Urteil vom Verwaltungsgericht Magdeburg (8. Kammer) - 8 A 59/16
Tatbestand
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Als verbeamtete Lehrerin im Land-Sachsen-Anhalt begehrt die Klägerin die beihilferechtliche Erstattung ihrer Aufwendungen für Fingernagelprothetik und podologische Nagelbehandlung, welche mit den streitbefangenen Bescheiden vom 25.09.2014 und 27.02.2015 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 10.06.2015 als nicht beihilfefähig anerkannt wurden.
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Die Klägerin leidet unter "Tuberöse Sklerose" bzw. dadurch hervorgerufene Wucherungen, die operativ durch Nagelextraktion und CO² Laser beseitigt wurden. Es handelt sich um eine seltene Erbkrankheit. Die Kosten dieser Operationen wurden stets als beihilfefähig übernommen und stehen nicht im Streit.
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Bezüglich der Nachbehandlung reichte die Klägerin einen Kostenvoranschlag der Podologiepraxis S. Sch. über Nagelbearbeitung und Nagelprothetik vom 17.06.2014 in Höhe von 2136,90 € aufgrund einer ärztlichen Verordnung vom 12.06.2014 ein. Weiterhin legte die Klägerin insgesamt 22 Rechnungen der Podologiepraxis S. Sch. über podologische Nagelbehandlungen und Nagelprothetik im Zeitraum von 12.12.2013 bis zum 01.09.2014 sowie 6 weitere Rechnungen über podologische Nagelbehandlungen und Nagelprothetik im Zeitraum vom 22.09.2014 bis zum 27.01.2015 sowie eine ärztliche Verordnung von Nagelprothetik für sämtliche Fingernägel aufgrund der Diagnose "Tuberöse Sklerose" als Dauerschaden vor. Darüber hinaus übersandte sie diverse ärztliche und podologische Bescheinigungen.
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Der Kostenvoranschlag der Podologin beziffert sich auf 1521,20 € für ein Jahr. Darüber hinaus seien weiter Behandlungen notwendig, da es sich um Dauerschäden handele.
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Mit den streitbefangenen Bescheiden verweigerte der Beklagte die Kostenübernahme der Nagelnachbehandlung. Denn diese Behandlungsmethoden seien nicht in Anlage 9 zu § 23 Abs.1 Bundesbeihilfeverordnung (BBhV) aufgeführt, seien auch nicht mit einem Heilmittel nach dieser Anlage vergleichbar. Nach Vorlage im Berichtswege entschied das Ministerium der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt als oberste Dienstbehörde unter dem 02.06.2014, das es sich bei der Fingernagelprothetik nicht um die Behebung eines gesundheitlichen Mangels bzw. eines Körperschadens handele, welche aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen (z.B. bei Entstellung des Gesichtes) notwendig und die Versorgung als medizinisch-ästhetische Leistung zu bewerten sei. Vielmehr sei die Behandlung der allgemeinen Lebenshaltung der Beamtin zuzurechnen.
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Die Klägerin legte zuletzt im gerichtlichen Verfahren eine ärztliche Stellungnahme der behandelnden Hautärztin vor, in welcher es heißt:
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"Wie Ihnen hinreichend bekannt ist, leidet Frau A. an einer tuberösen Sklerose, auch Morbus Boumville-Pringle genannt, bei der es sich um ein autosomal - dominant vererbtes neuro-kutanes Multisystem-Fehlbildungssyndrom mit multiplen, tumorartigen Neubildungen vorwiegend im ZNS sowie an der Haut handelt. Seltener sind innere Organe betroffen. Bei Frau A. stehen neben anderen Symptomen die Ausbildung von Könen - Tumoren an den distalen Fingergliedern sowie subungual im Vordergrund. Das sind hautfarbene Wucherungen mit verruköser Oberfläche.
