Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (12. Kammer) - 12 A 160/12

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 28.02.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2012 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund dieser Entscheidung vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht der andere Teil vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages leistet.

Tatbestand

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Der Kläger steht als Seiteneinsteiger seit seiner Ernennung am 01.03.2010 als Technischer Oberregierungsrat (Besoldungsgruppe A 14) in den Diensten der Beklagten. Er wendet sich gegen die teilweise Änderung der Anerkennung von ruhegehaltsfähigen Vordienstzeiten durch Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 08.07.2010 mit Bescheid vom 28.02.2012.

2

Der Korrekturbescheid vom 28.02.2012 wiederholt zum Teil die Anerkennungsentscheidung im Bescheid vom 08.07.2010. Mit diesem ursprünglichen Bescheid wurde allerdings neben dem Zeitraum vom 01.10.1996 bis 31.03.1999 (2 Jahre 182 Tage) auch der Zeitraum vom 01.04.1999 bis 31.03.2002 (3 Jahre) gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 BeamtVG als ruhegehaltsfähig anerkannt. Der Kläger war in dieser Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter der  …-Universität …  (insgesamt 01.05.1996 bis 31.12.2001) und wissenschaftlicher Angestellter des Entwicklungszentrums für Schiffstechnik und Transportsysteme e.V. in (insgesamt 01.01.2002 bis 30.11.2006).

3

Der gegen den Korrekturbescheid (ausgehändigt 23.03.2012) unter dem 20.04.2012 erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 30.08.2012 zurückgewiesen.

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Die Entscheidung bezüglich des Zeitraums vom 01.04.1999 bis 31.03.2002 (3 Jahre) sei zurückgenommen worden, da sie rechtswidrig gewesen sei. Nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BeamtVG dürfe – wie geschehen – nur die verbrachte Mindestzeit einer praktischen hauptberuflichen Tätigkeit als ruhegehaltsfähig berücksichtigt werden. Diese Mindestzeit ergebe sich aus § 17 Abs. 5 Nr. 2b BBG i.V.m. § 21 BLV (zwei Jahre und sechs Monate). Da bisher keine Leistungen gewährt worden seien und Vermögensdispositionen nicht getroffen worden seien, sei ein schutzwürdiges Interesse im Sinne von § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG nicht gegeben.

5

Der Kläger vertritt mit seiner unter dem 28.09.2012 erhobenen Klage die Auffassung, die ursprünglich getroffene Anerkennungsentscheidung sei nicht rechtswidrig gewesen, so dass eine Rücknahme nicht in Betracht komme. Abzustellen sei nicht auf das Eingangsamt der jeweiligen Laufbahn, sondern das konkrete Amt, in das er als Seiteneinsteiger übernommen worden sei. Die vorgenommene Übernahme als Oberregierungsrat sei ohne seine zusätzliche berufliche Vorerfahrung gar nicht denkbar gewesen. Er dürfe versorgungsrechtlich nicht schlechter gestellt werden, als Bestandsbeamte mit identischem laufbahnrechtlichem Status.

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Überdies sei die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG nicht gewahrt worden.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid der Beklagten vom 28.02.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2012 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide. Die beruflichen Vorerfahrungszeiten des Klägers seien bereits Voraussetzung für die Einstellung in ein höheres Amt als das Eingangsamt (§ 25 BLV) gewesen und im Rahmen der Festsetzung der Erfahrungsstufe nach § 27 Abs. 3 i.V.m. § 28 BBesG berücksichtigt worden. Für die Entscheidung über eine versorgungsrechtliche Anerkennung sei auch zu berücksichtigen, dass der Kläger für seine Zeiten im Angestelltenverhältnis Rentenansprüche erworben habe. Eine eventuelle Ungleichbehandlung zu gleichaltrigen Laufbahnbeamten ergebe sich nicht aus dem Lebensalter, sondern dem Entschluss des Klägers, sich erst nach mehrjähriger Berufstätigkeit als Beamter zu bewerben. Hinsichtlich des Laufes der Jahresfrist komme es auf die Kenntnisnahme von der Rechtswidrigkeit der Erstentscheidung an. Die Sachbearbeiterin habe die Entscheidung unmittelbar getroffen, nachdem ihr der Fehler gewahr geworden sei.

12

Der Rechtsstreit ist mit Beschluss der Kammer vom 12.07.2013 gemäß § 6 Abs. 1 VwGO dem Einzelrichter übertragen worden.

