Beschluss vom Verwaltungsgericht Magdeburg (1. Kammer) - 1 B 528/18
Gründe
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Der sinngemäß gestellte Antrag,
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die aufschiebende Wirkung der am 01.02.2018 erhobenen Klage gegen Ziff. 3 des Bescheides des Bundesamtes vom 15.01.2018 anzuordnen,
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ist zulässig und begründet.
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Er ist insbesondere fristgerecht erhoben worden. Der Antrag konnte innerhalb der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO erhoben werden. Denn die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides, wonach die Klage innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung erhoben werden könne, ist unrichtig. Sie widerspricht der Regelung des § 74 Abs. 1, 2. HS AsylG, wonach die Klagfrist in einem Fall des § 29 Abs. 1 Ziff. 2 AsylG nur eine Woche beträgt. Darüber hinaus lässt die Rechtsbehelfsbelehrung einen Hinweis auf einen statthaften Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gänzlich vermissen.
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Der Antrag ist zulässig, obwohl dem Wortlaut von Ziff. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin zufolge die gesetzte Ausreisefrist von 30 Tagen erst nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens enden soll und damit Ziff. 3 des Bescheides zu einem früheren Zeitpunkt nicht vollziehbar sei.
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Die Klage hat entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin keine aufschiebende Wirkung, weil diese Rechtsfolge gem. § 75 AsylG nur in den Fällen des § 38 Abs. 1 AsylG, d. h. in den "sonstigen Fällen, in denen das Bundesamt den Ausländer nicht als Asylberechtigen anerkennt", ausgelöst wird. Der hier vorliegende Fall ist kein "sonstiger" im vorstehenden Sinne, denn er ist spezialgesetzlich von § 36 AsylG geregelt und sieht zudem gem. § 36 Abs. 1 AsylG zwingend eine dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist von einer Woche vor. Die aufschiebende Wirkung der Klage scheidet daher hier kraft Gesetzes aus. Diese Rechtsfolge könnte allenfalls durch die Aussetzung der Vollziehung i. S. v. § 80 Abs. 4 S. 1 VwGO im Einzelfall erfolgen, wovon die Antragsgegnerin unabhängig davon, ob sie hierzu nach dem AsylG ohne vorherigen Antrag befugt ist, in dem Verwaltungsverfahren der Antragsteller ausweislich des Tenors des Bescheides vom 15.01.2018 keinen Gebrauch gemacht hat. Nach dessen Wortlaut hat sie vielmehr eine mit dem Gesetz nicht vereinbare Regelung getroffen, ohne dass die "Aussetzung des Vollzuges" auf einer Besonderheit des vorliegenden Einzelfalles beruht.
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Das Interesse der Antragsgegnerin, zu vermeiden, dass die Antragsteller im Eilverfahren mit der daraus resultierenden Unwirksamkeit des Bescheides obsiegen, weil unklar sei, wie das Verfahren danach fortzusetzen sei und weil bei einem Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten dieselbe Entscheidung erneut ergehen müsse, ist nicht schutzwürdig und dessen ungeachtet zum Teil unzutreffend. Schutzwürdig ist vielmehr das Interesse der Antragsteller, mit Sicherheit von der Vollziehung der Ausreisepflicht durch die Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes verschont zu werden, wenn ein Abschiebungsverbot vorliegt und über § 37 Abs. 1 AsylG zu einem Abschluss des Asylverfahrens zu gelangen, ohne dass es einer Hauptsachenentscheidung hinsichtlich des Vorliegens von Abschiebungsverboten bedarf. Unzutreffend ist die Annahme der Antragsgegnerin, es sei ihr unmöglich, das Asylverfahren i. S. v. § 37 Abs. 1 S. 2 AsylG fortzusetzen. Im Falle einer stattgebenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts wegen eines vorliegenden Abschiebungsverbotes ist nicht ersichtlich, weshalb es der Antragsgegnerin unmöglich sein soll, der Auffassung des Verwaltungsgerichts zu folgen und das Asylverfahren mit der Feststellung eben dieses Abschiebungsverbotes in einem das Asylverfahren beendenden Bescheid abzuschließen, gleichgültig ob in Verbindung damit die Unzulässigkeitsentscheidung wiederholt wird oder nicht. Mit der Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß der Entscheidung des Verwaltungsgerichts wäre auch kein erneutes vorläufiges Rechtsschutzverfahren denkbar, weil die Antragsteller ihr angestrebtes Ziel, von der Abschiebung in den Drittstaat verschont zu werden, erreicht hätten. Die Anfechtung einer erneuten Unzulässigkeitsentscheidung wäre einem Klageverfahren vorbehalten.
