Beschluss vom Verwaltungsgericht Münster - 5 L 307/21
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 7. Mai 2021 – 5 K 1566/21 – gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 2. Mai 2021 wird angeordnet, soweit eine Absonderung über den 11. Mai 2021 hinaus angeordnet worden ist. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt 2/3, die Antragsgegnerin 1/3 der Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 € festgesetzt.
1
G r ü n d e
2I. Der Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung der Klage vom 7. Mai 2021 – 5 K 1566/21 – gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 2. Mai 2021 anzuordnen,
4ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 28 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 8 IfSG zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
5Die gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche Interessenabwägung fällt zum Teil zu Gunsten des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Absonderungsverfügung überwiegt das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung zum Teil nicht.
6Anträgen nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist stattzugeben, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des Betroffenen an einem einstweiligen Nichtvollzug gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung vorrangig erscheint. Dabei wird ein das öffentliche Interesse überwiegendes Individualinteresse des Betroffenen regelmäßig dann angenommen, wenn der mit der Klage angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, wohingegen ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung in der Regel zu bejahen ist, wenn sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig erweist und zudem ein Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO vorliegt. Lässt sich bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung weder das eine noch das andere feststellen, hängt der Erfolg des Antrags ohne Berücksichtigung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren davon ab, ob das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung oder das entgegenstehende private Interesse an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs in der Hauptsache überwiegt. Schließt der Gesetzgeber auf der Grundlage des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO - wie hier gemäß § 28 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 8 IfSG - die aufschiebende Wirkung der Klage aus, so schlägt das Vollzugsinteresse im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bei offenem Prozessausgang in der dann gebotenen Interessenabwägung mit erheblichem Gewicht zu Buche. Das bedeutet aber nicht, dass sich dieses Interesse gegenüber dem Aufschubinteresse regelhaft durchsetzt.
7Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. April 2005 – 4 VR 1005.04 -, juris, Rn. 12.
8Nach diesen Maßstäben ist die aufschiebende Wirkung der gegen die Absonderungsverfügung gerichteten Klage in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang anzuordnen. Bei der im vorliegenden Verfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass die Verfügung rechtswidrig ist, soweit sie die Absonderung des Antragstellers über den Ablauf des 11. Mai 2021 hinaus anordnet. An der Vollziehung einer solchen Verfügung besteht kein öffentliches Interesse.
9a) Allein in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage für die vorliegende Anordnung, gegen die formelle Bedenken weder geltend gemacht noch ersichtlich sind, ist § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG i. V. m. § 17 Abs. 1 und 2 CoronaTestQuarantäneVO vom 8. April 2021 in der ab dem 10. Mai 2021 gültigen Fassung. Nach Aktenlage sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG erfüllt. Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat die zuständige Behörde anzuordnen, dass Personen, die an Lungenpest oder an von Mensch zu Mensch übertragbarem hämorrhagischem Fieber erkrankt oder dessen verdächtig sind, unverzüglich in einem Krankenhaus oder einer für diese Krankheiten geeigneten Einrichtung abgesondert werden. Bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern kann nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden.
10Aus § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ergibt sich, dass nur Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider einer Quarantänemaßnahme unterzogen werden dürfen. Diese Adressatenkreise sind in § 2 Nr. 4 bis Nr. 7 IfSG legaldefiniert. Danach ist "Kranker" eine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist, "Krankheitsverdächtiger" eine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen, und "Ausscheider" eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein. "Ansteckungsverdächtiger" ist schließlich eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Die Aufnahme von Krankheitserregern im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anzunehmen, wenn der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person oder einem infizierten Gegenstand hatte. Die Vermutung, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, muss naheliegen. Eine bloß entfernte Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Demzufolge ist die Annahme eines Ansteckungsverdachts nicht schon gerechtfertigt, wenn die Aufnahme von Krankheitserregern nicht auszuschließen ist. Andererseits ist auch nicht zu verlangen, dass sich die Annahme geradezu aufdrängt. Erforderlich und ausreichend ist, dass die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil.
11Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 - 3 C 16.11 -, juris Rn. 31.
12Für die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckungsgefahr gilt allerdings kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Es ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§§ 1 Abs. 1, 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betreffenden Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt. Das Beispiel zeigt, dass es sachgerecht ist, einen am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, flexiblen Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.
13Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 - 3 C 16.11 -, juris Rn. 32.
14Ob gemessen daran ein Ansteckungsverdacht im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG zu bejahen ist, beurteilt sich unter Berücksichtigung der Eigenheiten der jeweiligen Krankheit und der verfügbaren epidemiologischen Erkenntnisse und Wertungen sowie anhand der Erkenntnisse über Zeitpunkt, Art und Umfang der möglichen Exposition der betreffenden Person und über deren Empfänglichkeit für die Krankheit. Die Feststellung eines Ansteckungsverdachts setzt voraus, dass die Behörde zuvor Ermittlungen zu infektionsrelevanten Kontakten des Betroffenen angestellt hat; denn ohne aussagekräftige Tatsachengrundlage lässt sich nicht zuverlässig bewerten, ob eine Aufnahme von Krankheitserregern anzunehmen ist. Die Ermittlungspflicht der Behörde folgt bereits aus dem allgemein für das Verwaltungsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 24 Abs. 1 VwVfG NRW). Sie lässt sich darüber hinaus aus § 25 Abs. 1 IfSG ableiten. Nach dieser Bestimmung stellt das Gesundheitsamt die erforderlichen Ermittlungen insbesondere über Art, Ursache, Ansteckungsquelle und Ausbreitung der Krankheit an, wenn Anhaltspunkte für einen Krankheits-, Krankheitsverdachts-, Ansteckungsverdachts- oder Ausscheidungsfall vorliegen. Die Behörde entscheidet über Art und Umfang der Ermittlungen (§ 24 Abs. 1 Satz 2 VwVfG NRW). Die gebotene Ermittlungstiefe zu möglichen Kontakten des Betroffenen mit infizierten Personen oder Gegenständen wird insbesondere durch die Eigenheiten der Krankheit, namentlich die Ansteckungsfähigkeit des Krankheitserregers, sowie durch die epidemiologischen Erkenntnisse vorgegeben. Die Ermittlungen können danach von Fall zu Fall mehr oder weniger intensiv ausfallen.
15Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 - 3 C 16.11 -, juris, Rn. 33 f.; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 1. September 2020 – 20 L 1186/20 -, juris, Rn. 13.
16Angesichts der epidemischen Lage mit Blick auf das Coronavirus sind die vorstehend dargestellten maßgeblichen Risiken als sehr hoch einzuschätzen.
17Nach den maßgeblichen Feststellungen des Robert Koch-Instituts ist die 7-Tages-Inzidenz für ganz Deutschland seit Mitte Februar 2021 stark angestiegen und liegt deutlich über 100/100.000 Einwohner. Seit Mitte April hatte sich die Zunahme zunächst abgeschwächt und seit Anfang der Kalenderwoche 17 haben die Zahlen abgenommen. Die Anzahl der Landkreise mit einer 7-Tages-Inzidenz über 100/100.000 Einwohner ist weiterhin sehr hoch. Der 7-Tage-R-Wert liegt unter 1. In der letzten Woche sank die 7-Tage-Inzidenz in allen Altersgruppen. Beim Großteil der Fälle ist der Infektionsort nicht bekannt. COVID-19-bedingte Ausbrüche betreffen insbesondere private Haushalte, aber auch das berufliche Umfeld sowie Kitas und Schulen, während die Anzahl der Ausbrüche in Alters-und Pflegeheimen abgenommen hat. Um einen möglichst kontinuierlichen Betrieb von Kitas und Schulen gewährleisten zu können, erfordert die aktuelle Situation den Einsatz aller organisatorischen und individuellen Maßnahmen zur Infektionsprävention (s. u. a. Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen - Lebende Leitlinie). Darüber hinaus muss der Eintrag von SARS-CoV-2 in die Einrichtungen möglichst verhindert werden, d. h. Familien und Beschäftigte sollten ihr Infektionsrisiko außerhalb der Kita oder Schule entsprechend der Empfehlungen des RKI (AHA + L) minimieren und bei Zeichen einer Erkrankung 5 - 7 Tage zuhause bleiben. Falls es zu Erkrankungen in einer Einrichtung kommt, sollte eine frühzeitige reaktive Schließung aufgrund des hohen Ausbreitungspotenzials der SARS-CoV-2 Varianten erwogen werden, um eine weitere Ausbreitung innerhalb und außerhalb der Einrichtung zu verhindern.
