Urteil vom Verwaltungsgericht Magdeburg (7. Kammer) - 7 A 12/18

Tatbestand

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Die Kläger stammen aus der Türkei und begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes und äußerst hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungshindernissen.

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Am 05.12.2016 reisten die Kläger auf dem Luftweg über den Flughafen Nairobi (Kenia) nach Frankfurt am Main in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 20.12.2016 Antrag auf Asyl.

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Bei der Bundespolizeidirektion Flughafen Frankfurt/Main gaben die Kläger am 06.12.2016 an, dass sie am 12.08.2015 von Istanbul nach Dschibuti geflogen seien. Bis zum 26.08.2016 hätten sie sich dort aufgehalten. Der Kläger zu 1. arbeite bereits seit 2013 in Dschibuti. Am 26.08.2016 seien sie nach Nairobi geflogen. Bis zum 04.12.2016 hätten sie sich bei verschiedenen Freunden aufgehalten. Am 04.12.2016 seien sie dann Richtung Frankfurt am Main geflogen und dort am 05.12.2016 angekommen. Der Pass des Klägers zu 1. enthalte ein Visum für Tansania, drei Visa für Dschibuti, ein Visum für Somalia, ein Visum für Kenia und einige Ein- und Ausreisestempel. Der Pass der Klägerin zu 2. enthalte ein Visum für Dschibuti und ein Visum für Kenia.

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Im Ausland seien sie als Lehrer für die Gülen-Bewegung tätig gewesen. Im Juni 2015 seien alle privaten türkischen Einrichtungen in Dschibuti geschlossen worden. Anfang 2016 sei der Kläger zu 1. in eine Tourismusagentur eingestiegen. Der Gründer der Agentur arbeite in der Türkei. In der Folge des Putschversuches sei der Gründer unter dem Vorwurf, die Gülen-Bewegung finanziell zu unterstützen, im August festgenommen worden. Sie hätten durch einen Freund in Dschibuti erfahren, dass die Botschaft nach dem Kläger zu 1. und dem Gründer der Agentur suchen würde. Deshalb habe der Kläger zu 1. das Büro der Tourismusagentur in Dschibuti geschlossen. Bei einer Rückkehr in die Türkei hätten sie damit gerechnet, festgenommen zu werden. Aus Angst um ihr Leben hätten sie beschlossen, Dschibuti zu verlassen.

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Die Kläger übergaben der Bundespolizei ihre Reisepässe, Bordkarten sowie Flugtickets.

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In seiner Anhörung vor dem Bundesamt (im Folgenden: Bundesamt) am 20.12.2016 trug der Kläger zu. 1. im Wesentlichen vor, dass er seit seiner Zeit am Gymnasium mit den Ideen Gülens sympathisiere. Während seines Studiums habe er die Zeitschrift Zaman abonniert. Er habe im Jahr 2012 sein Studium an der Universität von Pamukkale abgeschlossen. Danach habe er 12 Monate seine Familie in der Vieh- und Landwirtschaft unterstützt. Im Jahr 2013 sei er nach Tansania gereist und habe als Lehrer für Türkisch in der Schule „FEZA“ unterrichtet. Im Jahr 2014 habe er in Dschibuti für die Firma „A“ ebenfalls als Türkischlehrer gearbeitet. Beide Arbeitgeber hätten die Ideen der Gülen-Bewegung gelehrt. Im August 2015 habe er die Klägerin zu 2. geheiratet. Den Goldschmuck seiner Ehefrau habe er in der Gülen-nahen Bank „Asya“ hinterlegt. Am 12.08.2015 sei er von Istanbul wieder nach Dschibuti geflogen und habe dort 12 Monate gelebt. Die Firma „A“ sei am 03.10.2015 auf Druck der türkischen Botschaft geschlossen worden. Polizisten hätten daraufhin die Pässe der Mitarbeiter beschlagnahmt und ein vorübergehendes Ausreiseverbot erteilt. Die anschließenden Ermittlungen hätten jedoch ergeben, dass es keine Straftaten gegeben habe. Die folgenden 6 Monate sei er in Dschibuti arbeitslos gewesen. Anschließend sei er Teilhaber einer Tourismusfirma gewesen. Sein Geschäftspartner sei M. gewesen, welcher ebenfalls Türke sei. Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei am 15.07.2016 habe die türkische Regierung die Regierung von Dschibuti aufgefordert, Anhänger der Gülen-Bewegung der Türkei auszuliefern. Sein Geschäftspartner sei zu dem Zeitpunkt in der Türkei gewesen und als Gülen-Anhänger verhaftet worden. Am 28.06.2016 sei er nach Nairobi (Kenia) geflogen. Von dort sei er am 05.12.2016 mit seiner Ehefrau, der Klägerin zu 2., nach Frankfurt am Main geflogen.

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In Afrika habe er die Ideen der Gülen-Bewegung gelehrt. Er habe den Messenger „ByLock“ genutzt. Die türkische Regierung unterstelle Nutzern des Messengers Sympathien zur Gülen-Bewegung.

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In Dschibuti habe er keinen Schutz gesucht, da es ein sehr kleines und armes Land sei. Er habe eine Auslieferung in die Türkei oder exterritoriale Anschläge auf seine Person befürchtet.

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Bei einer Rückkehr in die Türkei befürchte er, als Sympathisant und Anhänger der Gülen-Bewegung verhaftet und gefoltert zu werden.

