Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 2 K 2078/17.A
Tenor
Es wird festgestellt, dass das Klageverfahren durch Zurücknahme der Klage beendet ist, soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten begehrt, ihm die Flüchtlingseigenschaft, hilfweise den subsidären Schutzstatus zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Beklagte unter Aufhebung von Ziffern 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. Februar 2017 verpflichtet, das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans festzustellen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
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T a t b e s t a n d:
2Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit. Er reiste nach seinen Angaben am 16. September 2014 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, meldete sich als Asylsuchender und stellte den förmlichen Asylantrag am 30. September 2014 unter dem Namen „N. F. “, geboren am 00. 00. 1996 in Zarghun Shar. Am 10. September 2015 legte er der zuständigen Ausländerbehörde eine Geburtsurkunde (Tazkira) vor. Diese weist den Kläger als „N. K. “, geboren am 00. 00. 1991 in der Provinz Kabul aus. Zur Erläuterung führte der Kläger mit Schreiben vom 22. August 2015 aus, er habe Gewissensbisse und wolle reinen Tisch machen. Auf dem Weg nach Deutschland hätten ihm Schleuser geholfen und ihm zu diesen falschen Angaben geraten, weil er sonst keine Chance auf Asyl habe.
3Zur Begründung seines Begehrens gab der Kläger bei der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 14. Juli 2016 im Wesentlichen an, er sei aus Afghanistan geflohen, weil ihn Taliban bedroht hätten. Er habe von 2011 bis zum 26. August 2014 für ein Telekommunikationsunternehmen und zuletzt drei Monate für die UNO gearbeitet. Die Taliban hätten verlangt, sämtliche ihm zugängliche Informationen bezüglich der UN-Mitarbeiter an sie weiterzugeben. Weiterhin hätten sie verlangt, dass er die Gespräche von Politikern und UN-Mitarbeitern mitschneide. Der Kläger habe zum Schein eingewilligt, habe diesen Sachverhalt aber seinem im Innenministerium arbeitenden Onkel mitgeteilt, der zugesagt habe, die Polizei einzuschalten. Am 27. August 2014 habe seine Mutter dann einen Drohbrief der Taliban erhalten. Darin habe gestanden, wenn der Kläger die Aufforderungen der Taliban nicht befolge, werde keiner aus seiner Familie verschont bleiben. Sein Onkel habe den Brief im Innenministerium überprüfen lassen, wo man festgestellt habe, dass der Brief tatsächlich von Taliban stamme. Daraufhin habe der Kläger sich Ausreise entschlossen. Hinsichtlich der Einzelheiten der Anhörung wird auf das Anhörungsprotokoll verwiesen.
4Durch Bescheid vom 1. Februar 2017, zugestellt am 2. Februar 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Anerkennung als Asylberechtigter (Ziffer 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4). Ferner forderte es den Kläger unter Fristsetzung zur Ausreise auf und drohte ihm die Abschiebung nach Afghanistan an (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG befristete das Bundesamt auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
5Der Kläger hat am 15. Februar 2017 Klage erhoben.
6Zur Begründung hat er sich auf seinen Vortrag im Verwaltungsverfahren bezogen und ergänzt, im April 2018 sei sein Bruder von den Taliban getötet worden. Auch er stehe auf deren schwarzer Liste. Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 7. Dezember 2021 hat der Kläger mitgeteilt, er beschränke sein Klagebegehren auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG und verzichte auf die Durchführung der schon geladenen mündlichen Verhandlung. Er habe in Afghanistan niemanden mehr, ihm drohe bei einer Rückkehr die Verelendung. Seine ganze Familie habe nach der Machtübernahme der Taliban Afghanistan verlassen. Im Herbst 2021 hätten die Taliban seinen Onkel getötet, weil der im Innenministerium gearbeitet habe. Dessen Familie sei dann in den Iran geflohen. Auf den Hinweis des Gerichts vom 9. Dezember 2021, der anberaumte Termin bleibe bestehen, hat der Prozessbevollmöchtigte mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2021 erklärt, der Kläger halte an dieser Beschränkung nicht fest, sondern mache die Zuerkennung von § 3 und § 4 AsylG geltend. Des weiteren hat der Prozessbevollmöchtigte mit Schriftsatz vom 13. Januar 2022 vorgetragen, er nehme die im Schriftsatz vom 7. Dezember 2021 erklärte Beschränkung des Klagebegehrens zurück. In diesem Schriftsatz hat er ferner die Stellung von Beweisanträgen in der mündlichen Verhandlung angekündigt.