13

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Verwaltungsakt in Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

15

Zwar liegt die Grundvoraussetzung einer Rücknahme nach § 48 VwVfG vor. Die Anerkennungsentscheidung aus dem Jahr 2010 erweist sich hinsichtlich des streitigen Zeitraums als rechtswidrig, als diese nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 Beamtenversorgungsgesetz (– BeamtVG – Gesetz über die Versorgung der Beamten und Richter des Bundes in der Fassung der Bekanntmachung vom 24.02.2010, BGBl I S. 150) erfolgt ist. Die Ausführungen der Klägerseite mit dem Verweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.07.2009 – 2 C 43/08 – Buchholz 239.1 § 11 BeamtVG Nr. 13 verfangen demgegenüber nicht. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht darin eine Ermessenspraxis beanstandet, die kategorisch zu einer Nichtanerkennung von Vordienstzeiten führt, wenn diesbezüglich andere Altersvorsorgeansprüche erworben wurden (a.a.O. Juris Rn. 26).

16

Im vorliegenden Fall ergibt sich die Rechtswidrigkeit der zurückgenommenen Entscheidung aber nicht erst aus einem Ermessensausfall, weil die Beklagte sich nicht mit der Höhe der erworbenen Rentenansprüche und ihrer Anrechenbarkeit im Versorgungsfall auseinandergesetzt hat (vgl. dazu BVerwG a.a.O. Juris Rn. 27), sondern bereits aus dem Nichtvorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des herangezogenen § 12 Abs. 1 Nr. 2 BeamtVG. Diese Vorschrift ist amtlich mit „Ausbildungszeiten“ betitelt. Auch die Formulierung „praktische[n] hauptberufliche[n] Tätigkeit, die für die Übernahme in das Beamtenverhältnis vorgeschrieben ist“ deutet ebenso wie der systematische Zusammenhang mit den in der Nummer 1 geregelten Ausbildungszeiten im Sinne der Beklagten darauf hin, dass Zeiten gemeint sind, die für die Zulassung zum beamtenrechtlichen Eingangsamt Voraussetzung sind. Entsprechend stellt auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 28.01.2004 – 2 C 6/03 – Buchholz 239.1 § 12 BeamtVG Nr 14, Juris Rn. 18 auf die Zugangsvoraussetzungen der maßgeblichen Laufbahnvorschriften ab. Die weiteren Zeiten mögen zwar laufbahnrechtlich erforderlich gewesen sein, um den Kläger wie erfolgt unmittelbar in das Beförderungsamt Oberregierungsrat übernehmen zu können. Allerdings folgt daraus nicht automatisch, dass auch versorgungsrechtlich eine entsprechende Berücksichtigung als eine Art „Ausbildungszeit für das Beförderungsamt“ erfolgen müsste. Ein solches Verständnis überdehnte auch unter Berücksichtigung der übrigen im Beamtenversorgungsgesetz vorhandenen Anerkennungstatbestände ersichtlich den Wortlaut von § 12 Abs. 1 Nr. 2 BeamtVG.

17

Es kann auch dahinstehen, ob der streitige Zeitraum u.U. nach einer solchen anderen Vorschrift anrechnungsfähig wäre, nach dem Vortrag des Klägers zu den Hintergründen seiner Einstellung etwa gemäß § 11 Nr. 3 lit. a) BeamtVG.

18

Denn jedenfalls war der Widerruf wegen Überschreitens der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG unzulässig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat diese Vorschrift einen sehr weiten, auch reine Rechtsanwendungsfehler erfassenden Anwendungsbereich, vgl. zusammenfassend im Urteil vom 28.06.2012 – 2 C 13/11 – BVerwGE 143, 230 ff. Juris Rn. 27:

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„Nach § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG ist die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt zulässig, in dem die Behörde Kenntnis von Tatsachen erhält, welche die Rücknahme rechtfertigen. Diese Jahresfrist kann weder verlängert werden noch ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich (Ausschlussfrist). Nach dem Normzweck handelt es sich nicht um eine Bearbeitungs-, sondern um eine Entscheidungsfrist. Der zuständigen Behörde wird ein Jahr Zeit eingeräumt, um die Entscheidung über die Rücknahme des Verwaltungsakts zu treffen. Daraus folgt, dass die Frist erst bei vollständiger behördlicher Kenntnis der für die Rücknahme maßgebenden Sach- und Rechtslage zu laufen beginnt. Erst wenn die Behörde auf der Grundlage aller entscheidungserheblichen Tatsachen den zutreffenden rechtlichen Schluss gezogen hat, dass ihr die Rücknahmebefugnis zusteht, muss sie innerhalb eines Jahres entscheiden, ob sie davon Gebrauch macht (Beschluss des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 1984 – BVerwG Gr. Sen. 1.84 und 2.84 – BVerwGE 70, 356 <358 ff.> = Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 33 S. 16 ff.).“

