F. N1. , geb. M. , nach Maßgabe des vor dem 01.01.1993 geltenden Rechts nicht eindeutig zu bejahen ist. Denn es ist unklar, ob sie sich im maßgeblichen Zeitpunkt kurz vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die UdSSR im Juni 1941 zum deutschen Volkstum bekannt hat und das Bekenntnis durch objektive Merkmale bestätigt wurde, § 6 Abs. 1 BVFG. Gegen ein Bekenntnis spricht nämlich, dass die Großmutter seit 1930 bis zu ihrem Tod im Jahr 1987 unbehelligt in Baku gelebt hat und den gegen die deutsche Bevölkerungsgruppe gerichteten Vertreibungsmaßnahmen nicht ausgesetzt war. Das hat die Klägerin im ersten Aufnahmeantrag angegeben. Die im zweiten Antrag vorgelegten Bescheinigungen über die Zwangsumsiedlung nach „Kasachstan“ ohne Angabe eines konkreten Ortes oder eines Zeitpunktes dürften daher gefälligkeitshalber ausgestellt worden sein.
52Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO abzuweisen.
53Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus §§ 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
54Rechtsmittelbelehrung
55Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
56- 57
1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
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2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
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3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
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4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
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5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
63Statt in Schriftform kann die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
64Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
65Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
66Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
67Beschluss
68Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
695.000,00 €
70festgesetzt.
71Gründe
72Der festgesetzte Streitwert entspricht dem gesetzlichen Auffangstreitwert im Zeitpunkt der Klageerhebung (§ 52 Abs. 2 GKG).
73Rechtsmittelbelehrung
74Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.
75Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
76Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
77Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
78Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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