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Aufgrund der entstellenden Tumoren an fast allen Fingern beider Hände, musste sich die Patientin mehrfach einer operativen Therapie in der Universitätshautklinik B-Stadt unterziehen, wobei wiederholt sämtliche Nagelplatten extrahiert werden mussten, um die subungual gelegenen Tumoren durch Laserbehandlung abtragen zu können. Dabei kam es zu bleibenden Schädigungen der Nagelmatrix sowie zu teils ausgeprägten Narbenbildungen im Bereich der Nagelbetten. Therapiebegleitende Fotodokumentationen liegen in der Universitätshautklinik B-Stadt vor.
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Aus meiner Sicht handelt es sich bei den verbliebenen Restschäden sehr wohl um entstellende Folgeschäden einer Behandlung der angeborenen Erkrankung im Bereich der Fingerendglieder, zumal alle Finger beider Hände betroffen sind. Außerdem kommt der Nagelplatte eine wichtige Schutzfunktion zu. Wie bereits in einem früheren Schreiben ausgeführt, steht die Patientin durch ihren Beruf täglich in der Öffentlichkeit ohne eine Möglichkeit, die zerstörten Fingerendglieder zu kaschieren. Daher wurde seitens der Universitätshautklinik B-Stadt die Notwendigkeit einer Nagelprothetik formuliert und entsprechende Kostenübernahmeanträge gestellt. Bei dieser Nagelprothetik handelt es sich auch nicht um herkömmliche künstliche Fingernägel. Aufgrund der Schädigung des Nagelbettes sämtlicher Finger sowie der Nagelmatrix, ist eine individuelle Anpassung der Nagelersatzplatten an die vorhandenen Restgewebe und Narbenstrukturen der Nagelbetten notwendig. Aus meiner Sicht ist dies durchaus gleichzusetzen mit einer prothetischen Versorgung nach anderen entstellenden operativen Maßnahmen. Da diese Maßnahmen offensichtlich sehr wenig in Anspruch genommen werden, auch weil die Erkrankung nicht so häufig vorkommt, und aufgrund der vielgestaltigen Ausprägung immer Einzelfallentscheidungen sein werden, gibt es wohl auch keine entsprechende Formulierung in der Hilfs- und Heilmittelverordnung.
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Inwieweit die Patientin aufgrund der bleibenden Schädigungen psychologische Hilfe und Betreuung in Anspruch nehmen musste, ist mir nicht bekannt."
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Bereits im behördlichen Verfahren führte die Hautärztin unter dem 27.02.2014 (Blatt 31 Beiakte A) aus:
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"Da die Patientin als Lehrerin in der Öffentlichkeit steht und die Hände nicht verstecken kann, ergibt sich die Notwendigkeit einer Nagelprothetik, um zumindest ein bißchen optische Verbesserung zu erreichen. Außerdem werden die Nagelbetten mehr geschützt gegen äußere Einflüsse, da durch die Wucherungen lokal die schützende Nagelplatte ganz fehlt bzw. nur in geringen Resten vorhanden ist. Natürlich muß diese Nagelproblematik auch immer wieder erneuert werden, (…)."
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Das Universitätsklinikum B-Stadt (Dermatologie und Venerologie) bescheinigte unter dem 23.01.2014 im behördlichen Verfahren (Blatt 32 Beiakte A):
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"Der aktuelle Befund verursacht bei der Versicherten einen erheblichen Leidensdruck aufgrund der exponierten Lokalisation der Befunde. Deswegen bitten wir um die Kostenübernahme einer Nagelprothetik und bitten um kurzfristige Benachrichtigung."
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Die behandelnde Podologin S. Sch. bescheinigte im beihilferechtlichen Verfahren Blatt (38 Beiakte A):
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"[…] die von mir laut ärztlicher Verordnung durchzuführende Nagelprothetik für sämtliche Fingernägel kommt bei vielen Nagelproblemen als patientenfreundliche Behandlungsform zum Einsatz. Das Ergänzen von fehlenden Nagelteilen und Herstellen einer Nagelprothese stellt einen wichtigen Schutz für den nachwachsenden Nagel sowie für das empfindliche Nagelbett dar.