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Die Klägerin zu 2. führte bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 20.12.2016 im Wesentlichen aus, dass sie in der Türkei das Gymnasium besucht habe und anschließend in Marokko islamische Religionslehre studiert habe. In Marokko habe sie im Januar 2013 ein Praktikum in einem türkischen Gülen-nahen Sprachbildungsinstituts mit dem Namen „Nilüfer“ absolviert. Sie sei freiwilliges Mitglied der Gülen-nahen Stiftung „Kimse Yokmu“, welche in der Türkei verboten worden sei. Weiterhin habe sie ein Konto bei der Gülen-nahen Bank „Asya“ gehabt. Sie sei von 2013 bis 2015 Abonnentin der Gülen-nahen Zeitungen „Zaman“ und „Hira Sizinti“ gewesen. Sie sei im Besitz eines „Gülen Dollars“ der Serie F gewesen. Im Jahr 2014 sei bei ihr Morbus Crohn diagnostiziert worden und sie sei deshalb in der Türkei behandelt worden. 12 Tage nach der Hochzeit mit dem Kläger zu 1. seien sie gemeinsam nach Dschibuti gereist. Ihr Ehemann habe dort eine Tätigkeit in einem Gülen-nahen Kultur- und Bildungszentrum für Sprachen begonnen. Es sei der Wunsch des Klägers zu 1. gewesen eine Schule in Dschibuti zu gründen, welche die Ideen Gülens lehre. Diese Einrichtung sei nach zwei Monaten geschlossen worden. Die Arbeitskollegen ihres Mannes seien ausgewiesen worden. In der Folgezeit sei der Kläger zu 1. arbeitslos gewesen. Seit März 2016 habe er sich als Geschäftspartner in einem Unternehmen für Touristik beteiligt. Eine Zeit lang sei ihre chronische Krankheit in einem Krankenhaus in Marokko behandelt worden. Ende Juli 2016 sei sie mit dem Kläger zu 1. nach Dschibuti zurückgekehrt. Währenddessen habe sich in der Türkei ein Putschversuch ereignet. Die türkische Regierung habe weltweit ihre Botschafter zur Schließung Gülen-naher Institutionen und zur Auslieferung ihrer türkischen Finanziers aufgefordert. Der Kläger zu 1. habe daraufhin entschieden, Dschibuti zu verlassen, da er befürchtet habe, in die Türkei abgeschoben zu werden. Sie habe dann zusammen mit dem Kläger zu 1. einen Freund des Klägers zu 1. in Kenia aufgesucht. Während des Aufenthaltes in Kenia habe sie ihr ungeborenes Kind verloren. In Kenia habe ihr Ehemann vergeblich versucht, Arbeit zu finden. Im gesamten Land herrsche täglich sehr viel Kriminalität. Mithin hätten sie und der Kläger zu 1. beschlossen, Kenia zu verlassen. Bei einer Rückkehr nach Dschibuti oder Kenia befürchte sie, in die Türkei abgeschoben zu werden.

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Die Kläger übergaben dem Bundesamt mehrere Unterlagen hinsichtlich ihrer vorgetragen Aktivitäten für Gülen-nahe Instituten.

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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 10.01.2018 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, den Antrag auf Asylerkennung und den Antrag auf subsidiären Schutz ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des AufenthG nicht vorlägen. Die Kläger wurden fristgebunden unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, es sei zu vermuten, dass der Kläger zu 1. in Tansania und Dschibuti lediglich aus wirtschaftlichen und weniger aus ideologischen Gründen gearbeitet habe. Die Tätigkeit als Lehrer rücke die Kläger nicht in einen besonderen Fokus der türkischen Sicherheitsbehörden. Die beruflichen Tätigkeiten der Kläger an Gülen-nahen Instituten würden sich allesamt auf Afrika beziehen und nicht auf die Türkei. Die Kläger hätten sich seit August 2015 ausschließlich außerhalb des türkischen Territoriums aufgehalten. Ihr Wirken könne deshalb keinen unmittelbaren Bezug zur Türkei oder zur türkischen Regierung haben. Ein besonderes Maß des persönlichen Engagements für die Gülen-Bewegung, welches über die berufliche Tätigkeit hinausgehe, sei nicht erkennbar. Dies folge auch nicht aus dem Vortrag der Kläger, wonach diese Nutzer der App „ByLock“ gewesen seien, ein Konto bei der Bank „Asya“ gehabt hätten, Gülen-nahe Zeitungen abonniert hätten, einen „Gülen-Dollar“ besessen hätten oder Mitglieder der Stiftung „Kimse Yokmu“ gewesen seien. Bei Bewertung des Sachvortrages würden alle Befürchtungen der Kläger mit Bezug auf ihr Heimatland lediglich auf subjektive Indizien oder unzulässige Schlussfolgerungen gründen. Der Kläger zu 1. könne durch die vorgelegten Unterlagen nicht beweisen, dass seine Anstellung bei der Firma „A“ auf Druck der türkischen Regierung beendet worden sei. Ebenso könne er die Verhaftung seines Geschäftspartners durch die vorgelegten Unterlagen nicht beweisen. Die Begründung der Kläger, Dschibuti verlassen zu haben, da die türkische Regierung dazu aufgerufen habe, Anhänger der Gülen-Bewegung auszuliefern, sei nicht glaubhaft. Denn nach dem Vortrag der Kläger hätten diese Dschibuti legal auf dem Luftweg verlassen. Diese Ausreise hätte nicht stattfinden können, wenn die türkischen Behörden Anweisungen gegeben hätten, Gülen-Anhänger auszuweisen. Dies sei zudem ein Indiz dafür, dass die Kläger nicht als Anhänger der Gülen-Bewegung bewertet werden würden.

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Am 29.01.2018 haben die Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führen sie über ihr Vorbringen in der Anhörung hinaus im Wesentlichen aus, dass der Kläger zu 1. in den Jahren 2003 bis 2004 und 2007 einen Gülen-nahen Nachhilfekurs besucht habe. Er habe von 2004 bis 2007 in einem Gülen-nahen Schülerwohnheim gelebt. 2007 bis 2008 habe er in einem Gülen-nahen Lichthaus gelebt. Während seines Lehramtsstudiums von 2008 bis 2012 habe er weiterhin in Gülen-nahen Lichthäusern gelebt. Er habe regelmäßig Sohbets (Gebetskreise) der Gülen-Bewegung besucht. Er sei als eine Art Mentor („Abi“) für jüngere Schüler tätig gewesen. Nach dem Studium habe sich der Kläger zu 1. von 2012 bis 2013 in verschiedenen Gülen-nahen Vereinen betätigt. Er sei für 30 Lichthäuser verantwortlich gewesen. Des Weiteren habe er Sohbets für Unternehmer organisiert, Kampagnen zur Gewinnung von Abonnenten für Gülen-nahe Zeitungen geführt und Besichtigungen für Spender von neu errichteten Schulen organisiert. Nach einem Besuch einer Gülen-Einrichtung im Nordirak habe er entschlossen, sich ebenfalls im Ausland für die Bewegung zu engagieren. Von 17.08.2013 bis 31.12.2013 habe er an der „FEZA Boys Secondary School“ gearbeitet. Für die Firma „A“ habe er vom 01.01.2014 bis zum 15.09.2014 ehrenamtlich und vom 15.09.2014 bis zum 15.09.2015 als Lehrer gearbeitet. Überdies habe er sich bei dem Gülen-nahen Verein „Kimse Yok Mu“ engagiert. Am 13.02.2016 habe er Anteile des Gülen-nahen Tourismus-Unternehmens „B“ gekauft und versucht, eine selbstständige Tätigkeit auszuüben. Das Unternehmen habe in Dschibuti, Somalia und der Türkei Filialen gehabt. Nach Informationen aus dem türkischen Justizinformationssystem (UYAP) liege gegen den Kläger zu 1. ein Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft Kocaeli wegen der Mitgliedschaft bei „FETÖ“ vor.