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Für das sonach gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Ziff. 3 i. V. m. Abs. 5 S. 1 VwGO eröffnete vorläufige Rechtsschutzverfahren fehlt auch in Ansehung der gesetzten Ausreisefrist von 30 Tagen nach Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung nach Ungarn nicht das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis.
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Vom Fehlen des allgemeinen Rechtschutzbedürfnisses eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO ist ausnahmsweise (nur) dann auszugehen, wenn die gerichtliche Eilentscheidung für die Antragsteller von vornherein nutzlos erscheint, denn eine unnütze Inanspruchnahme des Gerichts findet auch im Eilverfahren nicht statt.
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Vorliegend ist die Inanspruchnahme des Gerichts indes nicht unnütz. Dies wäre nur der Fall, wenn die begehrte gerichtliche Entscheidung dem Rechtssuchenden keinerlei Vorteile gegenüber einem Zuwarten im Klageverfahren bringen würde. Letzteres ist hier bereits deshalb nicht der Fall, weil der Bescheid der Antragsgegnerin vom 15.01.2018 kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist (s. o.).
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Außerdem und dessen ungeachtet gehen die mit § 37 Abs. 1 AsylG angeordneten Rechtsfolgen einer stattgebenden Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren in den Fällen des § 29 Abs. 1 Ziff. 2 und 4 AsylG weit über die allgemeinen Wirkungen eines stattgebenden Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO hinaus. Sie erfassen nach § 37 Abs. 1 S. 1 AsylG nicht bloß die Vollziehbarkeit des mit der Klage angefochtenen Bescheides, sondern führen kraft Gesetzes zur Unwirksamkeit desselben. Rechtsschutzziel im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ist somit objektiv nicht nur die Beseitigung der Vollziehbarkeit, sondern - zumindest mittelbar - auch die Unwirksamkeit des Vollzugsgrundes, des Bescheides selbst. Eine Entscheidung über die Klage wird hierdurch überflüssig und der Rechtsschutz wird - jedenfalls bei stattgebender Entscheidung - vollständig in das Verfahren nach §§ 80 Abs. 5 VwGO, 36 Abs. 3 und 4 AsylG ohne Rechtsmittelmöglichkeit verlagert. Diese Wirkungen herbeiführen zu wollen ist im Falle einer stattgebenden Entscheidung für die Antragsteller von einem besonderen, durch § 37 Abs. 1 S. 1 AsylG legitimierten Nutzen im Sinne des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses.
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Der Antrag ist begründet.
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Gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt anordnen. Die Begründetheit eines solchen Antrages ist zu bejahen, wenn nach der im vorläufigen Rechtsschutz allein vorzunehmenden summarischen Prüfung das Suspensivinteresse des Antragstellers das Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes überwiegt. Gemäß § 36 Abs. 4 S. 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen.