7Der Kläger beantragt,
8die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. Februar 2017 zu verpflichten,
9ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
10hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
11äußerst hilfsweise,
12die Beklagte zu verpflichten, das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans festzustellen,
13weiter hilfsweise Beweis zu erheben nach Maßgabe der im Schriftsatz vom 13. Januar 2022 angekündigten Beweisanträge.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid des Bundesamts.
17Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung zu seinem Begehren angehört worden.
18Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der Ausländerbehörde Bezug genommen.
19E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
20Die Klage hat nur teilweise Erfolg.
211. Soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten begehrt, ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen, kann das Klageverfahren nicht fortgesetzt werden. Vielmehr ist festzustellen, dass das Verfahren insoweit beendet ist. Denn der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat diese Klagebegehren mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2021 konkludent im Sinne von § 92 Abs. 1 Satz 1 VwGO zurückgenommen, indem er das Begehren seines Mandanten auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG beschränkt hat. Diese teilweise Klagerücknahme ist mit Eingang des Schriftsatzes bei Gericht am gleichen Tag wirksam geworden, mit der Folge, dass der Rechtsstreit insoweit nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO als nicht anhängig geworden anzusehen ist.
22Die ausgesprochene teilweise Klagerücknahme ist nicht durch Anfechtung oder Widerruf des Klägers wirkungslos geworden. Eine Anfechtung scheidet aus, weil die Grund- sätze des materiellen Rechts über die Anfechtung wegen Irrtums oder anderer Willensmängel auf die Prozesshandlungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch nicht entsprechend anwendbar sind.
23BVerwG, Urteil vom 6. Dezember 1996 – 8 C 33/95 –, NVwZ 1997, 1210, 1211; OVG NRW, Beschluss vom 16. August 1999 – 11 A 5530/97 jeweils m.w.N.
24Der Kläger kann seine Rücknahmeerklärung auch nicht widerrufen. Die vorgenommene Rücknahme einer Klage ist als Prozesshandlung grundsätzlich unwiderruflich. Eine Ausnahme kommt nur in Betracht, wenn ein Wiederaufnahmegrund im Sinne von § 153 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 579 und 580 ZPO gegeben ist,
25BVerwG, Urteil vom 6. Dezember 1996, a. a. O.; Rennert in Eyermann, Kommentar zur VwGO, 15. Auflage 2019, § 92 Rz. 10.
26Der Sachverhalt gibt hierfür allerdings auch ansatzweise nichts her; einen Wiederaufnahmegrund macht der Kläger auch selbst nicht geltend.
27Ein Widerruf kann weiterhin - ausnahmsweise - dann zulässig sein, wenn die Rücknahmeerklärung für das Gericht und die Beklagte sogleich als Versehen offenbar gewesen ist und es deshalb mit dem Grundsatz von Treu und Glauben unvereinbar wäre, den Erklärenden dennoch an seiner Prozesshandlung festzuhalten.
28BVerwG, Urteil vom 6. Dezember 1996, a. a. O.; OVG NRW, Beschluss vom 16. August 1999 – 11 A 5530/97 –.
29Auch ein derartiger besonderer Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Es spricht nach dem Inhalt des Schriftsatzes vom 7. Dezember 2021 nichts dafür, dass der Kläger sein Klagebegehren versehentlich auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG beschränkt hat.
30Den hilfsweise in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträgen des Klägers musste das Gericht vor diesem Hintergrund nicht nachgehen. Die im Schriftsatz vom 13. Januar 2022 unter Beweis gestellten Tatsachen sind für die gerichtliche Entscheidung nicht von Bedeutung (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO analog). Sie betreffen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und damit Ansprüche, über die - wie soeben ausgeführt – nicht mehr zu entscheiden ist.
312. Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet. Ziffern 4, 5 und 6 des angefochtenen Bescheids sind im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
32Dem Kläger steht zunächst gegen die Beklagte ein Anspruch auf Feststellung zu, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
33Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschrechte ist dies der Fall, wenn erhebliche Gründe für die Annahme sprechen, dass der Betroffene im Zielstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Gefahr läuft („real risk“), einer Art. 3 EMRK widersprechenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
34Vgl. EGMR, Urteile vom 28.06.2011 – Nr. 8319/07 und 11449/07 –, Rn. 212 f.; Urteil vom 28.02.2008 – Nr. 37201/06 –, juris, Rn. 129.
35Da die schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan nicht einem konkreten Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, zu denen die allgemeine wirtschaftliche Lage, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen ebenso wie die Sicherheitslage gehören,
36vgl. OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 – 13 A 3741/18.A –, juris, Rn. 70 f. m. w. N.,
37kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, eine erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nur in krassen Ausnahmefällen angenommen werden. Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK liegt demnach etwa dann vor, wenn der Betroffene seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält bzw. - nach einer neueren Formulierung des Gerichtshofs der Europäischen Union - sich die betroffene Person "unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, "die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre",
38vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.2021 – 1 C 4/20 –, Rn. 65, juris unter Verweis auf EuGH, Urteile vom 19.03.2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 89 ff. und - C-163/17, Jawo - Rn. 90 ff. sowie EGMR, Urteil vom 13.12.2016 – Nr. 41738/10.
39Für die Beurteilung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK ist in räumlicher Hinsicht grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet. Stellen die dortigen Verhältnisse einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar, ist zu prüfen ob auch in anderen Landesteilen derartige Umstände vorliegen oder für die betreffende Person eine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) besteht.
40Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.1.2013 – 10 C 15.12 –, juris, Rn. 26; EGMR, Urteil vom 28.6.2011 – 8319/07 und 11449/07 – (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
41Ausgehend von diesen Maßstäben liegt mit Blick auf die äußerst schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan in der Person des Klägers aktuell und auf absehbare Zeit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK vor.
42Die obergerichtliche Rechtsprechung hat, ebenso wie die erkennende Kammer, vor Beginn der Covid-19-Pandemie trotz Feststellung schlechter humanitärer Verhältnisse auf Grundlage der jeweiligen Erkenntnislage für Afghanistan das Vorliegen einer entsprechenden Ausnahmesitutation für alleinstehende, junge Männer regelmäßig nicht angenommen.
43Vgl. OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 – 13 A 3741/18.A –, juris, Rn. 205 ff.; Urteil vom 18.06.2019 – 13 A 3930/18.A –, Rn. 195 ff, jeweils m. w. N.; ebenso EGMR, Urteil vom 29.11.2013 – Nr. 60367/10 –, Rn. 88 ff.; Urteil vom 13.10.2011 – Nr. 10611/09 –, Rn. 84; VG Köln, Urteile der erkennenden Kammer vom 03.03.2020, 2 K 3710/17.A; vom 11.02.2020, 2 K 1912/17.A und vom 28.01.2020, 2 K 1427/17.A, nicht veröffentlicht.
44Derzeit halten jedoch mehrere Obergerichte an diesem Grundsatz nicht mehr in dieser Allgemeinheit fest. Hintergrund hierfür ist, dass sich die humanitären Bedingungen in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif – die mit Blick auf Sicherheitslage und ökonomische Grundbedingungen überhaupt für die Ansiedlung eines Rückkehrers aus dem westlichen Ausland in Betracht kommen – durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie weiter verschärft haben und mit einer Verbesserung mittelfristig nicht zu rechnen ist.
45Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.12.2020 – A 11 S 2042/20 –, juris, Rn. 104; OVG Bremen, Urteil vom 24.11.2020 – 1 LB 351/20 –, juris, Rn. 28; anders OVG Hamburg, Urteil vom 25.03.2021 – 1 Bf 388/19.A -, juris, Rn. 53 ff.; BayVGH, Urteil vom 26.10.2020 – 13a B 20.31087 –, juris, Rn. 23 ff., 42 ff.; nicht eindeutig OVG Rh.-Pf., Urteil vom 30.11.2020 – 13 A 11421/19 – juris, Rn. 136 ff.;
46Die Kammer schließt sich unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse zur Situation auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan aufgrund der Covid-19-Pandemie gerade für Rückkehrer ohne realisierbare Anbindung an Familie oder andere Netzwerke,
47vgl. hierzu auch BVerfG, Beschlüsse vom 15.12.2020 – 2 BvR 2187/20 – , juris, Rn. 2, und vom 9.2.2021 – 2 BvQ 8/21 –, juris, Rn. 8,
48der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg an, wonach auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK derzeit regelmäßig erfüllt sind, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Solche besondere begünstigende Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt.