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Die Klägerin zu 2. habe seit 2006 an wöchentlichen Sohbets der Gülen-Bewegung teilgenommen. Sie habe Koranunterricht gegeben. Von 2008 bis 2009 habe sie einen Gülen-nahen Nachhilfeunterricht besucht. Überdies habe sie Spenden gesammelt und Lichthäuser besucht. Während ihres Studiums von 2009 bis 2011 in Marokko habe sie in einem Gülen-nahen Lichthaus gewohnt. Sie habe Abonnenten für Gülen-nahe Zeitschriften geworben. Im ersten Studienjahr habe sie Schüler für eine Gülen-nahe „Türkische Olympiade“ vorbereitet. Sie habe eine Vielzahl von Veranstaltungen organisiert, auf denen Bücher und Ideen von Fethullah Gülen vorgestellt worden seien. Während ihres Masterstudiums in Marokko habe sie die Stipendienvergabe an bedürftige Schüler organisiert. Ferner sei sie für die Lichterhäuser von Mädchen in Rabat (Marokko) verantwortlich gewesen. In wöchentlichen Sohbets habe sie den Austausch zwischen türkischen und marokkanischen Akademikern organisiert. Vom 17.08.2013 bis 31.12.2013 habe sie als Türkischlehrerin beim Gülen-nahen Institut „Nilüfer“ in Rabat (Marokko) gearbeitet. Sie habe ein großes Islam-Symposium der Gülen-Bewegung, an dem viele marokkanische Akademiker teilgenommen hätten, organisiert. Nach ihrer Rückkehr in die Türkei habe sie Gülen-Einrichtungen in Marokko präsentiert. Sie sei hierzu in verschiedene Städte gereist und habe mögliche Studiengänge und den Studienablauf in Marokko erläutert. Mitgliedern des Gülen-Nahen Vereins „Yildiz Hanimlar“ habe sie Koran- und Religionsunterricht erteilt. Am Gülen-nahen Fatih Kolej in Istanbul habe sie ehrenamtlich Religions- und Arabischunterricht gegeben. Sie sei als Mentorin für Schülerinnen aus Marokko in Istanbul zuständig gewesen und sei als „Albla“ (große Schwester) für ein Lichthaus in Istanbul tätig gewesen. Auch in Dschibuti und Kenia habe sie sich für Gülen-nahe Vereine vor Ort engagiert.

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Im Klageverfahren legten die Kläger weitere Unterlagen vor.

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Die Kläger beantragen unter Rücknahme ihrer Klage im Übrigen sinngemäß,

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1. die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 10.01.2018 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen,
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2. hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 10.01.2018 zu verpflichten, den Klägern subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren,
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3. weiter hilfsweise, unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 10.01.2018 festzustellen, dass in der Person der Kläger Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie bezieht sich zur Begründung im Wesentlichen auf die Gründe aus dem streitgegenständlichen Bescheid. Darüber hinaus führt sie unter Berufung auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. Februar 2017 (– A 11 K 6712/16 -) aus, dass die Kläger nicht mehr die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Bundesgebiet beanspruchen könnten, da sie bereits in Kenia ausreichende Sicherheit vor Verfolgung gefunden gehabt hätten.

23

Wegen der näheren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges verwiesen. Diese Unterlagen sowie die bei der Kammer geführten Erkenntnismittel zum Herkunftsland Türkei waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung des Gerichts.

Entscheidungsgründe

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Das Verfahren ist einzustellen, soweit die Klage zurückgenommen wurde (vgl. § 92 Abs. 3 VwGO). Die Kläger haben in der mündlichen Verhandlung die Klage zurückgenommen, soweit sie auf die Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte gerichtet war.

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Die nunmehr noch aufrechterhaltene Klage ist zulässig und begründet.

26

Die Kläger haben Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.

27

Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich aus § 3 Abs. 1 und 4 AsylG. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet. Nach § 3b Nr. 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Regelungen des § 3 Abs. 2 bzw. § 3 Abs. 4 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 8 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art und Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung bzw. den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. § 3a Abs. 2 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlungen beispielhaft etwa die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen.

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Eine Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nummer 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).

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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das bedeutet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, zitiert nach juris), wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet. Für die Verfolgungsprognose gilt beim Flüchtlingsschutz der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013, a.a.O.).

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Dieser Maßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (QRL), nicht durch den herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Tatsache, dass ein Kläger bereits in seinem Herkunftsland verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist aber ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltig Gründe sprechen dagegen, er werde erneut von solcher Verfolgung bedroht. Ob sich der Ausländer im Einzelfall auf diese Beweiserleichterung in Form einer tatsächlichen Vermutung - frühere Handlungen und Bedrohung wiederholten sich bei einer Rückkehr in das Herkunftsland - berufen kann bzw. die Vermutung widerlegt wurde, ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5/09 - zitiert nach juris).

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Vorliegend sind die Kläger nach eigenem Vortrag nicht vorverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.

32

Sind Schutzsuchende - wie die Kläger - unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr nur vor, wenn ihnen bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände ihres Falls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, weswegen ihnen die Rückkehr in den Heimatstaat nicht zumutbar ist.

33

Diese Voraussetzungen liegen vor.

34

Die Kläger haben vorgetragen, dass sie bei einer Rückkehr in die Türkei fürchten, aufgrund ihrer Aktivitäten als Mitglieder von „FETÖ“ eingestuft zu werden und deshalb Verfolgungshandlungen durch den türkischen Staat ausgesetzt zu sein.

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Die Kammer legt ihrer Entscheidung Folgendes zugrunde:

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Als Gülen-Bewegung wird die Gruppe der Personen bezeichnet, die dem islamischen Prediger Fethullah Gülen folgt. Die Bewegung ist keine politische Partei und auch keine Religion. Die von Gülen, welcher seit 1999 im Exil in den USA lebt, 1969 gegründete Bewegung war international vor allem für ihre Arbeit im Bildungsbereich (Universitäten, Schulen und Nachhilfeschulen) und in der humanitären Hilfe (z.B. die Hilfsorganisation „Kimse Yok Mu“) bekannt. In mehr als 160 Ländern - insbesondere in Afrika - gibt es Schulen und Universitäten, die mit der Bewegung in Verbindung stehen. Obwohl die Bewegung lange Zeit mit der AKP eng verbunden war - diese z.B. nach der Regierungsübernahme 2002 viel Personal für staatliche Institutionen aus dem Bildungsnetzwerk der Bewegung bezog -, kam es im Dezember 2013 zum politischen Zerwürfnis zwischen der Bewegung und der AKP, da Staatsanwälte und Richter, welche der Gülen-Bewegung zugeordnet wurden, Korruptionsermittlungen gegen den damaligen Ministerpräsidenten Erdogan sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen. Seit diesem Zeitpunkt wirft die türkische Regierung der Bewegung vor, staatliche Strukturen in der Türkei unterwandert zu haben. Tausende von mutmaßlichen Gülen-Anhängern in diversen staatlichen Institutionen wurden suspendiert, versetzt, entlassen und angeklagt. Die angespannte Situation zwischen der Bewegung und der türkischen Regierung spitzte sich in der Folge des Putschversuches im Juli 2016 dramatisch zu. In der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 versuchten eine Reihe von Putschisten aus dem Militär vor allem in Ankara und Istanbul, die staatliche Kontrolle zu übernehmen und den Staatspräsidenten Erdogan zu stürzen. Der Putschversuch wurde jedoch rasch niedergeschlagen. Noch in der Putschnacht machte die türkische Regierung die Gülen-Bewegung für den Putschversuch verantwortlich und die Bewegung wurde fortan als terroristische Organisation mit dem Namen „FETÖ“ (Fethullahistische Terrororganisation) eingestuft. Nach dem Putschversuch wurden durch die türkische Regierung umfassende und bis heute anhaltende „Säuberungsmaßnahmen“ gegen Personen und Institutionen eingeleitet, welche der Gülen-Bewegung bzw. FETÖ zugeordnet werden. 117.386 Personen wurden in Polizeigewahrsam genommen, wovon sich 53.142 Personen in Untersuchungshaft befinden. 34.926 Personen wurden zu Haftstrafen verurteilt. Zahlreiche Institutionen wie Vereinigungen, Stiftungen, Schulen, Banken, Zeitungen und Organisationen wurden geschlossen. Rund 600 Unternehmen von angeblich Gülen-nahen Geschäftsleuten wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Zur Unterstützung der Maßnahmen verhängte die Regierung am 20.07.2016 den Notstand, welcher den Erlass zahlreicher Notstandsdekrete ermöglichte. Die Dekrete schränkten insbesondere die Verfahrensrechte von Beschuldigten ein. Der Notstand wurde mehrfach bis zum 19.07.2018 verlängert. Das Ende des Notstandes hat jedoch nicht die Aufhebung der Bestimmungen aus den Notstandsdekreten und die Beendigung der erweiterten Rechte und Befugnisse der Regierung - insbesondere des Staatspräsidenten Erdogan - zur Folge. Mit der Präsidentschafts- und Parlamentswahl vom 24.06.2018 traten Verfassungsänderungen über die Einführung eines exekutiven Präsidialsystems in Kraft. In der Folge gewinnt die aktuelle Regierung weitreichende Vollmachten hinzu, der Staatspräsident kann per Präsidialdekret gesetzgeberisch tätig werden und ohne Mitwirkung des Parlaments die Verhängung des Notstandes verfügen. Eine Woche nach Beendigung des Notstandes beschloss das türkische Parlament ein Anti-Terror-Gesetz, wodurch Teile der Befugnisse aus dem Ausnahmezustand erhalten blieben (vgl. zum Ganzen: UK Home Office, Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist movement, Februar 2018; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei, 03.08.2018; Situation der Gülen-Bewegung, BT-Drucksache 19/3397; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Türkei, 07.02.2017; Spiegel Online, Türkei verabschiedet neues Anti-Terror-Gesetz, 25.07.2018, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-verabschiedet-neues-anti-terror-gesetz-a-1220210.html, abgerufen am: 10.12.2018; Deutsche Welle, Türkei beschließt neue Anti-Terror-Maßnahmen, 25.07.2018, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-beschlie%C3%9Ft-neue-anti-terror-ma%C3%9Fnahmen/a-44827222, abgerufen am: 10.12.2018; Deutsche Welle, Gülens Afrika-Netzwerk unter Druck, 02.08.2018, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/g%C3%BClens-afrika-netzwerk-unter-druck/a-19444647, abgerufen am: 10.12.2018)

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Nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnisse besteht für folgende Personengruppen das Risiko, als angebliches Mitglied von „FETÖ“ in den Fokus des türkischen Staates zu rücken:

38

Die Erkenntnisquellen geben übereinstimmend an, dass aus der Sicht des türkischen Staates Indizien für die Annahme, dass jemand der Gülen-Bewegung angehöre, die mutmaßliche Mitgliedschaft bzw. Tätigkeit bei Gülen-nahen Institutionen, Schulen, Universitäten, Vereinen, Vereinigungen und Gewerkschaften, ein Konto bei der Bank „Asya“, die Verwendung der App „ByLock“, der Besitz von Dollarnoten der F-Serie, der eigene Besuch oder der Besuch der Kinder an Gülen zugeschriebenen Bildungseinrichtungen und der Bezug einer Gülen-Zeitung wie „Zaman” seien.

39

In der Regel erschöpft sich der Vorwurf jedoch nicht in dem Vorhalt einer dieser Indizien, sondern in einer Kumulation mehrerer. Es kann der Grundsatz aufgestellt werden, dass die Wahrscheinlichkeit zu „FETÖ“ zugeordnet zu werden, umso höher ist, desto mehr Indizien bei einer Person zutreffen.

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Im Vordergrund richtet sich die Aufmerksamkeit des türkischen Staates zunächst gegen Angehörige der Justiz wie Staatsanwälte und Richter, da die Justiz als der Bereich angesehen wird, der am stärksten von „FETÖ“ unterwandert worden sei. Weiterhin soll ein erhöhtes Risiko auch für Rechtsanwälte, Polizisten, Soldaten, Lehrer, Akademiker und Mitarbeiter des Außenministeriums bestehen. Insbesondere die Konzentrierung auf Staatsbedienstete hält bis heute an. Zuletzt wurden kurz vor Beendigung des Notstandes durch Dekret 18.632 – darunter 9.000 Polizisten, 6.000 Armeeangehörige, 1.000 Angestellte des Justizministeriums und 650 Angestellte des Bildungsministeriums – entlassen.

