Urteil vom Verwaltungsgericht Münster - 13 K 461/20.O
Tenor
Das mit Verfügung vom 1. Juli 2019 eingeleitete Dis-ziplinarverfahren gegen die Klägerin wird eingestellt.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet
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T a t b e s t a n d
3Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist Polizeikommissarin im Dienst des Beklagten.
4Nach dem Erwerb der allgemeinen Hochschulreife (Abitur 2,8) am N. -Q1. -Gymnasium C. im Jahr 0000 wurde die Klägerin am 00.00.0000 als Kommissaranwärterin (Beamtenverhältnis auf Widerruf) eingestellt. Mit Wirkung zum 00.00.0000 wurde die Klägerin, nachdem sie im 00.00.0000 die Laufbahnprüfung erfolgreich abgeschlossen hatte (Bachelor of Arts), in das Beamtenverhältnis auf Probe berufen und zur Polizeikommissarin (Besoldungsgruppe A 9) ernannt.
5Am 00.00.0000 reichte die Klägerin bei dem Beklagten einen Antrag auf Genehmigung einer Nebentätigkeit als sogenannte Influencerin für die Vermarktung von Produkten aus dem Bereich Bekleidung und Schmuck ein. Zum Einstellungsdatum am 00.00.0000 war die Klägerin bereits über die Genehmigungs- bzw. Anzeigepflicht von Nebentätigkeiten belehrt worden. In der Folge dieses Antrages wurden durch den Beklagten Vorermittlungen (u.a. ein „Personalgespräch“ mit der Klägerin) durchgeführt, die zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens mit Verfügung vom 00.00.0000 führten. Der Klägerin wurde vorgeworfen, durch eine unter dem Instagram-Benutzernamen „E. “ bereits ausgeübte Tätigkeit als Influencerin (ca. 38.000 Follower) ohne entsprechende Genehmigung gegen die Pflicht aus § 40 BeamtStG i.V.m. § 49 LBG NRW verstoßen zu haben. Spätestens im 00.00.0000 kurz nach Beginn des Disziplinarverfahrens beendete die Klägerin ihre Tätigkeit als Influencerin durch die Deaktivierung des Instagram-Accounts. Die von der Klägerin beantragte Nebentätigkeit ist nach Einschätzung des Beklagten genehmigungsfähig. Die Entscheidung über den Genehmigungsantrag wurde jedoch bis zum Abschluss des Disziplinarverfahrens zurückgestellt.
6Am 00.00.0000 beantragte die Klägerin beim Verwaltungsgericht Münster die gerichtliche Bestimmung einer Frist zum Abschluss des Disziplinarverfahrens im Sinne des § 62 Abs. 1 LDG NRW (Az. 13 K 43/20.O). Am 00.00.0000 erließ der Beklagte eine Disziplinarverfügung gegen die Klägerin und erteilte ihr wegen ungenehmigter Nebentätigkeit einen Verweis. Das Fristsetzungsverfahren wurde daraufhin übereinstimmend für erledigt erklärt.
7Mit Schriftsatz vom 00.00.0000 hat die Klägerin Klage erhoben.
8Sie ist der Ansicht, sie sei durch die umfangreichen Vorermittlungen einschließlich der als Personalgespräch getarnten Vernehmung ohne vorherige Einleitung eines Disziplinarverfahren in ihren Verteidigungsrechten verletzt worden. Auch sei in unzulässiger Weise Druck auf sie ausgeübt worden, an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken.
9Die Klägerin hat ursprünglich beantragt, die verhängte Disziplinarmaßnahme, einen Verweis, aufzuheben.
10Mit Verfügung vom 00.00.0000 hat das Gericht gegenüber dem Beklagten angeregt, die am 00.00.0000 erlassene Disziplinarverfügung aufzuheben und das am 00.00.0000 eingeleitete Disziplinarverfahren gemäß § 33 Abs. 2 Nr. 2 Var. 1 LDG NRW einzustellen.
11Die Klägerin beantragt nunmehr,
12das Disziplinarverfahren gegen sie einzustellen.
13Der Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Er ist der Auffassung, eine Einstellung des Verfahrens komme nicht in Betracht. § 33 Abs. 2 Nr. 2 LDG NRW beziehe sich auf Fälle, in denen das Beamtenverhältnis durch Entlassung, Verlust der Beamtenrechte oder Entfernung tatsächlich ende und sich nicht wie in diesem Fall nach Bestehen der Laufbahnprüfung das Beamtenverhältnis auf Probe anschließe. Diese Auslegung berücksichtige im Besonderen die Ordnungsfunktion des Disziplinarrechts.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der von dem Beklagten überreichten Personalakte (Unterordner A) einschließlich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (Unterordner D) sowie auf die beigezogene Akte des Verwaltungsgerichts Münster mit dem Aktenzeichen 13 K 43/20.O Bezug genommen.