18Vgl. Robert Koch-Institut, Aktueller Lage-/Situationsbericht des RKI zu COVID-19, Stand: 10. Mai 2021, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Mai_2021/2021-05-09-de.pdf?__blob=publicationFile.
19Für den Kreis Steinfurt sind insoweit keine Besonderheiten festzustellen. Die 7-Tage-Inzidenz im Kreisgebiet liegt bei 134, allein in M. sind aktuell 85 Personen infiziert.
20Vgl. Pressemitteilung des Kreises vom 10. Mai 2021, abrufbar unter https://www.kreis-steinfurt.de/kv_steinfurt/Aktuelles/Slider/Informationen%20Coronavirus/Pressemitteilungen%20Corona/).
21Hinsichtlich der Übertragungswege ist zu berücksichtigen, dass Hauptübertragungsweg für SARS-CoV-2 die respiratorische Aufnahme virushaltiger Flüssigkeitspartikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen, ist. Beim Atmen und Sprechen, aber noch weitaus stärker beim Schreien und Singen, werden vorwiegend kleine Partikel (Aerosol) ausgeschieden, beim Husten und Niesen entstehen zusätzlich deutlich mehr Tröpfchen. Neben der steigenden Lautstärke können auch individuelle Unterschiede zur verstärkten Freisetzung beitragen. Grundsätzlich ist die Wahrscheinlichkeit einer Exposition gegenüber Tröpfchen und Aerosolen im Umkreis von 1 bis 2 Meter um eine infizierte Person herum erhöht. Während insbesondere größere respiratorische Tröpfchen schnell zu Boden sinken, können Aerosole - auch über längere Zeit - in der Luft schweben und sich in geschlossenen Räumen verteilen. Ob und wie schnell die Tröpfchen und Aerosole absinken oder in der Luft schweben bleiben, ist neben der Größe der Partikel von einer Vielzahl weiterer Faktoren, u. a. der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit, abhängig. Der längere Aufenthalt in kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen kann die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine größere Distanz als 1,5 Meter erhöhen, insbesondere dann, wenn eine infektiöse Person besonders viele kleine Partikel (Aerosole) ausstößt und diese Personen besonders tief einatmen. Durch die Anreicherung und Verteilung der Aerosole ist unter diesen Bedingungen das Einhalten des Mindestabstandes ggf. nicht mehr ausreichend.
22Vgl. Robert Koch-Institut, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Stand: 19. April 2021, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText1.
23Dies erklärt, weshalb nach nunmehr weitgehend erfolgter Durchimpfung höherer Altersgruppen die Ausbreitung von SARS-CoV-2 nach Einschätzung des Robert-Koch-Instituts (s.o.) wesentlich von Gemeinschaftseinrichtungen für jüngere Menschen, wie u. a. auch Schulen und Kitas, getrieben wird, während die Ausbrüche in Alters- und Pflegeheimen abnehmen.
24Vgl. Robert Koch-Institut, Aktueller Lage-/Situationsbericht des RKI zu COVID-19, Stand: 10. Mai 2021, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Mai_2021/2021-05-09-de.pdf?__blob=publicationFile.
25Gemessen an dieser Ausgangslage ist beim Antragsteller aufgrund seines am 27. April 2021 erfolgten Kontakts mit einem positiv auf das Coronavirus getesteten Kind in seiner Kitagruppe ein Ansteckungsverdacht nach § 2 Nr. 7 IfSG zu bejahen, weil eine hinreichend wahrscheinliche Aufnahme von Krankheitserregern infolge eines Kontaktes mit einer infizierten Person nach summarischer Prüfung gegeben ist. Dies zieht indessen auch der Antragsteller selbst nicht in Zweifel.
26b) Allerdings liegen Ermessensfehler im Sinne des § 114 Satz 1 VwGO vor, soweit die Absonderung über den 11. Mai 2021 hinaus angeordnet worden ist. Zwar ist die Entscheidung der Antragsgegnerin, den oben wiedergegebenen Empfehlungen des Robert Koch-Instituts zu folgen, mit Blick auf die Zielrichtung der Absonderungsverfügung auch für Kinder im Alter des Antragstellers geeignet, als Mittel erforderlich und bringt im Regelfall die gegenläufigen Grundrechtspositionen zu einem vertretbaren Ausgleich.