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Nachdem ich bei Ihnen alle losen und brüchigen Teile der Fingernägel entfernt hatte, wurde ein spezieller schnellhärtender, hautfreundlicher 2 Komponenten Kunststoff in mehreren dünnen Schichten aufgetragen und dem natürlich wachsenden Nagel nachgebildet. Dieser wurde anschließend in eine gefällige und angepasste Form geschliffen.
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Das elastische, atmungsaktive Material schützt das Nagelbett vor mechanischen Einwirkungen; eingearbeitete Mittel verhüten Entzündungen und Pilzbefall.
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Mit der Nagelmasse entsteht ein kosmetisch einwandfreier und optisch "normaler" Nagel. Durch das Ergänzen fehlender Nagelteile gelingt es, einer Verformung des Nagelbettes und des Fingernagels vorzubeugen und den Restnagel zu stabilisieren.
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Folgeschäden, z. B. Wachstumsstörungen durch einen sich aufwölbenden distalen Nagelwall oder Verhornungen des Nagelbettes, lassen sich so vermeiden.
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Der Nagel kann ungehindert nachwachsen. Zusätzlich zu den positiven Ergebnissen für den gesundheitlichen Zustand der Finger führen die Behandlungen zu einer Verbesserung des ästhetischen Aussehens der Fingernägel und die Betroffenen erhalten damit eine wertvolle psychologische Unterstützung.
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Die genannten Kosten für die podologische Nagelprothetik beinhalten auch die Materialkosten. Die Kosten für Nachbehandlungen bei Positionen sind höher, weil der Zeitaufwand dafür größer ist. Der gesamte Zeitraum der Behandlungen kann bis zu einem Jahr betragen. Die Haltbarkeit einer Nagelprothese ist sehr unterschiedlich, weil die gesundheitliche Schädigung aller Fingernägel unterschiedlich war, somit die angefertigten und angepassten Nagelprothesen nur ähnlich sind und deren anschließende Belastung patientenabhängig auch immer unterschiedlich ist.
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Die von mir durchgeführte Nagelprothetik der Fingernägel ist in keiner Weise vergleichbar mit einer podologischen Behandlung aufgrund eines diabetischen Fußsyndroms, weder von den Tätigkeiten her noch vom eingesetzten Material."
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Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 25.09.2014 und 27.02.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2015 zu verpflichten, den diesen Anträgen zugrunde liegenden Beihilfeantrag stattzugeben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen
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und verteidigt die in den Bescheiden und die darin geäußerte letztendlich vom Ministerium der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt geäußerte Rechtsansicht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringen der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang und insbesondere auf die dortigen ärztlichen und podologischen Stellungnahmen und Lichtbilder bezüglich des Erscheinungsbildes der Erkrankung verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Die streitbefangenen Beihilfebescheide sind bezüglich der Ablehnung der begehrten Beihilfe rechtswidrig und verletzen die Klägerin in Ihrer Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf die beihilferechtliche Erstattung der von ihren verauslagten Aufwendungen für die Fingernagelprothetik und podologische Nagelnachbehandlung.
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Rechtsgrundlage für die Gewährung von Beihilfe stellen die im Land Sachsen-Anhalt geltenden Beihilfevorschriften des Bundes (BBhV) dar.
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Gemäß § 23 Abs. 1 BBhV sind Aufwendungen für ärztlich verordnete Heilmittel und die dabei verbrauchten Stoffe beihilfefähig, wenn diese in Anlage 9 aufgeführt sind und durch Angehörige der Gesundheits- und Medizinalfachberufe nach Anlage 10 angewandt werden. Unstreitig sind in Anlage 9 zu § 23 Abs. BBhV verschiedene podologische Therapieverfahren "nur" zur Erkrankung der Füße und "nur" bei Diagnose "Diabetisches Fußsyndrom" genannt.