49Vgl. ausführlich VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.12.2020 – A 11 S 2042/20 –, juris, Rn. 45 ff. und 106 ff. , mit zahlreichen Nachweisen, u. a. Gutachten der Frau Eva-Catharina Schwörer zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Lage in Afghanistan vom 30.11.2020, S. 15 f.
50Die Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg aus Dezember 2020 werden bekräftigt durch die Studie zum Verbleib und den Erfahrungen aus Deutschland abgeschobener Afghanen der Sachverständigen Stahlmann aus Juni 2021,
51Friederike Stahlmann, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans, Juni 2021, Hrsg.: Diakonie Deutschland, Brot für die Welt, Diakonie Hessen.
52Insbesondere ist derzeit für Rückkehrende nach Überzeugung der Kammer der Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt erheblich erschwert. Schon unabhängig von ihrer familiären und sozialen Vernetzung birgt allein der Umstand, dass Rückkehrende sich in Europa aufgehalten haben, für sie ein erhöhtes Risiko, Gewalt ausgesetzt zu sein. Er führt aber insbesondere auch zu ihrem sozialen Ausschluss aus der afghanischen Gesellschaft. Letzteres erhöht die alltäglichen Kosten und erschwert gleichzeitig den Zugang zu medizinischer Versorgung, zum Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie zu Identitätsdokumenten. Sozialer Ausschluss erschwert darüber hinaus auch den Zugang zu Rückkehrhilfen über das ERRIN-Programm. Die hauptsächliche Finanzierungsquelle für alltägliche Ausgaben Rückkehrender ist insofern in der überwiegenden Anzahl der in der genannten Studie begutachteten Fälle die private, freiwillige finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. Das erhöhte Gewalt- und Stigmatisierungsrisiko Rückkehrender setzt auch ihr Netzwerk einem insoweit erhöhten Risiko aus, was dessen Tragfähigkeit belastet. Dieser Faktor besteht unabhängig davon, wie die Asylsuchenden selbst die Qualität bzw. Tragfähigkeit ihres familiären bzw. sozialen Netzwerks aus dem Ausland heraus beurteilen. Auch bestehende Netzwerke sind durch die seit Jahrzehnten andauernden schlechten humanitären Bedingungen belastet. Das erhöhte Gewaltrisiko, dem Rückkehrende ausgesetzt sind, wirkt sich, etwa mit Blick auf daraus resultierende Mehrbedarfe bei Kosten für Unterkunft und medizinische Versorgung, negativ auf die Lebenshaltungskosten aus. Bedenken hinsichtlich der Repräsentativität der genannten Studie hat die Kammer insbesondere mit Blick darauf nicht, dass an ihr über 10 % der zwischen Dezember 2016 und März 2020 nach Afghanistan abgeschobenen Personen teilgenommen haben.
53Vgl. Friederike Stahlmann, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans, Juni 2021, S. 4, 41 ff.
54Durch die im August 2021 erfolgte Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat sich die beschriebene humanitäre Lage für Rückkehrende nicht verbessert sondern eher verschlechtert. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen droht Afghanistan spätestens im Winter eine humanitäre Katastrophe, u.a. auch aufgrund der weiterhin anhaltenden extremen Dürre im Land. Das Kinderhilfswerk UNICEF befürchtet, dass ohne Hilfe bis Jahresende rund eine Million Kinder in Afghanistan an Hunger sterben werden. Seit der Machtübernahme der Taliban vertieft sich die Krise im Land. Internationale Spendengelder sind ausgeblieben, es herrscht Bargeldmangel, die Wirtschaft steht in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps, Armut und Hunger greifen in weiten Teilen der Bevölkerung um sich.