27Dies gilt allerdings nicht für die Dauer der angeordneten Quarantäne von 19 Tagen, mithin 21 Tagen ab dem letzten Kontakt mit der positiv getesteten Person. Denn insoweit hat die Antragsgegnerin keine – allerdings erforderlichen – tragfähigen Ermessenserwägungen angestellt.
28Gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO soll die Quarantäne in der Regel nach 14 Tagen enden, gerechnet ab dem letzten Tag des Kontaktes zur positiv getesteten Person (Primärfall).
29Diese Bestimmung ist vor dem Hintergrund der derzeitigen Erkenntnislage mit Blick auf die Inkubations‑ und Infektiösitätszeit des Coronavirus SARS-CoV-2 auszulegen, die sich den insoweit maßgeblichen Informationen des Robert-Koch-Instituts entnehmen lässt. Ist eine Kontaktperson der Kategorie I festgestellt, empfiehlt das Robert Koch-Institut in seiner Handreichung die Anordnung einer häuslichen Quarantäne für 14 Tage.
30Vgl. Robert Koch-Institut, Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei SARS-CoV-2-Infektionen (Stand: 11. Mai 2021), Ziffer 3.2.2, abrufbar unter www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/ Kontaktperson/Management.html.
31Hintergrund ist, dass die Erkrankung eine Inkubationszeit von bis zu 14 Tagen aufweist, während welcher potentielle Infektiosität besteht. Die Inkubationszeit gibt die Zeit von der Ansteckung bis zum Beginn der Erkrankung an. Die mittlere Inkubationszeit (Median) wird in den meisten Studien mit 5 - 6 Tagen angegeben. In verschiedenen Studien wurde berechnet, zu welchem Zeitpunkt 95 % der Infizierten Symptome entwickelt hatten, dabei lag das 95. Perzentil der Inkubationszeit bei 10 - 14 Tagen.
32Vgl. Robert-Koch-Institut, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19 (Stand: 19. April 2021), Nr. 5, abrufbar unter www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html; Robert-Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin Nr. 39/2020 vom 24. September 2020, S. 5, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/39_20.pdf?__blob=publicationFile.
33Zwar ermächtigt § 17 Abs. 3 CoronaTestQuarantäneVO grundsätzlich dazu, im Einzelfall von der aus § 17 Abs. 2 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO folgenden Regeldauer von 14 Tagen abzuweichen. Allerdings befreit diese Vorschrift nicht von einer ordnungsgemäßen Ermessensausübung im Sinne von § 40 VwVfG NRW.
34Der Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin sind insoweit jedoch keine Ermessenserwägungen zu entnehmen. Es findet sich nur eine Feststellung dazu, dass aufgrund der Verbreitung der besorgniserregenden Mutation B 1.1.7 des Coronavirus SARS-CoV-2 eine Verkürzung der Quarantäne von 14 Tagen auf 10 Tage infolge eines negativen PCR-Tests nicht in Betracht komme. Diese Erwägung steht mit der Frage, ob die Dauer der Quarantäne über den Zeitraum von 14 Tagen hinaus zu verlängern ist, in keinem Zusammenhang. Als Ermessensbetätigung könnte allenfalls die in der Begründung des Bescheids zu findende Formulierung gewertet werden, dass sich die Dauer der Absonderung aus der maximalen Inkubationszeit zwischen einer möglichen Ansteckung und dem ersten Auftauchen von Krankheitssymptomen ergebe. Nach eigenem Vortrag der Antragsgegnerin hat sie mit jener Formulierung jedoch keine Ermessensausübung zum Ausdruck bringen wollen. Vielmehr wollte sie mit der Formulierung auf die 14-tägige Quarantänedauer aus § 17 Abs. 2 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO Bezug nehmen und deren Geltung unter den Vorbehalt stellen, dass zum Ablauf von 14 Tagen ein negativer PCR-Test vorgelegt wird.