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Die Türkei hat per Dekret in der Folge des Putschversuches etliche Medien, Organisationen und Einrichtungen aufgrund des Vorwurfes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung geschlossen. Eine Verbindung zu einer der geschlossenen Einrichtungen dürfte für den türkischen Staat ein starkes Indiz zur Zugehörigkeit zu „FETÖ“ darstellen (vgl. zum Ganzen: UK Home Office, a.a.O.; Auswärtiges Amt, a.a.O.; Situation der Gülen-Bewegung, BT-Drucksache 19/3397; BFA, a.a.O.; Spiegel Online, Erdogan entlässt 18.500 Staatsbedienstete, 08.07.2018, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-erdogan-entlaesst-18-500-staatsbedienstete-a-1217268.html, abgerufen am: 10.12.2018)

42

In Ansehung der Erkenntnisquellen, den Angaben der Kläger bei ihrer Anhörung bei dem Bundesamt und den Angaben der Kläger in ihrer informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung droht den Klägern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die Türkei durch den türkischen Staat in Anknüpfung an ihre Nähe zur Gülen-Bewegung als Mitglieder von „FETÖ“ eingestuft zu werden.

43

Es liegt auf der Hand, dass sich dies für den Kläger zu 1. schon daraus ergibt, dass ausweislich des im Klageverfahren vorgelegten Ausdruckes des Justizinformationssystems (UYAP) seit 2017 ein Haftbefehl in der Türkei gegen ihn mit dem Vorwurf „FETÖ/PDY“ vorliegt.

44

Darüber hinaus ergibt sich dies für die Kläger daraus, dass sie in ihrer Person eine Vielzahl der seitens des türkischen Staates für die Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung angesetzten Indizien aufweisen. Sowohl der Kläger zu 1. als auch die Klägerin zu 2. haben verschiedene Einrichtungen unterstützt, die mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen. Insofern ist der Vorhalt des Bundesamtes in dem Bescheid vom 10.01.2018 nicht verständlich, dass kein besonderes Maß des persönlichen Engagements der Kläger für die Gülen-Bewegung über die berufliche Tätigkeit hinaus erkennbar sei.

45

Beide haben sich unter anderem bei der Hilfsorganisation „Kimse Yokmu“ engagiert. Die größte nichtstaatliche Hilfsorganisation der Türkei ist bereits vor dem Putschversuch in das Visier der türkischen Regierung aufgrund ihrer Verbindung zur Gülen-Bewegung geraten. Im Oktober 2014 entzog die Regierung der Stiftung ihren Status als gemeinnützige Organisation. Sie gehörte zu den ersten Einrichtungen, die nach dem Putschversuch per Notstandsdekret aufgrund des Vorwurfes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung geschlossen worden sind. Gegen etliche Mitglieder der Organisationen wurden Festnahmen angeordnet (vgl. zum Ganzen: Kölner Stadt-Anzeiger, Gülen-Bewegung Der Staatsfeind Nummer eins, 04.03.2015, abrufbar unter: https://www.ksta.de/politik/guelen-bewegung-der-staatsfeind-nummer-eins-1365274, abgerufen am: 10.12.2018; Ntv, Haftbefehle gegen 121 Mitglieder von Hilfsorganisation, 27.09.2016, abrufbar unter: https://www.n-tv.de/ticker/Haftbefehle-gegen-121-Mitglieder-von-Hilfsorganisation-article18732176.html, abgerufen am: 10.12.2018).

46

Die türkische Regierung hat an Anhängern der Gülen-Bewegung, die sich im Ausland engagiert haben oder dort befinden, ebenfalls ein reges Interesse. Die türkische Regierung hat im Nachgang zu dem Putschversuch zahlreiche ausländische Regierungen um Mithilfe bei der Ermittlung von Mitgliedern des „Gu¨len-Netzwerkes“ gebeten. Mehrere Auslieferungsersuchen wurden so bereits auch an die Bundesregierung übermittelt. Es ist wahrscheinlich, dass türkische Stellen Regierungsgegner und Gu¨len-Anhänger im Ausland ausspähen (vgl. zum Ganzen: Auswärtiges Amt, a.a.O.).

47

Die Kläger gehören zur „Hochrisikogruppe“ der Lehrer an Gülen-Schulen. So war die Klägerin zu 2. unter anderem als Türkischlehrerin bei einem Gülen-nahen Institut in Marokko tätig. Speziell die Tätigkeit des Klägers zu 1. an der „FEZA Boys Secondary School“ in Tansania dürfte ein gesteigertes Interesse der türkischen Behörden auslösen, da die Türkei ihren Fokus auch auf „Gülen-Lehrkräfte“ außerhalb der Türkei legt (vgl. hinsichtlich Kasachstans: UK Home Office, a.a.O.). Die Türkei versucht seit dem Putschversuch auf zahlreiche afrikanische Staaten hinsichtlich der „Gülen-Schulen“ Einfluss zu nehmen und die Schließung der Schulen zu erwirken. Die „Feza-Schulen“ zählen mit ihren insgesamt 3.000 Schülerinnen und Schülern in Tansania zu den besten Schulen des Landes. Ihre Beliebtheit ergab sich zum Teil daraus, dass sie in das internationale Netzwerk der Gülen-Bewegung eingebunden waren und Absolventen daher die Aussicht hatten, an einer Gülen-nahen Universität in der Türkei zu studieren oder eine Stelle in einem türkischen Unternehmen zu finden. Neben der Finanzierung aus Schulgebühren erhielten sie Geld- und Sachspenden von der Gülen-Bewegung nahestehenden Unternehmern in Tansania, der Türkei und Deutschland. Türkische Anhängerinnen und Anhänger der Gülen-Bewegung zählten zum Lehrpersonal. Verschiedene Zeitungen berichten, dass bei Gesprächen zwischen dem Staatspräsidenten Erdogan und der tansanischen Regierung in Tansania Anfang 2017 die Schließung oder Übernahme der „Feza-Schulen“ ein zentrales Thema war (vgl. zum Ganzen: Deutsche Welle, Erdogan in Afrika: Wegbereiter für "anatolische Tiger", 24.01.2017, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/erdogan-in-afrika-wegbereiter-f%C3%BCr-anatolische-tiger/a-37258080, abgerufen am: 10.12.2018; Deutsche Welle, Schulen des islamischen Predigers Fethullah Gülen in Äthiopien verkauft, 03.03.2017, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/schulen-des-islamischen-predigers-fethullah-g%C3%BClen-in-%C3%A4thiopien-verkauft/a-37803310, abgerufen am: 10.12.2018; Welt-Sichten, Erdogan stört den Unterricht, 30.03.2017, abrufbar unter: https://www.welt-sichten.org/artikel/32822/erdogan-stoert-den-unterricht, abgerufen am: 10.12.2018; Fox News, Turkey's Erdogan holds meeting with Tanzanian leaders, 23.01.2017, abrufbar unter: https://www.foxnews.com/world/turkeys-erdogan-holds-meeting-with-tanzanian-leaders, abgerufen am: 10.12.2018; The Citizien, Stage set for battle over Feza Schools, 25.01.2017, abrufbar unter: https://www.thecitizen.co.tz/News/Stage-set-for-battle-over-Feza-Schools/1840340-3786122-kghao4z/index.html, abgerufen am: 10.12.2018).