17E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
18Die zulässige Klage ist begründet.
19I.
20Das mit Verfügung vom 00.00.0000 eingeleitete Disziplinarverfahren ist nach § 33 Abs. 2 Nr. 2 Var. 1 LDG NRW einzustellen, da das dem hiesigen Verfahren zugrunde liegende Beamtenverhältnis mit Ablauf des 00.00.0000 durch Entlassung (kraft Gesetzes) geendet hat (dazu 1.); die Disziplinarverfügung vom 00.00.0000 ist daher unwirksam (dazu 2.).
211.
22Nach dem Gesetzeswortlaut des § 33 Abs. 2 Nr. 2 Var. 1 LDG NRW wird das Disziplinarverfahren eingestellt, wenn das Beamtenverhältnis durch Entlassung endet und die Beamtin keine Versorgung aus einem anderen Beamtenverhältnis erhält.
23a) Gemäß § 22 Abs. 4 BeamtStG endet das Beamtenverhältnis auf Widerruf durch Entlassung kraft Gesetzes mit Ablauf des Tages der Ablegung oder dem endgültigen Nichtbestehen der für die Laufbahn vorgeschriebenen Prüfung, sofern durch Landesrecht nichts anderes bestimmt ist.
24Nach § 12 Abs. 2 Satz 2 Laufbahnverordnung der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen - LVOPol NRW in der Fassung vom 20. März 2018 (außer Kraft getreten am 12. Juni 2021) endet das Beamtenverhältnis bei Bestehen der Laufbahnprüfung in Nordrhein-Westfalen abweichend mit Ablauf des Monats, in dem die Prüfungsergebnisse bekannt gegeben wurden.
25Vorliegend endete das Beamtenverhältnis auf Widerruf der Klägerin dementsprechend mit Ablauf des 00.00.0000.
26b) Die normierte Ausnahme von der Einstellungspflicht bei weitergehenden Versorgungsansprüchen greift nicht. Die Beamtin erhält - soweit hier bekannt ist - keine Versorgung aus einem anderen Beamtenverhältnis.
27c) Aus dem eindeutigen Wortlaut der Absätze 1 und 2 „wird eingestellt“ ergibt sich, dass die Einstellungsgründe von Amts wegen zu beachten sind,
28siehe (zur vergleichbaren Regelung im BDG) Wittkowski, in: Urban/Wittkowski (Hrsg.), BDG, 2. Auflage 2017, § 32 Rn. 2,
29und die Einstellung nicht im Ermessen des Dienstherrn steht. Die Einstellung des Disziplinarverfahrens ist daher vorliegend zwingend.
30d) Der Pflicht zur Einstellung steht auch nicht die Argumentation des Beklagten entgegen, wonach bei einer zu stark am Gesetzeswortlaut orientierten Auslegung des § 33 Abs. 2 Nr. 2 Var. 1 LDG NRW im letzten Jahr der Ausbildung insbesondere bei einer zwingenden Aussetzung nach § 22 Abs. 1 LDG NRW ein Disziplinarverfahren gegen Anwärter im Beamtenverhältnis auf Widerruf aus zeitlicher Sicht kaum abgeschlossen werden könnte und damit die Ordnungsfunktion des Disziplinarrechts für das letzte Jahr der dreijährigen Ausbildung zumindest faktisch außer Kraft gesetzt würde. Diese Argumentation ist zwar ordnungspolitisch vertretbar. Sie entspricht jedoch nicht der geltenden Rechtslage und lässt sich insbesondere auch nicht im Wege der Auslegung des § 33 LDG NRW herleiten.