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Mag eine Beihilfefähigkeit nach § 23 Abs. 1 BBhV in Verbindung mit Anlage 9 mangels explizierter dortiger Erwähnung der vorliegenden podologischen Behandlungsmethodik als Heilmittel ausscheiden, übersieht der Beklagte jedenfalls die Erstattungsfähigkeit nach § 25 BBhV. Dies wird auch in der nach 23.1.2 der VwV zu § 23 BBhV von der Beklagten bei den Ministerium der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt als oberste Dienstbehörde eingeholten Stellungnahme bzw. Einzelfallentscheidung vom 02.06.2014 übersehen bzw. nicht hinreichend gewürdigt. Erst in der aufgrund der richterlichen Verfügung vom 10.03.2016 erbetenen weiteren und ergänzenden Stellungnahmen des Ministeriums der Finanzen vom 26.04.2016 wird diesbezüglich Stellung genommen, wenn gleich auch dort zur Überzeugung des Gerichts die Problematik nicht hinreichend gesehen und beurteilt wurde.
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§ 25 Abs. 1 BBhV sind Aufwendungen für ärztlich verordnete Hilfsmittel, (…) sowie Körperersatzstücke beihilfefähig, wenn sie im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Beihilfefähig sind vorbehaltlich des Absatzes 4 Aufwendungen für Anschaffung, Reparatur, Ersatz, Betrieb, Unterweisung in den Gerbrauch und Unterhaltung der in Anlage 11 genannten Hilfsmittel, Geräte zur Selbstbehandlung und Selbstkontrolle und Körperersatzstücke unter den dort genannten Voraussetzungen. § 25 Abs. 4 BBhV bestimmt, dass Aufwendungen für Hilfsmittel und Geräte zur Selbstbehandlung und Selbstkontrolle im Sinne des Abs. 1 Satz 1, die weder in Anlage 11 oder 12 aufgeführt noch mit den aufgeführten Gegenstand vergleichbar sind, ausnahmsweise beihilfefähig sind, wenn dies im Hinblick auf die Fürsorgepflicht nach § 78 des Bundesbeamtengesetzes notwendig ist.
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Sind die Körperersatzstücke in § 25 Abs. 1 Nr. 1 Ersatz 1 BBhV noch unmittelbar genannt findet ihre Aufzählung in Abs. 4 der Norm und der Anlage nicht mehr statt, so dass bereits deswegen und letztendlich das notwendige Korrelat über die in § 25 Abs. 1 Satz 1 genannte Einzelfallentscheidung nach dem Fürsorgeprinzip stattfinden muss. Dieser notwendigen sich unmittelbar aus den Beihilfevorschriften ergebenen Einzelfallentscheidung ist vorliegend zur Überzeugung des Gerichts nicht hinreichend genüge getan worden.
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Zur Überzeugung des Gerichtes ergibt sich in dem vorliegenden Einzelfall die Erstattungsfähigkeit unmittelbar aus der dem Beihilferecht zugrunde liegenden Fürsorgepflicht nach § 45 Beamtenstatusgesetz; § 78 des Bundesbeamtengesetzes der Dienstherren gegenüber dem Beamten.
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Die Gewährung von Beihilfe findet ihre Grundlage in der Fürsorgepflicht des Dienstherrn, die ihrerseits zu den hergebrachten Grundsätzen des Beamtenrechts gehört und damit verfassungsrechtlich gewährleistet ist (Art. 33 Abs. 5 GG). Danach hat der Dienstherr Vorkehrungen zu treffen, dass der amtsangemessene Lebensunterhalt des Beamten bei Eintritt besonderer finanzieller Belastungen durch Krankheits-, Pflege-, Geburts- und Todesfälle nicht gefährdet wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.10.2003 - 2 C 26.02 - BVerwGE 119, 168 m.w.N.). Damit dienen auch die für die Ausgestaltung der Beihilfe erlassenen Vorschriften der Konkretisierung der Fürsorgepflicht. Dabei ist es dem Dienstherrn von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht verwehrt, im Rahmen der nach medizinischer Einschätzung behandlungsbedürftigen Leiden Unterschiede zu machen und die Erstattung von Behandlungskosten aus triftigen Gründen zu beschränken oder auszuschließen (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.05.2008 - 2 C 24.07 - DVBl 2008, 1193 m.w.N.). Art, Ausmaß und Begrenzung der Hilfe, die der Dienstherr dem Beamten gewährt, muss sich jedoch aus dem Gesamtzusammenhang der Beihilfenvorschriften als „Programm" ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.10.2003 - 2 C 26.02 - aaO). Damit darf eine Einschränkung der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für medizinisch notwendige Maßnahmen auch in Krankheitsfällen nur durch den Verordnungsgeber selbst aus triftigem Grunde erfolgen (vgl. nur: VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 07.01.2015, 2 S 1205/13; juris).