48

Die Ausführungen des Bundesamtes in dem streitgegenständlichen Bescheid, wonach die Tätigkeit als Lehrer die Kläger nicht in einen besonderen Fokus der türkischen Behörden rücke, kann nach obigen Ausführungen nicht nachvollzogen werden. Gleichermaßen kann daher nicht die Einschätzung des Bundesamtes geteilt werden, dass Verfolgungsmaßnahmen unwahrscheinlich seien, da die beruflichen Tätigkeiten der Kläger in Afrika stattgefunden hätten und ihr Wirken daher keinen Bezug zur Türkei haben könne.

49

Neben ihren eigenen Verbindungen zur Gülen-Bewegung ist für die Klägerin zu 2. zu beachten, dass verschiedene Quellen berichten, dass es Verhaftungen von Familienangehörigen von wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft zu „FETÖ“ gesuchten Personen gibt, um Druck auf die gesuchten Personen auszuüben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gefährdungsprofile, 19.05.2017). Sofern die Klägerin zu 2. als Ehefrau des mit Haftbefehl in der Türkei gesuchten Klägers zu 1. ohne diesen in die Türkei zurückkehren würde, dürfte das Interesse der türkischen Behörden an dem Kläger zu 1. sich auch auf die Klägerin zu 2. projizieren.

50

Das Gericht ist auch vom Wahrheitsgehalt der Angaben der Kläger überzeugt. Das Vorbringen der Kläger ist glaubhaft. Sowohl bei ihrer Erstbefragung bei der Bundespolizeidirektion Flughafen Frankfurt/Main als auch bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt und im gerichtlichen Verfahren haben die Kläger ein einheitliches Verfolgungsschicksal vorgetragen. Dem steht nicht entgegen, dass die Kläger im Klageverfahren weiter detailliert zum Umfang ihrer Tätigkeiten für die Gülen-Bewegung vorgetragen haben. Denn dieses Vorbringen im Rahmen des Klageverfahrens ist nicht neu und stellt sich für das erkennende Gericht auch nicht als gesteigertes Vorbringen dar. Denn die Kläger haben beide bereits in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt ihre Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung und zahlreiche Aktivitäten innerhalb der Bewegung bekundet. Es ist nachvollziehbar, dass die Kläger nach der Ablehnung durch den streitgegenständlichen Bescheid diese – bereits zum Teil angedeuteten – Aktivitäten weiter ausführten und konkretisieren.

51

Neben dem in sich stimmigen und kongruenten Vortrag konnten die Kläger einen Großteil dieses durch Unterlagen belegen. Das Gericht sieht sich nicht veranlasst, an der Authentizität der Unterlagen zu zweifeln. Insbesondere wurde die Authentizität der Unterlagen nicht durch die Beklagte in Frage gestellt. Unter anderem brachten die Kläger Unterlagen bei, welche die Anstellung des Klägers zu 1. bei der „FEZA Boys Secondary School dokumentieren. Die Tätigkeit der Klägerin zu. 2 als Türkischlehrerin bei einem Institut in Marokko konnten die Kläger durch ein Bestätigungsschreiben dieses Institutes belegen. Der Aufenthalt der Kläger in verschiedenen afrikanischen Ländern kann durch Visastempel in ihren Reisepässen nachvollzogen werden. Sie legten ein Arbeitszeugnis vor, das die Tätigkeit des Klägers zu 1. bei der Firma „A“ belegt. Weiterhin legten sie Lichtbilder vor, die den Kläger zu 1. während des Türkischunterrichts bei dieser Firma zeigen. Weitere Lichtbilder zeigen, wie der Kläger zu 1. bei einer Veranstaltung der Hilfsorganisation „Kimse Yokmu“ teilnimmt. Die Kläger konnten einen Handelsregisterauszug beibringen, welcher die Beteiligung des Klägers zu 1. bei dem Tourismus-Unternehmen „B“ belegt. Des Weiteren legten die Kläger den Haftbefehl hinsichtlich des Geschäftspartners des Klägers zu 1., M., wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zu „FETÖ“ vor. Sofern das Bundesamt in dem streitgegenständlichen Bescheid ausführt, dass der Kläger zu 1. bestimmte Umstände seines Vorbringens durch die beigebrachten Unterlagen nicht beweisen könne, verkennt es die Beweisanforderungen im Asylverfahren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes im Asylverfahren, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im vielfachen befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung. Es dürfen keine unerfüllbaren Beweisanforderungen gestellt und keine unumstößliche Gewissheit verlangt werden. Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg des Asylbegehrens führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180; und vom 29.11.1977 - I C 33.71 - BVerwGE 55, 82; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -; vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 – und vom 21.07.1989 – 9 B 239/89 -, zitiert nach juris). Die Forderung, dass bestimmte Umstände und alle daran anknüpfenden Geschehnisse auf Grundlage von eingereichten Unterlagen bewiesen werden müssen, ist daher überzogen. Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes ist auch das Vorbringen der Kläger unter Berücksichtigung der Umstände hinsichtlich des Vortrages zur Firma „A“, zur Ausreise aus Dschibuti und zur Verhaftung seines Geschäftspartner M. glaubhaft. Insbesondere ist es glaubhaft, dass die Kläger Dschibuti und später gänzlich Afrika verlassen haben, da sie eine Abschiebung in die Türkei befürchteten. Das Gericht hat bereits dargelegt, dass die Türkei ein gesteigertes Interesse daran hat, in Afrika im Hinblick auf die Gülen-Bewegung Einfluss zu nehmen. In Nigeria sollen schon Stunden nach dem Putschversuch Einrichtungen der Gülen-Bewegung geschlossen gewesen seien (vgl. Deutsche Welle, Gülens Afrika-Netzwerk unter Druck, a.a.O.). Dschibuti und Kenia wurden im Rahmen des Afrika-Engagements der Türkei von der türkischen Führung in den letzten Jahren besucht (vgl. Deutsche Welle, Türkisch für Afrika, 01.06.2016, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/türkisch-für-afrika/a-19298965, abgerufen am: 10.12.2018; Deutsche Welle, Erdogan will mehr Einfluss in Afrika, 28.02.2018, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/erdogan-will-mehr-einfluss-in-afrika/a-42775841, abgerufen am: 10.12.2018). Erst im April 2018 gab die türkische Regierung bekannt, dass ihr ein „großer Schlag“ im Ausland gegen die Gülen-Bewegung gelungen sei. 80 Anhänger von „FETÖ“ - darunter auch türkische Lehrer - seien aus 18 Ländern in die Türkei rückgeführt worden (vgl. Handelsblatt, Türkei an Verfolgung von Gülen-Anhängern in 18 Ländern beteiligt, 05.04.2018, abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/politik/international/tuerkischer-geheimdienst-tuerkei-an-verfolgung-von-guelen-anhaengern-in-18-laendern-beteiligt/21144774.html, abgerufen am: 10.12.2018). Die Kläger konnten daher davon ausgehen, dass es für sie im Hinblick auf eine Auslieferung ein unkalkulierbares Risiko bedeutet, in Afrika zu verbleiben. In diesem Zusammenhang sieht das Gericht entgegen den Ausführungen des Bundesamtes die Glaubhaftigkeit des Vortrages nicht dadurch erschüttert, dass die Kläger Dschibuti legal auf dem Luftweg verlassen konnten. Die Kläger haben nie vorgetragen, dass sie seitens der Regierung von Dschibuti gesucht worden seien. Sämtlicher diesbezüglicher Vortrag beschränkte sich darauf, dass die Türkei die Führung von Dschibuti zur Auslieferung von Gülen-Anhängern aufgerufen hatte und sie daher eine Auslieferung befürchteten. Die Angst der Kläger vor einer Auslieferung durch einen afrikanischen Staat in die Türkei war - wie eben ausgeführt - nachvollziehbar. Ferner gibt es zwar zahlreiche Hinweise dafür, dass die Türkei an Gülen-Anhängern aus dem Ausland interessiert ist und ihren Einfluss in Afrika ausweiten möchte (vgl. oben). Es gibt jedoch keine Berichte, die von einem derartigen Einfluss der Türkei in jedem afrikanischen Land berichten, dass die Handlungen und Interessen der Staaten mit denen der Türkei gleichzusetzen sind bzw. die Staaten bedingungslos und ohne Weiteres jeder Anweisung der Türkei Folge leisten.