31Die teleologische Reduktion des § 33 Abs. 2 Nr. 2 Var. 1 LDG NRW dahingehend, dass durch entsprechende restriktive Auslegung bei nahtlosem „Übergang“ vom Beamtenverhältnis auf Widerruf in das Beamtenverhältnis auf Probe keine „Entlassung“ vorliege, ist im Disziplinarverfahren zum Nachteil der Beamtin unzulässig. Gleiches gilt für die zum selben Ergebnis führende analoge Anwendung der landesgesetzlich normierten Ausnahme von der Einstellungspflicht bei Versorgungsansprüchen aus einem anderen Beamtenverhältnis (§ 33 Abs. 2 Nr. 2 letzter Halbsatz LDG NRW) im Falle von Besoldungsansprüchen aus einem neu begründeten Beamtenverhältnis ebenfalls zum Nachteil der Beamtin (dazu aa)). Zudem lassen sich die Voraussetzungen der restriktiven und der extensiven Auslegung mangels planwidriger Regelungslücke nicht zur Gewissheit des Gerichts feststellen (dazu bb)).
32aa) Zwar wäre es im Rahmen der Rechtsanwendung grundsätzlich möglich, im Wege der teleologischen Reduktion von dem Wortlaut einer Rechtsnorm abzuweichen oder den Geltungsbereich einer rechtlichen (Ausnahme-)Regelung im Wege der Analogie auf bisher ungeregelte Fälle zu erweitern (dazu (1)). Dem steht aber der im Disziplinarrecht zu beachtende Grundsatz „nulla poena sine lege“ entgegen (dazu (2)).
33(1) Die Eigenart der teleologischen Reduktion besteht darin, dass sie die auszulegende Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle für unanwendbar hält, weil ihr Sinn und Zweck, ihre Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen.
34Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 ‑, juris, Rn. 18 m.w.N.
35Die teleologische Reduktion zählt zu den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung. Beim Vorliegen der Voraussetzungen der teleologischen Reduktion sind die Gerichte im Rahmen der Rechtsanwendung berechtigt und gegebenenfalls auch verpflichtet, von dem Wortlaut einer Vorschrift abzuweichen und das Recht fortzuentwickeln. Die Auffassung, ein Richter verletze seine Gesetzesbindung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG durch jede Auslegung, die nicht im Wortlaut des Gesetzes vorgegeben ist, umreißt die Aufgabe der Rechtsprechung zu eng. Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet die Gerichte, nach „Gesetz und Recht“ zu entscheiden. Eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation schreibt die Verfassung nicht vor.
36Vgl. zur teleologischen Reduktion und zum Spannungsverhältnis zwischen Rechtsfortbildung und Gesetzesbindung BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 23. Mai 2016 - 1 BvR 2230/15 u.a. -, juris, Rn. 49 ff.; BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 -, juris, Rn. 17.
37Durch eine Analogie, die ebenfalls eine anerkannte Methode der Gesetzesanwendung ist, wird dagegen die durch eine Norm angeordnete Rechtsfolge auf einen Sachverhalt übertragen, der nicht dem Tatbestand der Norm unterfällt.
38Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. September 2008 - 2 B 43.08 -, juris, Rn. 7.
39(2) Sowohl der teleologischen Reduktion als auch der analogen Anwendung von Rückausnahmetatbeständen steht im Disziplinarrecht grundsätzlich der Rechtsgedanke des „nulla poena sine lege stricta“ des Art. 103 Abs. 2 GG, der hier Anwendung findet, entgegen.
40Vgl. zum Grundsatz „nulla poena sine lege“ im Disziplinarrecht OVG NRW, Urteil vom 9. September 1960 - V 5/60 -, juris (nur Leitsatz).
41Zwar fallen Vorschriften, die die Verfolgbarkeit betreffen, die eigentliche Strafbarkeit (hier die Disziplinarwidrigkeit) jedoch unberührt lassen, aus dem Geltungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG heraus.
42Vgl. zur st. Rspr. zu Verjährungsfragen im Strafrecht nur BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 31. Januar 2000 ‑ 2 BvR 104/00 -, juris, Rn. 6.
43Das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG erfasst im Grundsatz auch nicht das dem Sanktionsrecht zugrundliegende Verfahrensrecht.
44Vgl. zum Strafprozessrecht BGH, Beschluss vom 25. November 2006 - 1 BGs 184/06 -, juris, Rn. 6.
45„Strafbarkeit" im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG bedeutet aber sowohl die Festlegung des gesetzlichen Tatbestands als auch der Rechtsfolgen, soweit es sich bei diesen um Strafen im Sinne der Auferlegung eines Rechtsnachteils wegen einer schuldhaft begangenen rechtswidrigen Tat handelt. Die Bestimmung des Tatbestands umfasst dabei nicht nur die Regelungen des Allgemeinen Teils und der Tatbestandsmerkmale des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs sowie der Rechtfertigungsgründe, sondern auch von Strafbarkeitsbedingungen und Strafausschließungsgründen.
46Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. Dezember 2014 - 2 BvR 450/11 -, juris, Rn. 21.
47Beim statusbezogenen Verfahrenseinstellungsgrund des § 33 Abs. 2 Nr. 2 Var. 1 LDG NRW handelt es sich jedoch um einen generellen persönlichen Ausschließungsgrund für die Fälle, in denen in der Person der Beamtin ein bestimmter Statuswechsel („Entlassung, Verlust der Beamtenrechte oder Entfernung“) stattgefunden und der Landesgesetzgeber in diesen Fällen die Fortführung des Disziplinarverfahrens nicht mehr für notwendig erachtet hat. Eine Verfolgbarkeit entgegen dem eindeutigen Wortlaut (teleologische Reduktion) bzw. über den Wortlaut hinaus (Analogie) hat deshalb ausnahmslos zu unterbleiben.
48bb) Im Übrigen ist eine sowohl für die teleologische Reduktion als auch für die Analogie zwingend notwendige planwidrige nicht ausreichend sicher feststellbar.
49(1) Voraussetzung einer teleologischen Reduktion sowie einer analogen Gesetzesanwendung ist, dass zum einen eine planwidrige Regelungslücke besteht und zum anderen eine vergleichbare Interessenlage vorliegt. Ob eine planwidrige Gesetzeslücke vorliegt, ist dabei nach dem Plan des Gesetzgebers zu beurteilen, der dem Gesetz zugrunde liegt. Sie ist zu bejahen, wenn festzustellen ist, dass eine gesetzliche Vorschrift nach ihrem Wortlaut Sachverhalte erfasst, die sie nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht erfassen soll.
50Vgl. zu den Voraussetzungen einer planwidrigen Regelungslücke BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 -, juris, Rn. 17; BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2013 ‑ 5 C 28.12 -, juris, Rn. 9 m.w.N.
51Das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke muss dabei gesichert feststehen. Bei diesbezüglichen Unklarheiten oder Zweifeln kommt eine teleologische Reduktion des Wortlauts bzw. eine analoge Anwendung nicht in Betracht.
52Vgl. (zur teleologischen Reduktion) nur BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 -, juris, Rn. 17 ff.
53(2) Im Gegensatz zum Land Nordrhein-Westfalen hat das Land Schleswig-Holstein im Rahmen seines Disziplinargesetzes bereits im Jahr 2013 ein weitergehendes Erfordernis gesehen und in § 32 Abs. 2 Satz 2 LDG SH eine entsprechende normative Grundlage für die Fortführung eines Disziplinarverfahrens beim „Übergang“ vom Beamtenverhältnis auf Widerruf in das Beamtenverhältnis auf Probe geschaffen:
54„Satz 1 Nummer 2 gilt nicht, wenn unmittelbar im Anschluss an eine Entlassung gemäß § 30 Absatz 4 des Landesbeamtengesetzes ein Beamtenverhältnis auf Probe begründet werden soll.“
55Deutlich wird in der entsprechenden Gesetzesbegründung,
56siehe Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drucksache 18/1110, S. 24 ff.,
57die Notwendigkeit der Ergänzung des Gesetzeswortlautes (der ansonsten im Wesentlichen der nordrhein-westfälischen Regelung entspricht), wenn die verfolgten Ziele der Pflichtenmahnung, der Gleichbehandlung von Widerrufs-, Probe- und (Lebenszeit-)Beamten sowie des Schutzes des betroffenen Widerrufsbeamten erreicht werden sollen:
58„Wird ein Beamter auf Widerruf, gegen den ein Disziplinarverfahren läuft, gemäß § 30 Abs. 4 LBG entlassen und wird im Anschluss ein Beamtenverhältnis auf Probe begründet, scheitert eine „Wiedereröffnung“ des Disziplinarverfahrens an einem Verbrauch der Disziplinarbefugnis. Dies entspricht indes - auch wenn das Beamtenverhältnis auf Widerruf für beide Seiten von vorneherein befristet angelegt ist - regelmäßig nicht der Billigkeit. Denn das dem Disziplinarrecht zugrundeliegende Erfordernis der Pflichtenmahnung besteht bei einer Wiederberufung in ein Beamtenverhältnis (auf Probe) fort. Die Möglichkeit, ein gegen eine Widerrufsbeamtin oder einen Widerrufsbeamten eingeleitetes Disziplinarverfahren im Beamtenverhältnis auf Probe fortführen zu können, ist