Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (2. Kammer) - 2 B 21/20

Tenor

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 24.02.2020 gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 21.01.2020 wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 15.000 € festgesetzt

Gründe

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Der Antrag,

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die aufschiebende Wirkung des von den Antragstellern zu 1. und 2. erhobenen Widerspruchs vom 24.02.2020 gegen die der Beigeladenen vom Antragsgegner erteilte Baugenehmigung vom 21.01.2020 anzuordnen,

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beurteilt sich nach §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO; insoweit ist der Antrag statthaft und auch sonst zulässig. Denn nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs in den Fällen anordnen, in denen die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO entfällt. Das ist hier der Fall, da dem Widerspruch der Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Mehrfamilienhauses mit zehn Wohneinheiten und einer Tiefgarage in der M-Straße, A-Stadt, Gemarkung A-Stadt, Flur x, Flurstück xx/x, nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO iVm § 212 a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung zukommt.

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Dieser Antrag ist jedoch unbegründet.

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Die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ergeht auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Interesse der beigeladenen Bauherrin an der sofortigen Ausnutzung der ihr erteilten Baugenehmigung einerseits und das Interesse der antragstellenden Nachbarn, von der Vollziehung der Baugenehmigung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben, andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte. Darüber hinaus ist in die Abwägung einzustellen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens gemäß § 212 a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung haben sollen und der Gesetzgeber damit dem Bauverwirklichungsinteresse grundsätzlich den Vorrang eingeräumt hat. Insofern kann das Gericht die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nur anordnen, wenn auf Seiten der Antragsteller geltend gemacht werden kann, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ihre Rechtspositionen durch den Bau und die Nutzung des genehmigten Vorhabens unerträglich oder in einem nicht wiedergutzumachenden Maße beeinträchtigt bzw. gefährdet werden. Dabei macht der Verweis auf die Rechtsposition des antragstellenden Nachbarn allerdings deutlich, dass bei baurechtlichen Nachbarrechtsbehelfen nicht allein die objektive Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigung in den Blick zu nehmen ist, sondern dass Rechtsbehelfe dieser Art nur erfolgreich sein können, wenn darüber hinaus gerade der widersprechende bzw. klagende Nachbar in subjektiv-öffentlichen Nachbarrechten verletzt ist. Ob die angefochtene Baugenehmigung insgesamt objektiv rechtmäßig ist, ist dagegen nicht maßgeblich. Vielmehr ist die Baugenehmigung allein daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen Vorschriften verstößt, die dem Schutz des um Rechtsschutz nachsuchenden Nachbarn dienen. Der Nachbar kann sich nur auf solche Interessen berufen, die das Gesetz im Verhältnis der Grundstücksnachbarn untereinander als schutzwürdig ansieht. Dabei ist für die Beurteilung der Verletzung von öffentlich-rechtlich geschützten Nachbarrechten durch eine Baugenehmigung allein der Regelungsinhalt der Genehmigungsentscheidung maßgeblich. Eine hiervon abweichende Ausführung kann die Aufhebung der Baugenehmigung demgegenüber nicht rechtfertigen.

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Nach diesem Maßstab überwiegt vorliegend das Interesse der Beigeladenen, die ihr erteilte Baugenehmigung sofort, d. h. ungeachtet des Widerspruchs der Antragsteller zu 1. und 2. ausnutzen zu können; denn bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage lässt sich nicht mit hinreichender, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die angefochtene Baugenehmigung des Antragsgegners vom 21.01.2020 Nachbarrechte der Antragsteller verletzt.

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Ein Verstoß durch die im vereinfachten Verfahren nach § 69 LBO erteilte Baugenehmigung gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts einschließlich des Gebots der Rücksichtnahme ist nicht auszumachen.

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So können sich die Antragsteller nicht mit Erfolg auf einen sog. Gebietserhaltungs- oder Gebietsbewahrungsanspruch berufen. Dieser Anspruch wird durch die Zulassung eines mit der Gebietsart unvereinbaren Vorhabens ausgelöst, weil hierdurch eine „Verfremdung“ des Gebiets eingeleitet und damit das nachbarliche Austauschverhältnis gestört wird. Jenes beruht auf dem Gedanken, dass sich jeder Grundstückseigentümer davor schützen können muss, dass er über die durch die Festsetzung einer Gebietsart normierte oder aus einer wie hier faktisch vorhandenen Gebietsart eines allgemeinen oder gar reinen Wohngebietes sich ergebenden Beschränkung seiner Baufreiheit hinaus durch eine nicht zulässige Nutzung eines anderen Grundstückseigentümers nochmals zusätzlich belastet wird (BVerwG, Urt. v. 16.9.1993 - 4 C 28/91 -, Rn. 12; OVG Schleswig, Beschl. v. 07.06.1999 - 1 M 119/98 -, Rn. 1, alle juris). Ein solches seiner Art nach gebietsunverträgliches Vorhaben liegt mit dem der Beigeladenen genehmigten Wohnbauvorhaben jedoch offenkundig nicht vor. Als Nutzungsart kennt die Baunutzungsverordnung nur das „Wohnen“ als solches, ohne dahingehend zu differenzieren, ob diese Nutzung in freistehenden Einfamilien-, Doppel- oder Mehrfamilienhäusern erfolgt. Die Errichtung von Mehrfamilienhäusern kann daher auch nicht von benachbarten Grundstückseigentümern mit der Begründung abgewehrt werden, eine derartige Nutzung passe nicht in ihr Wohngebiet. Auch der Umstand, dass das genehmigte Vorhaben der Beigeladenen etwa von der Grundfläche, der Höhe, der Geschossfläche oder der Anzahl der Vollgeschosse größer ausfallen wird als die auf dem Grundstück der Antragsteller befindlichen Gebäude, begründet keinen Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch (OVG Schleswig, Beschl. vom 15.01.2013 - 1 MB 46/12 -, Rn. 5; Beschl. vom 25.10.2012 - 1 MB 38/12 -, Rn. 12; VG Schleswig, Beschl. vom 24.11.2017 - 2 B 56/17 -, Rn. 8, alle juris).