52

Die Kläger wären bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer Einstufung als Mitglieder von „FETÖ“ (als Merkmal i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b Abs. 1, 2 AsylG) Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG durch den türkischen Staat (als Akteur nach § 3c Nr. 1 AsylG) ausgesetzt.

53

Ihnen würde zunächst eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung nach § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG drohen.

54

Die Voraussetzungen liegen vor bei Maßnahmen, welche zielgerichtet gegenüber bestimmten Personen eingesetzt werden, die dadurch gerade wegen ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen persönlichen Merkmals getroffen werden sollen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. September 1999 – 9 B 7.99 –, juris; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 13. Januar 2017 – 11 ZB 16.31051 –, juris).

55

In der Türkei drohen Personen unabhängig von einer (weiteren) strafrechtlichen Verantwortlichkeit – insbesondere bezogen auf den Putschversuch – empfindliche Haftstrafen allein durch die zugeschriebene Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung. Zur Anklageerhebung ist keinerlei Bezug zum Putschversuch erforderlich. Es wird nicht unterschieden zwischen Personen, denen lediglich eine Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird und Personen, die einer aktiven Beteiligung am Putschversuch verdächtigt werden (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O.; Amnesty International, Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Turkey). So gibt es Verurteilungen mit der Folge von langjährigen Haftstrafen, die allein darauf gestützt werden, dass eine Person den Messaging-Dienst „ByLock“ auf seinem Smartphone benutzt hat, da diesen Personen die Mitgliedschaft bei „FETÖ“ zugeschrieben wird (US State Dept., Turkey 2017 Human Rights Report). Für internationale Aufmerksamkeit hat zuletzt der Fall eines amerikanisch-türkischen Mitarbeiters der NASA gesorgt, welcher im Rahmen eines Familienbesuches in der Türkei inhaftiert wurde und wegen des Vorwurfes der Mitgliedschaft bei „FETÖ“ zu 7 Jahren Haft verurteilt wurde (vgl. Taz, 7 Jahre Knast wegen 1 Dollar, 09.02.2018, abrufbar unter: https://gazete.taz.de/article/?article=!5483559, abgerufen am: 10.12.2018).

56

Des Weiteren wären die Kläger einem unüberschaubaren Risiko ausgesetzt, Opfer physischer oder psychischer Gewalt durch den türkischen Staat zu werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG).

57

Es gibt vermehrt Berichte darüber, dass Personen bei Verdacht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung Misshandlungen im Polizeigewahrsam erleiden. So sollen brutale Vernehmungsmethoden angewandt worden seien, die auf die Erzwingung von Geständnissen abzielten (vgl. Situation der Gülen-Bewegung, BT-Drucksache 19/3397; Zur Lage der Menschenrechte in der Türkei, BT-Drucksache 19/2795). Nach Berichten des Auswärtigen Amtes (a.a.O.) sei der Foltervorwurf insbesondere in den Tagen nach dem Putschversuch gegenüber Personen aufgekommen, denen eine Beteiligung am Putschversuch nachgesagt wurde. Ob es auch mit größerem zeitlichen Abstand zu Übergriffen gegen Gefangene komme bzw. gekommen sei, könne gegenwärtig weder ausgeschlossen noch bestätigt werden. Es gebe jedoch große Probleme, aufgrund der Verhältnisse in der Türkei Folter nachzuweisen. Besorgniserregend sei, dass es trotz der Strafbarkeit von Folter (Art. 94ff. des tStGB sehen eine Mindeststrafe von drei bis zwölf Jahren Haft für Täter von Folter vor und verschiedene Tat-Qualifizierungen sehen noch höhere Strafen bis hin zu lebenslanger Haft bei Folter mit Todesfolge vor) und der Berichte der Zunahme von Beschwerden über Folter und unmenschliche Behandlung bis jetzt in keinem der Botschaft bekannt gewordenen Fall zu einem Strafverfahren oder zu Disziplinarmaßnahmen gegen Angehörige der Sicherheitsorgane wegen eines solchen Vorwurfs gekommen sei. Am 11.12.2018 berichtete das „ZDF“ darüber, dass Personen in Geheimgefängnissen unter dem Vorwurf der Anhängerschaft zu Gülen wochenlang unter anderem die Augen verbunden und geschlagen wurden und ihnen mit sexueller Gewalt gedroht worden ist (vgl. ZDF, Die Verschleppten, 11.12.2018, abrufbar unter: https://www.zdf.de/politik/frontal-21/die-verschleppten-100.html, abgerufen am: 11.12.2018)

58

Den Klägern steht zudem keine zumutbare inländische Fluchtalternative in der Türkei zur Verfügung, § 3e AsylG, um bei ihrer Rückkehr in die Türkei einer Verfolgung durch die türkischen Sicherheitskräfte auszuweichen. Der Zugriff auf die Kläger würde auch unmittelbar bei ihrer Einreise erfolgen. Seit dem Putschversuch gibt es verstärkte Einreisekontrollen in der Türkei. Alle türkischen Staatsangehörigen werden auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Wenn festgestellt wird, dass ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person ebenfalls in Polizeigewahrsam genommen (vgl. zum Ganzen: Auswärtiges Amt, a.a.O.). Nach der Erkenntnislage hält der türkische Staat auch aktuell an seinem Vorgehen gegen die Anhänger der Gülen-Bewegung fest. Zudem ist den Klägern ein Ausweichen auf andere Landesteile nicht zuzumuten, denn es gibt keinen Landesteil, der nicht vom türkischen Staat und dessen Sicherheitskräften beherrscht und kontrolliert wird.