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Der Maßstab der ernstlichen Zweifel, der seine Grundlage in Art. 16a Abs. 4 GG findet, ist auf Grund der Änderungen der §§ 29, 36 AsylG durch das Integrationsgesetz vom 31.07.2016 (BGBl. I, 1939), (auch) auf Fälle anzuwenden, in denen ein Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Ziff. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt wurde. Dies ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang von § 36 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG. Denn § 36 Abs. 1 AsylG erfasst in der nunmehr gültigen Fassung auch Anträge, die auf der Grundlage von § 29 Abs. 1 Ziff. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt wurden. Nach § 29 Abs. 1 Ziff. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz, d.h. die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz, zuerkannt hat. Das Bundesamt hat die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig hierauf gestützt, da den Antragstellern nach den Angaben der niederländischen Behörden in Ungarn die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist (vgl. VG Aachen, Beschl. v. 28.03.2017 - 8 L 382/17.A -, juris, Rdnr. 6).
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Ernstliche Zweifel im Sinne des § 36 Abs. 4 S. 1 AsylG liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die aufenthaltsbeendende Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält, das heißt, der Erfolg einer Klage gegen sie zumindest ebenso wahrscheinlich ist wie deren Misserfolg (VG Düsseldorf, Beschl. v. 12.07.2017 -, 22 L 1857/17.A -, juris, Rdnr. 6 f. m. w. N.).
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Gemessen hieran liegen ernstliche Zweifel an der Entscheidung des Bundesamtes mit der für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes notwendigen Sicherheit insoweit vor, als dieses die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Ungarn abgelehnt hat. Denn es liegen erhebliche Gründe für die Annahme vor, dass den Antragstellern - die als alleinstehende Mutter mit einem Kleinstkind im Alter von drei Jahren als vulnerabel anzusehen sind - in Ungarn als anerkannten Schutzberechtigten eine Verletzung von Art. 3 EMRK droht.
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Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Art. 3 EMRK bestimmt, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
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In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist anerkannt, dass die Rückführung eines Flüchtlings in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 EMRK auch durch den rückführenden Staat darstellen kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort gegen Art. 3 EMRK verstoßende Bedingungen herrschen. Solche Bedingungen können dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. hierzu insgesamt EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - 30696/09 - M.S.S. gegen Griechenland und Belgien, Rn. 263 f. und 365 ff.). Allerdings verpflichtet diese Norm nicht, jede Person innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs mit einem Obdach zu versorgen oder sie finanziell zu unterstützen, um ihr einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, Beschl. v. 02.04.2013 - 27725.10, Mohammed Hussein/Italien und Niederlande -, ZAR 2013). Auch gewährt sie von einer Überstellung betroffenen Ausländern grundsätzlich keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Allein die Tatsache, dass die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse bei einer Überstellung bedeutend geschmälert würden, begründet grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Vorschrift (vgl. EGMR, Beschl. v. 02.04.2013, a. a. O.).
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Die Verantwortlichkeit eines Staates ist jedoch dann begründet, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und - trotz ausdrücklich im nationalen Recht verankerter Rechte - behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EGMR, Urt. v. 21.01.2011, a. a. O.; siehe auch EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 u. a. -, juris). Bei der Prüfung einer Überstellung kommt es nicht nur auf die generellen Verhältnisse im Zielstaat an, sondern auch auf die individuellen Umstände des konkret Betroffenen. Wenn etwa mit Blick auf bestimmte Erkrankungen ernstliche Zweifel über die Folgen einer Abschiebung bestehen, müssen individuelle und ausreichende Zusicherungen des Zielstaates eingeholt werden. Jedenfalls ist es erforderlich, dass die dort gewährleisteten Rechte praktisch sowie effektiv und nicht nur theoretisch und illusorisch zur Verfügung stehen (für Vorstehendes: VG Berlin, Beschl. v. 17.07.2017 - 23 L 507.17 A, juris).