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Vorliegend dürfte es sich zur Überzeugung des Gerichts bei einer Fingernagelprothetik bereits um ein "Körperersatzstück" handeln. Denn - und dies ist entscheidend - ergibt sich aus den hinreichenden von der Klägerin vorgelegten ärztlichen und podologischen Bescheinigungen, dass bei Ihr aufgrund ihrer Grunderkrankung die Fingernägel und damit ein Teil ihres Körpers extrahiert, also entfernt worden sind. Damit musste die Klägerin auf einen natürlichen und dem Menschen angeborenen Teil ihres Körpers verzichten. Auch wenn diese durch ärztlichen Eingriff vorgenommene Entfernung der Fingernägel aufgrund der Möglichkeit des Nachwachsens der Nägel nur von temporärer vorrübergehender Natur war und stetig ist, erscheint es zur Überzeugung der Gerichtes aufgrund des vorliegenden Krankheitsbildes doch angemessen, einen - wenn auch nur vorrübergehenden - Verlust eines Körperteils anzunehmen. Dies gilt umso mehr, als aufgrund der Grunderkrankung der tuberösen Sklerose immer wieder mit diesen "Nachbehandlungen" zu rechnen ist. Zur Überzeugung des Gerichts ist eine prothetische Versorgung auch bei einem vorübergehenden Verlust eines Körperteils oder eines wesentlichen – kosmetischen – Bestandteils des menschlichen Körpers möglich (temporäre Interimsprothese). Dies belegt bereits die Versorgung mit Haarersatz (Perücke).
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Nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 der Verordnung über die Versorgung mit Hilfsmitteln und über Ersatzleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (Orthopädieverordnung) gelten "Ersatzstücke zum kosmetischen Ausgleich" als Körperersatzstücke. § 14 Nr. 4 Orthopädieverordnung nennt zudem "Narbenschützer".
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Im Übrigen ergibt sich auch unter der Annahme eines "Hilfsmittels" im Sinne des Beihilferechts die im Einzelfall gegebene Erforderlichkeit, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Zur Überzeugung des Gerichtes handelt es sich bei der vorliegenden Notwendigkeit der Fingernagelprothetik gerade nicht "nur" um eine "kosmetische Maßnahme" deren Kosten der allgemeinen Lebensführung eines Menschen zuzuordnen sind und damit in der Eigenverantwortung des Beamten liegen. Es erscheint dem Gericht nicht nachvollziehbar, wenn die oberste Dienstbehörde diesbezüglich argumentiert, dass sich die Klägerin ausweislich der Klageschrift vordringlich auf ästhetische Gründe berufe und sodann die Parallele zu künstlichen Fingernägeln gezogen wird. Dies stellt eine Verkennung der gesamten krankheitsbedingten Problematik und des Leidens bei der Klägerin dar. Die in den zahlreichen ärztlichen und podologischen Stellungnahmen geäußerten Hinweise auf die "wegen des Verlustes der natürlichen Fingernägel" gebotene Schutzfunktion einer Fingernagelprothetik, werden außer Acht gelassen. Es handelt sich gerade nicht um künstliche, der Ästhetik oder Verschönerung dienende, etwa aufsteckbare zusätzliche Fingernägel, sondern um den prothetischen Schutz des empfindlichen menschlichen Nagelbettes aufgrund der Entfernung des natürlich gewachsenen Fingernagels. Aus der im Tatbestand wiedergegebenen Stellungnahme der Podologin S. Sch. ergibt sich, dass die Prothetik das Nagelbett vor mechanischen Einwirkungen, Entzündungen und Pilzbefall schützt. Eine Verformung des Nagelbettes und des Fingernagels wird vorgebeugt und ein etwaiger vorhandener Restnagel wird stabilisiert; Folgeschäden z.B. Wachstumsstörungen durch einen sich aufwölbenden distalen Nagelwall oder Verhornungen des Nagelbettes lassen sich so vermeiden. Hierbei von einer "kosmetischen Maßnahme" zur "optischen Verbesserung" die dem "allgemeinen Wohlbefinden" zur "Erhöhung der Lebensqualität" zuzuordnen sei, zu sprechen, wie es die oberste Dienstbehörde meint, geht an der Sache vorbei.