35Die Antragsgegnerin hat ihre Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren auch nicht gemäß § 114 Satz 2 VwGO ergänzt. Sie beruft sich hier sinngemäß zur Ergänzung und Erläuterung des angegriffenen Bescheids im Wesentlichen darauf, dass ein Ende der Quarantäne vor Ablauf von 21 Tagen jedenfalls erst nach „Freitestung“ durch einen PCR-Test erfolgen könne. Die Bescheidformulierung würde in Zukunft, um Missverständnisse zu vermeiden, dahingehend geändert, dass eine 14-tägige Quarantäne angeordnet werde, die sich in Ermangelung eines negativen PCR-Tests um eine Woche auf 21 Tage verlängern solle. Ohne dass die Antragsgegnerin ausdrücklich auf die Norm Bezug nimmt, wird aus dieser Begründung deutlich, dass die Antragsgegnerin sich insoweit auf den allein in Betracht kommenden § 17 Abs. 3 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO stützt. Nach dieser Vorschrift können die örtlichen Ordnungs- und Gesundheitsbehörden einen vorsorglichen PCR- oder Coronaschnelltest zu Beginn und vor Beendigung der Quarantäne anordnen. § 17 Abs. 3 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO kann jedoch nicht dahingehend ausgelegt werden, dass der Ablauf der Quarantäne ohne weitere Begründung von einem negativen PCR-Test abhängig gemacht und in Ermangelung eines solchen eine Verlängerung der Quarantäne um eine Woche angeordnet werden kann. Vielmehr ist § 17 Abs. 3 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO vor dem Hintergrund der in den Informationen des Robert Koch-Instituts dokumentierten Erkenntnislage so auszulegen, dass die örtlichen Ordnungs- und Gesundheitsbehörden unabhängig von der im Regelfall an § 17 Abs. 2 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO orientierten Quarantänedauer von 14 Tagen und bei angeordneter längerer Quarantänedauer, die jedenfalls gesondert und „individuell“ zu begründen ist, im Einzelfall einen PCR-Test anordnen können. Fällt dieser Test positiv aus, liegt also eine Infektion mit SARS-CoV-2 vor, beginnt in Anwendung von § 15 Abs. 1 und 4 CoronaTestQuarantäneVO eine neue Absonderung von 14 Tagen. Das Ende der Quarantäne kann jedoch nicht allein deshalb hinausgeschoben werden, weil kein negativer PCR-Test vorliegt. Für eine solche Koppelung bietet § 17 Abs. 3 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO keine ausreichende rechtliche Grundlage. Denn eine solche Lesart würde den vom Verordnungsgeber auf Grundlage der epidemiologischen Erkenntnisse über das Coronavirus SARS-CoV-2 verfolgten Zweck der Regelung ins Gegenteil verkehren.
36Für diese Auslegung spricht entscheidend der Zweck der Regelung des § 17 Abs. 3 CoronaTestQuarantäneVO. Dieser besteht darin, die Behörden in die Lage zu versetzen, im Einzelfall festzustellen, ob unabhängig von der Symptomlosigkeit einer Kontaktperson vor Ende der im Regelfall 14-tägigen Quarantäne eine Infektion mit SARS-CoV-2 vorliegt. Im Hintergrund der Vorschrift steht die im Epidemiologischen Bulletin des Robert Koch-Instituts vom 24. September 2020, Nr. 39/2020, S. 3 f. erläuterte, epidemiologisch bedeutsame Unterscheidung zwischen Quarantäne einerseits und Isolierung andererseits, die aufgrund der identischen rechtlichen Bezugspunkte (insbesondere Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), einheitlich unter dem Rechtsbegriff der „Absonderung“ in § 30 IfSG bzw. in der CoronaTestQuarantäneVO – insoweit allerdings etwas missverständlich – einheitlich unter dem (Rechts)Begriff der „Quarantäne“ (§ 12 Abs. 1 CoronaTestQuarantäneVO) geregelt sind.
37Der Begriff der Quarantäne bezieht sich in seinem epidemiologischen Bedeutungsgehalt nach den Informationen des Robert Koch-Instituts demgegenüber nur auf die zeitweilige Absonderung symptomfreier Personen, bei denen eine Ansteckung wahrscheinlich ist, da sie in Kontakt mit einer ansteckenden Person waren (Exposition), also auf die Quarantäne im Sinne von §§ 15 f. CoronaTestQuarantäneVO.