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Ob die in dem Zielstaat - hier: Ungarn - herrschenden Aufnahmebedingungen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK einzustufen sind, hat das Gericht anhand einer aktuellen Gesamtwürdigung der zu der jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen in Bezug auf die hiervon konkret betroffenen Antragsteller zu beurteilen. Dabei kommt regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen eine besondere Bedeutung zu. Deshalb sind gerade Berichte, die eine schon zuvor dargestellte Lage in der Zeit fortschreiben, für die Feststellung solcher Mängel besonders relevant. Dabei ist zu beachten, dass die zu beantwortende Frage Schutzgüter des deutschen und europäischen Verfassungsrechts betrifft, so dass es besonders sorgfältiger Prüfung bedarf, ob neue Stellungnahmen tatsächlich ohne Relevanz bleiben. Die fachgerichtliche Beurteilung solcher möglicherweise gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Aufnahmebedingungen muss daher, jedenfalls wenn diese ernsthaft zweifelhaft sind, etwa weil dies in der jüngsten Vergangenheit noch von der Bundesregierung und der EU-Kommission bejaht wurde und damit der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist, auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen. Dabei kann es sowohl verfassungsrechtlich als auch konventionsrechtlich geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Drittstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen. Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren - jedenfalls bezogen auf den Einzelfall - nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschl. v. 21.04.2016 - 2 BvR 273/16 - sowie v. 08.05.2017 - 2 BvR 157/17 -, jeweils juris).
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So liegt es hier.
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Nach einer Gesamtwürdigung der aktuellen Erkenntnislage zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 S. 1, 2. HS AsylG) ergibt sich, dass aufgrund der allgemeinen Lebensbedingungen von anerkannten Schutzberechtigten in Ungarn für die Antragsteller, die zu dem Personenkreis der schutzbedürftigen Personen zählen und für die, soweit für das Gericht ersichtlich, eine konkret-individuelle Zusicherung seitens der ungarischen Behörden fehlt, die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK besteht (vgl. VG Augsburg, Urt. v. 19.07.2018 - Au 8 K 18.30116; OVG Saarland, Beschl. v. 12.03.2018 - 2 A 69/18; VG Düsseldorf, Urt. v. 16.02.2018 - 12 K 13023/17.A; VG Berlin, Beschl. v. 17.07.2017 - 23 L 507.17 A; jeweils juris).
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Nach einer Gesamtwürdigung der aktuellen Erkenntnislage droht den Antragstellern im Falle einer Abschiebung nach Ungarn die Gefahr, einer solchen Situation ausgesetzt zu sein, in der sie nach der Ankunft über einen längeren Zeitraum keinen effektiv gesicherten Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen haben und damit „auf der Straße“ sich selbst überlassen sein werden. Maßgeblich ist hierbei nicht nur, dass anerkannte Schutzberechtigte nach der ungarischen Rechtsordnung grundsätzlich den gleichen Zugang zu Bildung, zur Gesundheitsversorgung, zum Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie zu Sozialleistungen, wie ungarische Bürger haben (vgl. Internetauftritt des Amts für Einwanderung und Asyl der Republik Ungarn unter der Rubrik „Häufige Fragen - Als Flüchtlinge in Ungarn“ (www.bmbah.hu)), sondern dass diese formellen Garantien auch tatsächlich zur Befriedigung von im Einzelfall bestehender elementarer Bedürfnisse führen, um ein menschenunwürdiges Dasein zu vermeiden. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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Durch die Gesetzesänderungen, die zum 01.04.2016 bzw. 01.06.2016 eingetreten sind, hat sich die Lage anerkannter Schutzberechtigter in Ungarn erheblich verschlechtert (European Council on Refugees and Exiles, "Asylum in Hungary: Damaged beyond repair?", März 2017, S. 6). Entgegen seiner Verpflichtung aus Art. 34 Richtlinie 2011/95/EU gewährleistet Ungarn nicht den Zugang zu Integrationsprogrammen. Anerkannte Schutzberechtigte erhalten weder Unterstützung bei der Wohnungssuche noch finanzielle Hilfen, Sprachkurse oder sonstige staatliche Integrationshilfen. So wurde die Möglichkeit zum Abschluss eines Integrationsvertrages - der Grundlage für die Gewährung finanzieller Unterstützung war - ebenso wie das monatliche Taschengeld mit der Einführung der gesetzlichen Änderungen ersatzlos abgeschafft; damit entfallen sowohl die mit ihm verbundenen finanziellen Hilfen als auch die individuelle Begleitung des Integrationsprozesses für die Dauer von zwei Jahren (Hungarian Helsinki Committee, "Hungary: Recent legal amendments further destroy access to protection, April-June 2016", 15.06.2016; Pro Asyl/bordermonitoring.eu, "Gänzlich unerwünscht - Entrechtung, Kriminalisierung und Inhaftierung von Flüchtlingen in Ungarn", Juli 2016, abrufbar unter: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2016/07/PRO_ASYL_Ungarn_Unerwuenscht_Broschuere_Jul16_WEB.pdf, S. 23; VG Augsburg, Urt. v. 19.07.2018, a. a. O.). Weiterhin dürfen die Schutzberechtigten nach der Entscheidung über die Schutzgewährung nur noch 30 anstatt 60 Tage in den offenen Aufnahmezentren wohnen, wobei dies nicht für nach Ungarn zurückgeführte Schutzberechtigte - wie die Antragsteller - gilt, weil die 30 Tage zum Zeitpunkt der Rückführung bereits lange abgelaufen sein werden. Für diese Personen existieren schlichtweg keine Unterbringungsstrukturen, weshalb ihnen unmittelbar nach der Rückführung Obdachlosigkeit droht (Pro Asyl/bordermonitoring.eu, "Gänzlich unerwünscht - Entrechtung, Kriminalisierung und Inhaftierung von Flüchtlingen in Ungarn", a. a. O., S. 28). Der beitragsfreie Zugang zur Krankenversicherung wird nur noch für einen Zeitraum von sechs Monaten (zuvor: 12 Monate) ab Zuerkennung des Status gewährt (Aida, Country Report: Hungary, Februar 2017, S. 94). Generell ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung in Anknüpfung an das Problem der Obdachlosigkeit äußerst problematisch, weil die Ausstellung einer Sozialversicherungsnummer eine sogenannte Adresskarte voraussetzt, die ihrerseits eine Meldeadresse zur Voraussetzung hat. Schutzberechtigten ohne festen Wohnsitz ist daher die Inanspruchnahme von Leistungen der Gesundheitsversorgung aufgrund nur schwer überwindbarer Hürden faktisch nahezu verwehrt. Der Zugang zum Arbeitsmarkt steht den Schutzberechtigten zwar grundsätzlich in der gleichen Weise offen wie ungarischen Staatsbürgern. Allerdings sind einige Berufsfelder ungarischen Staatsbürgern oder Ausländern mit langem Aufenthalt vorbehalten (Aida, Country Report: Hungary, Februar 2017, S. 93).
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Die in Ungarn anerkannt Schutzberechtigten können auch nicht auf die Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen von Nichtregierungsorganisationen verwiesen werden. Zwar unterstützen nichtstaatliche bzw. kirchliche Hilfsorganisationen die anerkannten Schutzberechtigten mit Notwendigkeiten wie Unterkünften, Hilfe bei der Arbeitssuche und dem Erlernen der ungarischen Sprache (Aida, Country Report: Hungary, Dezember 2017, S. 97; Hungarian Helsinki Committee, "Under Destruction: Dismantling Refugee Protection in Hungary in 2016", März 2017 sowie "Two years after: What's Left of Refugee Protection in Hungary?", September 2017). Allerdings ist den Internetauftritten der Nichtregierungsorganisationen Ungarisches Rotes Kreuz und Ungarisches Helsinki Komitee zu entnehmen, dass sie sich in erster Linie damit befassen, den Asylantragstellern im ungarischen Asylsystem - vor allem in Rechtsfragen - beizustehen (vgl. die Berichte beider Organisationen auf ihren Webseiten, abrufbar unter