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Zur Überzeugung des Gerichts geht das Ministerium der Finanzen in seinen Stellungnahmen fälschlich davon aus, dass die Notwendigkeit einer Nagelprothetik bei der Klägerin als in der Öffentlichkeit stehende Lehrerin vordergründig in einer optischen und nicht medizinischen Verbesserung gesehen werde. Der sodann angestellte Vergleich bestimmter körperlicher Anomalitäten ist im vorliegenden Fall nicht hilfreich und darüber hinaus ebenso fehlerhaft. Soweit die Einschätzung der obersten Dienstbehörde dahingehend erfolgt, die körperliche Auffälligkeit müsse in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im vorbei gehen" bemerkbar mache und regelmäßig zur "negativ empfundenen" Fixierung des Interesses anderer Personen auf den Betroffenen führe, sind gerade diese Voraussetzungen bei der Klägerin auch gegeben.
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Die Klägerin unterrichtet Kinder und zu Recht weist der Prozessbevollmächtigte der Klägerin daraufhin, dass der Gebrauch der Hände einer Lehrerin sich aus dem täglichen Unterricht nicht wegdenken lässt. Sie ist auf die Körpersprache ihrer Hände sowie auf ihre Hände als natürliches Unterrichtswerkzeug, z. B. zeigen und schreiben an der Schultafel angewiesen. Damit ist sie immer den Blicken auf ihre Hände ausgesetzt.
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Das Studium der in dem Verwaltungsvorgang befindlichen aussagekräftigen Lichtbilder der befallenden Fingernägel der Klägerin hinterlässt bei dem Gericht die eindeutige Überzeugung, dass auch diese "ästhetischen Voraussetzungen" bei der Klägerin gegeben sind.
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Finger ohne Fingernägel bzw. im Zustand nach Extraktion oder teilweisem Nachwachsen wirken auf den unkundigen Durchschnittsbürger zunächst entstellend und abstoßend. Ein solcher durch die Lichtbilder nachgewiesener Zustand der Finger und damit der Händen der Klägerin, sorgen bei Schüler- und Elternschaft sowie im Kollegenkreis natürlich für Aufmerksamkeit, Gerede und Ausgrenzungen. Die Klägerin sieht sich hier teils mitleidigen Blicken ausgesetzt, teils gezielten Nachfragen und je nach ihrem Beliebtheitsgrad oder dem Niveau des entsprechenden Schülers muss sie Häme und Spott ertragen. Darüber hinaus ist es nachvollziehbar vorstellbar, dass viele - auch erwachsene - Menschen, wie z. B. Eltern oder Kollegen es vermeiden möchten, der Klägerin aufgrund des äußerlichen Erscheinungsbildes ihrer Fingernägel die Hand zu geben. Dem gilt es durch die Fingernagelprothetik Abhilfe zu schaffen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß §§ 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. 708 Nr. 11, 711 ZPO. Der Streitwert ist nach § 52 Abs. 1 GKG in Höhe der vom Kläger angegebenen weiteren Beihilfe anzusetzen.
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Referenzen
- VwGO § 154 1x
- BBhV § 23 Heilmittel 4x
- VwGO § 113 1x
- VwGO § 167 1x
- BBhV § 25 Hilfsmittel, Geräte zur Selbstbehandlung und Selbstkontrolle, Körperersatzstücke 3x
- 2 S 1205/13 1x (nicht zugeordnet)
- § 52 Abs. 1 GKG 1x (nicht zugeordnet)