38Vgl. Robert-Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin Nr. 39/2020 vom 24. September 2020, S. 3 f., abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/39_20.pdf?__blob=publicationFile.
39Während der Quarantäne im epidemiologischen Sinn wird die Entwicklung von Krankheitszeichen mit dem Ziel der frühzeitigen Erkennung einer Infektion von Kontaktpersonen überwacht und das Risiko einer unbemerkten Übertragung auf ein Minimum reduziert. Spätestens beim Auftreten von Krankheitszeichen erfolgt in der Regel eine Laboruntersuchung. Weist diese auf eine Ansteckung hin, schließt sich direkt eine Isolierung an die Quarantäne an.
40Bei der Isolierung handelt es sich demgegenüber um die Absonderung von kranken oder nachweisbar infizierten Personen, mithin rechtlich um eine Quarantäne im Sinne von § 15 CoronaTestQuarantäneVO. Durch die Isolierung soll verhindert werden, dass eine infizierte Person in der Zeit, in der sie den Erreger ausscheidet und ansteckend ist, Kontakt zu anderen Personen hat und diese ansteckt.
41Vgl. Robert-Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin Nr. 39/2020 vom 24. September 2020, S. 3 f., abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/39_20.pdf?__blob=publicationFile.
42Liegt bei einem behördlich auf der Grundlage von § 17 Abs. 3 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO angeordneten PCR-Test vor Beendigung der Quarantäne nach § 17 Abs. 1 CoronaTestQuarantäneVO eine Infektion mit SARS-CoV-2 vor, besteht somit aufgrund der nun nachgewiesenen konkreten Infektionsgefahr eine neue rechtliche Grundlage für die Anordnung weiterer Absonderung im Sinne von § 30 IfSG, nämlich nach § 15 CoronaTestQuarantäneVO. Diese beruht dann jedoch nicht mehr auf dem Verdacht einer möglichen Ansteckung, sondern darauf, dass nachgewiesenermaßen ein Infektionsfall vorliegt und insofern die Isolierung im Unterschied zur Quarantäne erforderlich wird.
43Liegt hingegen vor Beendigung der 14-tägigen Quarantäne einer symptomlosen Kontaktperson kein positiver PCR-Test vor, ist nach § 17 Abs. 2 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO in Ermangelung besonderer anderweitiger Anhaltspunkte davon auszugehen, dass das Risiko einer Weiterverbreitung des Virus infolge einer Infektion in einem die weitere Absonderung nicht mehr rechtfertigenden Maß reduziert ist. Es kann dann – ohne besondere Anhaltspunkte im Einzelfall, die eine andere Entscheidung rechtfertigen und die im Bescheid zu nennen sind – kein proaktiv beizubringender negativer PCR-Test für die regelhafte Beendigung der Quarantäne nach 14 Tagen ab dem letzten Kontakt mit dem Primärfall (§ 17 Abs. 2 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO) gefordert werden und die Quarantäne bis zu dessen Vorliegen vorsorglich aufrecht erhalten werden.
44Vgl. zur Tatsachengrundlage nochmals Robert-Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin Nr. 39/2020 vom 24. September 2020, S. 5, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/39_20.pdf?__blob=publicationFile.
45Für dieses dargelegte Verständnis spricht im Übrigen auch ein Vergleich der Regelungssystematik des § 17 Abs. 2 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO (Quarantäne für andere Kontaktpersonen) mit § 15 Abs. 4 Satz 2 CoronaTestQuarantäneVO (Quarantäne aufgrund eines positiven Testergebnisses). Nach letzterer Vorschrift muss zusätzlich zur Aufhebung der Quarantäne, die frühestens nach 14 Tagen ab der Vornahme des ersten Erregernachweises endet, am letzten Tag der Quarantäne ein negativer Coronaschnelltest bzw. bei schweren Verläufen ein negativer PCR-Test vorliegen. Es steht der Antragsgegnerin nicht zu, ohne im Einzelfall dargelegte Besonderheiten diese Verfahrensweise nach einer bestätigten Infektion auf bloße Verdachtsfälle zu übertragen.
46II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
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