http://www.helsinki.hu/en/refugees_and_migrants/ sowie https://www.helsinki.hu/en/howcanwehelp/ und http://www.ifrc.org/en/news-and-media/news-stories/europe-central-asia/hungary /scorching-heat-and-poor-conditions-exacerbate-migrants-suffering-on-hungary-serbia-border-72369/, alle zuletzt abgerufen am 09.10.2018). Im Bereich der Integration ist zwar die Hungarian Association for Migrants Menedék tätig (vgl. http://menedek.hu/en/about-us, zuletzt abgerufen am 09.10.2018). In einzelnen Projekten, die teilweise vom Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der Europäischen Union unterstützt werden, leistet Menedék in mehreren Städten Ungarns Integrationsarbeit beispielsweise durch soziale und rechtliche Beratungen oder Hilfe bei der Suche nach einer Beschäftigung. Außerdem werden Kindergarten- und Schulplätze vermittelt. Allerdings bietet auch diese Organisation ihre Hilfe nicht landesweit, sondern lediglich in einigen größeren Städten an. Inwieweit diese wenigen Organisationen auch in der Zukunft zu einer Unterstützung in der Lage sein werden, ist vor dem Hintergrund ungewiss, dass die ungarische Finanzverwaltung seit dem 25.08.2018 eine Steuer von Nichtregierungsorganisationen, die Flüchtlingen helfen, erhebt. Sie beträgt 25 Prozent des Gegenwerts der aus dem Ausland erhaltenen Geld- und Sachspenden (Spiegel Online, "EU-Kommission prüft ungarische Strafsteuer für Flüchtlings-NGOs" vom 30.08.2018, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-eu-kommission-prueft-strafsteuer-fuer-fluechtlings-ngos-a-1225758.html, zuletzt abgerufen am 09.10.2018). Darüber hinaus wird die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen durch das „Gesetz über die Transparenz von aus dem Ausland unterstützten Organisationen“, durch welches die Organisationen gehindert werden, Geld einzuwerben und ihren Aufgaben nachzukommen, erheblich beeinträchtigt. Das Gesetz verpflichtet Nichtregierungsorganisationen, die jährlich umgerechnet mehr als 24.000 Euro aus dem Ausland erhalten, sich in einem speziellen behördlichen Register anzumelden und sämtliche ausländischen Spendenquellen über einem Wert von umgerechnet 1600 Euro offenzulegen. Außerdem müssen alle physischen und digitalen Dokumente, die unter die Bestimmungen des ungarischen Mediengesetzes fallen, gut sichtbar mit der Aufschrift "Aus dem Ausland unterstützt" versehen werden (Spiegel Online, "Ungarns neues NGO-Gesetz - Wie Orbán wieder die EU austrickste" vom 13.06.2017, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-und-das-ngo-gesetz-wie-viktor-orban-wieder-die-eu-austrickste-a-1151985.html, zuletzt abgerufen am 09.10.2018). Auch kirchliche Organisationen gelangen zunehmend an ihre Grenzen. Seit Jahren unterstützt die Reformierte Kirche in Ungarn mit der Organisation Kalunba Integrationsprojekte in der Flüchtlingsarbeit, indem Sprachkurse, Wohnprojekte und Alltagshilfen angeboten werden. Ein Großteil der Projekte wird finanziert über EU-Fördermittel aus dem sogenannten AMIF (Asyl-, Migrations- und Integrationsfond). Zum Juli 2018 ist ein Großteil der finanziellen Mittel weggebrochen, weil die ungarische Regierung ihre entsprechende Ausschreibung zurückgezogen hat. Seit Juli 2018 besteht deshalb in der Flüchtlingsarbeit der Reformierten Kirche in Ungarn eine enorme Finanzierungslücke: Es geht um Fördermittel von insgesamt über eine Million Euro (reformiert-info.de, "Flüchtlingsarbeit in Ungarn: Fördergelder in Millionenhöhe fallen weg", abrufbar unter https://www.reformiert-info.de/20951-0-8-1.html, zuletzt abgerufen am 09.10.2018). Die übrigen Kirchen in Ungarn folgen der Linie des Ministerpräsidenten Orbán in der Flüchtlingspolitik oder schweigen dazu (Spiegel online, "Flüchtlinge in Ungarn - Warum Orbán alle Asylbewerber inhaftieren will" vom 14.01.2017, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-in-ungarn-viktor-orbans-offensive-a-1129919.html, zuletzt abgerufen am 09.10.2018).