59

Da die Verfolgung durch den Staat selbst ausgeht, ist es den Klägern auch verwehrt, Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG zu gelangen.

60

Den Klägern ist es entgegen der Ansicht der Beklagten nicht nach § 27 Abs. 1 AsylG, wonach ein Ausländer, der bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war, nicht als Asylberechtigter anerkannt wird, verwehrt, sich auf die Flüchtlingseigenschaft zu berufen.

61

Hierbei kann es schon dahinstehen, ob die Kläger in Kenia hinreichend vor politischer Verfolgung sicher waren. Denn § 27 Abs. 1 AsylG findet im Rahmen der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG keine Anwendung.

62

In der von der Beklagten zitieren Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. Februar 2017 (– A 11 K 6712/16 –, juris) führt das Gericht aus:

63

„Zwar ist die Regelung des § 27 AsylG nicht einschlägig, da diese in Fällen anderweitiger Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG ausschließt (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.02.2005 - 1 C 29/03 - BVerwGE 122, 376). Auch die Flüchtlingszuerkennung nach § 3 AsylG ist jedoch vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen Drittstaat geprägt; der Flüchtlingsschutz vermittelt kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes, sondern stellt lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.02.2005 - 1 C 29/03 - a.a.O.). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er grundsätzlich nicht mehr die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Bundesgebiet beanspruchen (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.02.2005 - 1 C 29/03 - a.a.O).“

64

Das Gericht hat im Rahmen seiner Entscheidung jedoch übersehen, dass das Bundesverwaltungsgericht diese Rechtsprechung bereits mit Urteil vom 04.09.2012 (– 10 C 13/11 –, BVerwGE 144, 127-141) aufgegeben hat. So heißt es in der Entscheidung:

65

„Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG sieht einen materiellrechtlichen Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung aus Gründen der Subsidiarität nur in Fällen des Schutzes oder Beistands einer Organisation oder Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR oder dann vor, wenn der Betroffene von den Behörden des Aufenthaltsstaates als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten eines Staatsangehörigen dieses Landes oder gleichwertige Rechte und Pflichten hat. Die Möglichkeit anderweitig bestehender Sicherheit vor Verfolgung greift die Qualifikationsrichtlinie im Übrigen nur mit Blick auf den internen Schutz (Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG) auf, nicht aber im Hinblick auf die Verfolgungssicherheit in einem anderen Staat. Das Unionsrecht verfolgt insoweit keinen materiellrechtlichen, sondern einen verfahrensrechtlichen Ansatz: Nach Art. 25 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2005/85/EG kann ein Mitgliedstaat einen Asylantrag als unzulässig betrachten, wenn ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als erster Asylstaat des Asylbewerbers gemäß Art. 26 RL 2005/85/EG betrachtet wird. Nach Art. 26 Satz 1 Buchst. b der Richtlinie 2005/85/EG kann ein Staat als erster Asylstaat eines Asylbewerbers u.a. dann angesehen werden, wenn dem Asylbewerber in dem betreffenden Staat anderweitig ausreichender Schutz einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährt wird, vorausgesetzt, dass er von diesem Staat wieder aufgenommen wird. Nach diesem verfahrensrechtlichen Konzept des ersten Asylstaats sind die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, einen Asylantrag in der Sache zu prüfen, wenn ein Drittstaat dem Antragsteller - auch ohne ihn als Flüchtling anzuerkennen - anderweitig ausreichenden Schutz gewährt und die Rückübernahme des Antragstellers in diesen Staat gewährleistet ist (vgl. auch den 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85/EG).

66

Der deutsche Gesetzgeber hat dieses verfahrensrechtliche Konzept des ersten Asylstaats in § 29 Abs. 1 AsylVfG in der Weise umgesetzt, dass ein Asylantrag - und damit auch ein Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 13 Abs. 1 und 2 AsylVfG) - unbeachtlich ist, wenn offensichtlich ist, dass der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war und die Rückführung in diesen Staat oder in einen anderen Staat, in dem er vor politischer Verfolgung sicher ist, möglich ist. In den Fällen des § 29 Abs. 1 AsylVfG droht das Bundesamt dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war (§ 35 AsylVfG). Das Asylverfahren ist gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG allerdings fortzuführen, wenn die Rückführung innerhalb von drei Monaten nicht möglich ist. Die Entscheidung des Bundesamtes über die Unbeachtlichkeit des Antrags wird unwirksam, wenn das Verwaltungsgericht einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO entspricht; auch dann hat das Bundesamt das Asylverfahren fortzuführen (§ 37 Abs. 1 AsylVfG). Das Asylverfahrensgesetz knüpft somit an die Offensichtlichkeit, dass der Ausländer in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war und die Rückführung in diesen oder einen anderen sicheren Drittstaat möglich ist, ausschließlich die Unbeachtlichkeit des Asylantrags mit der verfahrensrechtlichen Folge, dass eine Abschiebungsandrohung in einen sicheren Drittstaat ohne umfassende Sachprüfung des Asylbegehrens ergehen kann. Macht das Bundesamt davon keinen Gebrauch, sondern entscheidet es - wie hier - über das Asylbegehren in der Sache, bleibt für eine materiellrechtlich verstandene Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes mit Blick auf die o.g. unionsrechtlichen Vorgaben kein Raum mehr. Die frühere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 8. Februar 2005 a.a.O.) erweist sich insoweit als überholt.“

67

Diesen Ausführungen schließt sich das erkennende Gericht vollumfänglich an.

68

Über die Hilfsanträge war nicht zu entscheiden, da dem Hauptantrag entsprochen worden ist.

69

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 S. 1 VwGO i. V. m. § 83 b AsylG.

70

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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