55Vgl. aktuell FAZ vom 12. Januar 2022 „ Hungersnot in Afghanistan – Die Taliban sind unbelehrbar“; FAZ vom 28. Dezember 2021 „Die Lage in Afghanistan wird kritischer“; FAZ vom 3. Dezember 2021 „Familien in Afghanistan lassen unterernährte Kinder zurück“; FAZ vom 22. November 2021 „UN warnen vor Zusammenbruch des afghanischen Bankensystems“; ferner FAZ vom 7. Oktober 2021, vom 14. Oktober und vom 18. Oktober 2021; NZZ vom 12. November 2021 „Der Winter ist noch nicht da, und wir sehen schon aus wie Tote – Afghanistans Hungerkrise verschärft sich“; weiterhin „UN befürchten Hungersnot in Afghanistan“, abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-09/afghanistan-humanitaere-katastrophe-hungersnot-nahrungsmittelknappheit-unohilfskonferenz?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F
56Mit Blick auf diese aktuelle Situation kommt auch das Auswärtige Amt zu dem Schluss, dass rückkehrende Flüchtlinge aus Deutschland aufgrund des lang andauernden gewaltsamen Konflikts in Afghanistan, der zahlreichen Personen, die in diesem Jahr Pakistan und den Iran verlassen mussten und der großen Zahl der Binnenflüchtlinge, allenfalls in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern.
57Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan (Stand: 21. Oktober 2021) vom 22. Oktober 2021.
58Ausgehend von dieser Sachlage liegen in der Person des Klägers keine besonderen begünstigenden Umstände vor, die der Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK trotz der sehr prekären humanitären Lage in Afghanistan entgegenstehen würden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, in Afghanistan habe er inzwischen keine näheren Verwandten mehr. Er hat erläuternd wie auch schon bei der Anhörung vor dem Bundesamt darauf hingewiesen, dass sein Vater schon lange tot sei. Seine Mutter lebe mit den Geschwistern inzwischen bei Verwandten in Pakistan. Seinen Bruder, der für Afghan Aid tätig gewesen sei, hätten die Taliban 2018 getötet. Auch der Onkel des Klägers sei von den Taliban nach deren Machtübernahme getötet worden. Dessen Familie sei daraufhin in den Iran geflohen. Auf weitere Nachfrage des Gerichts hat der Kläger ausgeführt, er habe nach den vielen Jahren in Deutschland auch kein tragfähiges Netzwerk von sonstigen Personen mehr, die ihn notfalls unterstützen könnten, alle Kontakte seien nach der langen Zeit abgerissen.
59Das Gericht hat keine hinreichend belastbaren Anhaltspunkte, um an diesen Angaben des Klägers zu zweifeln. Persönlich hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Daran ändert der Umstand nichts, dass er im Verwaltungsverfahren zunächst falsche Angaben zu seiner Identität gemacht hat. Wie es dazu gekommen ist, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch mit Hilfe seines Prozessbevollmächtigten nochmals erläutert. In der Gesamtschau stellt sich die Sachlage für den Kläger nach allem so dar, dass er weder über hinreichend unterstützungsfähige oder -willige Angehörige in Afghanistan noch über ein sonstiges unterstützungsbereites soziales Netzwerk, nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte oder über ausreichendes eigenes Vermögen verfügt. Sonstige besondere Umstände, die den Schluss zuließen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, für sich das Existenzminimum zu sichern, liegen nicht vor.
60Angesichts der Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG bedarf es keiner Entscheidung zu den Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mehr, da es sich um einen einheitlichen Streitgegenstand handelt.
61Vgl. BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 – 10 C 14.10 –, juris, Rn. 17; Sächs. OVG, Urteil vom 18.03.2019 – 1 A 348/18.A –, juris, Rn. 89.
62Die Androhung der Abschiebung nach Afghanistan unter Ziffer 5 des angefochtenen Bescheides des Bundesamts ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Sie widerspricht im auch insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung den Anforderungen von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG. Danach darf eine Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, wie dies hier der Fall ist. Ebenso unterliegt die Befristungsentscheidung der Beklagten unter Ziffer 6 ihres Bescheides der Aufhebung.
63Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
64Rechtsmittelbelehrung
65Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
66- 67
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
- 68
2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
- 69
3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrens-mangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
71Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung ‑ ERVV -) wird hingewiesen.
72Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
73Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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