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Aus dem Vorstehenden ist die Gleichgültigkeit zu erkennen, mit welcher der ungarische Staat den Asylbewerbern und auch anerkannt Schutzberechtigten gegenübertritt. Migranten wird in Ungarn von der Regierung und weiten Teilen der Bevölkerung unverhohlen mit Misstrauen und Ablehnung begegnet; fremdenfeindliche Einstellungen sind traditionell weit verbreitet. Ministerpräsident Orbán und seine Regierung betrachten Flüchtlinge als "illegale Migranten" und potenzielle Terroristen, weshalb eine Integration von anerkannten Flüchtlingen oder Schutzbedürftigen nicht stattfindet und auch nicht erwünscht ist (Handelsblatt, "Viel Ärger um Flüchtlinge, EuGH berät über Klage gegen Quoten", abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/politik/international/viel-aerger-um-fluechtlinge-wie-es-migranten-in-ungarn-und-der-slowakei-ergeht/19780230-2.html?ticket=ST-11290890-rMB6jBTHp3NOWon6g5uN-ap2, zuletzt abgerufen am 09.10.2018).
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Bei Vorliegen einer solchen Auskunftslage hat die Antragsgegnerin angesichts der hier berührten hochrangigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG und der bei der Durchführung von Überstellungen allgemein besonders zu beachtenden Gesichtspunkte der Familieneinheit und des Kindeswohls jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit Neugeborenen und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren in dem genannten Sinne für diese in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 17.09.2014 - 2 BvR 1795/14 -, juris). Die Bedingungen für schutzberechtigte Kinder müssen daher an ihr Alter angepasst sein um sicherzustellen, dass diese Bedingungen für sie keine Situation von Stress und Sorge mit besonders traumatischen Folgen schaffen. Andernfalls würden die fraglichen Zustände das Mindestmaß an Schwere erreichen, das erforderlich ist, um in den Anwendungsbereich des Verbots nach Art. 3 EMRK zu fallen (vgl. EGMR, Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel gegen Schweiz)). Erforderlich ist eine konkrete und individuelle Stellungnahme, die nähere Details zu den spezifischen Bedingungen enthalten muss, in welcher konkreten Einrichtung die Betreffenden untergebracht werden und gegebenenfalls, welche der erforderlichen Behandlungen sie erhalten. Es müssen, wie der EGMR ausgeführt hat, „hinreichend detaillierte und verlässliche Informationen betreffend die konkrete Einrichtung, die materiellen Aufnahmebedingungen und die Wahrung der Familieneinheit“ geliefert werden; die Unterbringungsbedingungen müssen also konkret dargestellt sein.
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Der Antragsgegnerin oblag es daher, von den ungarischen Behörden dahingehende Zusicherungen einzuholen, dass die Antragsteller bei ihrer Ankunft in Ungarn in Einrichtungen und unter Bedingungen untergebracht werden, die dem Alter der Antragstellerin zu 2. angepasst sind und dass die Antragstellerinnen nicht getrennt werden (vgl. EGMR, Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel gegen Schweiz)).
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Entsprechende Zusicherungen hat die Antragsgegnerin nicht eingeholt.
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Wie bereits zur Begründung der Zulässigkeit des Antrages dargestellt, wird der Bescheid der Antragsgegnerin vom 15.01.2018 hiermit unwirksam, § 37 Abs. 1 S. 1 AsylG.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO sowie § 83b AsylG.
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Aus den vorstehenden Gründen bietet die von den Antragstellern beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg. Weil auch die weiteren Voraussetzungen des § 166 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO erfüllt sind, ist den Antragstellern Prozesskostenhilfe zu gewähren.
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- ZPO § 114 Voraussetzungen 1x
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- § 83b AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 58 1x
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