20

Vorliegend ist jedoch das Einhalten der Jahresfrist nicht belastbar zu ermitteln, da unklar geblieben ist, wann der Beklagten die Fehlerhaftigkeit der Rechtsanwendung im Erstbescheid bewusst geworden ist. Grundsätzlich trifft die materielle Beweislast für ein Verstreichen der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG den Kläger als denjenigen, der sich auf diese in der Abwägung zwischen Vertrauensschutz und Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns für ihn günstigen Norm beruft (vgl. Dawin in Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand der 24. EL 2012, zu § 108 VwGO Rn. 106; BVerwG, Urteil vom 28. April 2011 – 2 C 55/09 – Buchholz 240 § 31 BBesG Nr 1, Juris Rn. 12). Allerdings handelt es sich im vorliegenden Fall nicht um den in § 48 VwVfG ausdrücklich geregelten klassischen Fall neuer Tatsachen. Vorliegend besteht die neue „Tatsache“ lediglich in einem neuen Ergebnis der auf Behördenseite vollzogenen rechtlichen Subsumtion unveränderter Tatsachen unter eine unveränderte Rechtsnorm (zur Kritik an der Erfassung dieser Fälle infolge der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vgl. Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Auflage 2008, zu § 48 VwVfG Rn. 219, 223 ff.). Anders als im Falle von Gesetzesänderungen oder Veränderungen der entscheidungsrelevanten Umstände selbst besteht regelmäßig keine Möglichkeit des Betroffenen, von einer solchen allein in der Binnensphäre der Beklagten stattfindenden Veränderung Kenntnis zu erhalten. Die Beklagte hat sich lediglich unsubstantiiert eingelassen, die bessere Rechtserkenntnis erst unmittelbar vor Erlass der streitbefangenen Maßnahme gewonnen zu haben. Gleichzeitig hat sie diesen Wechsel ihrer Rechtsauffassung in keiner Weise dokumentiert, die eine gerichtliche Überprüfung zugelassen hätte. Der Kläger hat insoweit geltend gemacht, ihm sei die Anerkennung seiner Vorerfahrungszeiten im Vorstellungsgespräch zugesagt worden, weshalb er vom Erhalt des streitgegenständlichen Änderungsbescheides völlig überrascht worden sei. Er gehe davon aus, dass sofern die Erstentscheidung – entgegen seiner Auffassung – rechtswidrig gewesen sein sollte, die Beklagte hiervon von Anfang an Kenntnis gehabt haben müsse.

21

Das Fehlen einer vollzogenen Änderung der Rechtsauffassung findet in den überlassenen Verwaltungsvorgängen insofern Unterstützung, als sie zwischen der Erstentscheidung und der streitgegenständlichen Korrekturentscheidung überhaupt nichts enthalten. An beiden Entscheidungen hat überdies dieselbe Sachbearbeiterin mitgewirkt, ohne dass ersichtlich wäre, wodurch diese zu einer Neubearbeitung veranlasst worden sein könnte. Hinweise wie z.B. eine Anweisung eines Vorgesetzten, eine Aufsichtsmaßnahme oder auch nur ein Vermerk zu den Motiven der Neubescheidung finden sich in den Verwaltungsvorgängen nicht. Auch eine Anhörung des Klägers hat nicht stattgefunden. Überdies ist die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Anerkennungsentscheidung und auch die rechtliche Einordnung als Widerruf erst im Widerspruchsbescheid benannt worden. Auch dies kann darauf hindeuten, dass die Rechtswidrigkeit der Ausgangsentscheidung bereits bei deren Erlass bekannt gewesen sein könnte und insofern gar kein Neugewinn rechtlicher Erkenntnis stattgefunden hat.

22

In einem solchen Fall, in dem die Beklagte die Ermittlung des Zeitpunktes des Gewinns einer neuen Tatsache in Gestalt einer Änderung der Rechtsauffassung durch mangelhafte Aktenführung vereitelt, ist zu Gunsten des Klägers eine Umkehr der Beweislast anzunehmen. Es hätte mithin der Beklagten oblegen, den Umstand nachzuweisen, dass sie binnen Jahresfrist nach besserer Rechtserkenntnis entschieden hat. Mit der unsubstantiierten Behauptung, die Sachbearbeiterin habe unverzüglich gehandelt, genügt sie dem nicht. Die Folgen der Unaufklärbarkeit treffen im vorliegenden Fall daher die Beklagte.

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Die Kostentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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