schon aus Gründen der Gleichbehandlung von Widerrufsbeamten und Probe- bzw. Lebenszeitbeamten erforderlich. Weil in Zeiten der Haushaltskonsolidierung Anwärter schwerlich über den Bedarf hinaus ausgebildet werden, folgt dem erfolgreichen Vorbereitungsdienst im Regelfall die Übernahme in ein Beamtenverhältnis auf Probe. Einem im Übrigen erfolgreichen Anwärter eine solche Übernahme unter Hinweis auf ein nicht rechtskräftig abgeschlossenes Disziplinarverfahren und damit letztlich einen noch nicht bestätigten Verdacht i.S.v. § 17 Abs. 1 LDG zu verweigern, wäre rechtlich und wirtschaftlich untunlich. Denn die Gründe für das noch laufende Verfahren können nicht nur zeitlicher, sondern auch tatsächlicher oder rechtlicher Natur sein. Durch die Möglichkeit des Dienstherrn, das in der Anwärterzeit begonnene Disziplinarverfahren während des Beamtenverhältnisses auf Probe zu einem Ende zu führen, wird der Widerrufsbeamte letztlich davor geschützt, aufgrund bloßer Verdachtsmomente nicht in ein Beamtenverhältnis auf Probe übernommen zu werden.“
59(3) Vorliegend steht zumindest nicht mit der erforderlichen Gewissheit fest, dass eine planwidrige Regelungslücke in Bezug auf die nordrhein-westfälische Regelung vorliegt. Es lassen sich weder in der Entstehungsgeschichte des LDG NRW und den entsprechenden Gesetzesmaterialien noch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift und der Systematik durchgreifende Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Gesetzgeber die Fälle des § 22 Abs. 4 Alt. 1 BeamtStG bei sich anschließendem Beamtenverhältnis auf Probe in § 33 Abs. 2 Nr. 2 Var. 1 LDG NRW ausnehmen wollte. Gleiches gilt für die analoge Anwendung des Ausnahmetatbestandes des § 33 Abs. 2 Nr. 2 letzter Halbsatz LDG NRW. Gegen eine planwidrige Regelungslücke spricht vielmehr, dass der Landesgesetzgeber das Landesdisziplinarrecht in den Jahren 2014, 2016 und 2018 geändert hat, ohne § 33 LDG NRW entsprechend der schleswig-holsteinischen Fassung,
60das insoweit vom Bundesrecht abweichende Landesrecht in Schleswig-Holstein ist auch in der Literatur kommentiert worden, s. z.B. Wittkowski, in: Urban/Wittkowski (Hrsg.), BDG, 2. Auflage 2017, § 32 Rn. 38; Weiß, in: Fürst, GKÖD, Bd. II, M § 32 Rn. 170 ff.,
61anzupassen.
62e) Das Gericht erlaubt sich zudem den Hinweis materiell-rechtlicher Art, dass die bisherigen Feststellungen in der Disziplinarverfügung nicht ausreichend konkret gewesen sein dürften, um die Schwere des Dienstvergehens (vgl. § 13 Abs. 2 Satz 1 LDG NRW) bemessen zu können. Weder die Dauer der Tätigkeit (von … bis … mit wöchentlich durchschnittlich … Stunden) noch der Umfang der erhaltenen (Sach-)Leistungen (Wann wurde welche Leistung erhalten?; Welchen Wert hatte die jeweilige [Sach-]Leistung in Euro?) sind konkret ermittelt und festgestellt worden. Offen bleibt somit auch, ob die Klägerin lediglich gegen die Anzeige- (vgl. § 7 NtV NRW) oder auch gegen die Genehmigungspflicht durch die Ausübung einer Tätigkeit als Influencerin verstoßen hat.
632.
64Die Disziplinarverfügung vom 00.00.0000 ist unwirksam, da dieser Verwaltungsakt mit endgültiger Einstellung des Disziplinarverfahrens durch das Verwaltungsgericht auf andere Weise erledigt ist, vgl. § 43 Abs. 2 Var. 5 VwVfG NRW.
65Vgl. (zur gleichlautenden Regelung im VwVfG) zur Erledigungswirkung bei sog. inhaltlicher Überholung nur Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Auflage 2018, VwVfG § 43 Rn. 213.
66Einer separaten Aufhebung der Disziplinarverfügung bedarf es somit nicht.
67II.
68Die Kostenentscheidung beruht auf § 74 Abs. 1 LDG NRW i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
69Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 3 Abs. 1 LDG NRW i.V.m. § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.
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