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Einen darüber hinausgehenden Gebietsprägungserhaltungsanspruch des Inhalts, dass dieser unabhängig von der Art der Nutzung des geplanten Bauvorhabens einen Abwehranspruch vermittelt, weil das Vorhaben einem für das Baugebiet charakteristischen harmonischen Erscheinungsbild, etwa im Sinne einer vorrangigen Bebauung mit Einzelhäusern mit geringer Grundflächenzahl, nicht entspricht, erkennt die Kammer in ständiger Rechtsprechung nicht an (z. B. Beschl. v. 17.12.2012 - 2 B 88/12 -; v. 29.01.2014 - 2 B 6/14 -; v. 24.02.2014 - 2 B 12/14 -; v. 04.07.2017 - 2 B 25/17; v. 24.11.2017 - 2 B 56/17 -; so auch OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.5.2014 - 1 ME 47/14 -, Rn. 10 ff.; OVG Schleswig, Beschl. v. 31.03.2020 - 1 MR 2/20 -, Rn. 24, alle juris). Daher kommt es für das vorliegende Verfahren nicht darauf an, ob durch das geplante Bauvorhaben aus Sicht der Antragsteller das „harmonische Miteinander“ der näheren Umgebung, das ihren Angaben nach dem „Wohnen im Grünen“ in Gebäuden mit ein bis drei Wohneinheiten entspricht und sich zu einem „verdichteten“ „Wohnen im Stadtbereich“ zu wandeln droht, beeinträchtigt wird. Dieses Erscheinungsbild der näheren Umgebung des Bauvorhabens resultiert allein aus Kriterien, die das Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise und die überbaubare Grundstücksfläche betreffen. Bei diesen Kriterien handelt es sich aber um solche, die nur im überplanten Gebiet und dann auch nur bei Feststellung eines entsprechenden ausdrücklichen planerischen Willens der Gemeinde Drittschutz vermitteln können (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 25.10.2012, - 1 MB 38/12 -, Rn. 12, juris). Abweichungen von den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung sind nämlich mit Abweichungen über die Art der baulichen Nutzung nicht vergleichbar. Sie lassen in der Regel den Gebietscharakter unberührt und haben nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke. Zum Schutz der Nachbarn ist daher das in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene drittschützende Rücksichtnahmegebot ausreichend, das eine Abwägung der nachbarlichen Interessen ermöglicht und den Nachbarn vor unzumutbaren Beeinträchtigungen schützt. Ein darüberhinausgehender, von einer realen Beeinträchtigung unabhängiger Anspruch des Nachbarn auf Einhaltung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung kann dagegen dem Bundesrecht nicht entnommen werden (BVerwG, Beschl. v. 23.06.1995 - 4 B 52/95 -, Rn. 4, juris). Im unbeplanten Innenbereich - wie hier - gilt nichts Anderes; insbesondere geht hier der Nachbarschutz nicht weiter als in Plangebieten. Bei Abweichungen vom „einfügsamen“ Maß der Nutzung, wie dies von den Antragstellern insbesondere hinsichtlich der Grundfläche und der absoluten Höhe des genehmigten Baukörpers gerügt wird, bietet - allein - das drittschützende Rücksichtnahmegebot ausreichenden Schutz (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 25.10.2012 - 1 MB 38/12 -, Rn. 12, juris). Insofern bedarf es im vorliegenden Fall keiner Prüfung, ob das genehmigte Vorhaben tatsächlich - wie die Antragsteller meinen - über den in der näheren Umgebung vorgegebenen Rahmen hinsichtlich der vorgenannten (Maß-)Kriterien hinausgeht und sich deshalb im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB nicht einfügt.

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Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der sog. Wannsee-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 09.08.2018 - 4 C 7/17 -, juris). Danach können zwar Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung im Einzelfall nachbarschützend sein, wenn der Plangeber – auf dessen Willen es grundsätzlich ankommt – die nachbarschützende Wirkung im Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte. Dem Fall, den das Bundesverwaltungsgericht zu entscheiden hatte, lag allerdings der besondere Fall eines (übergeleiteten) Bebauungsplans aus dem Jahr 1959 zugrunde, der noch vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes und noch vor der erst im Jahr 1960 beginnenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Nachbarschutz in Kraft getreten war. Bereits bei „jüngeren“ Bauleitplänen aus der Zeit nach 1960 bzw. gar unter Geltung des Baugesetzbuches dürfte die genannte Rechtsprechung schwerlich Anwendung finden. Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht allerdings keinen aus Bundesrecht abgeleiteten – generellen – Gebietserhaltungsanspruch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung anerkannt; es leitet den Drittschutz von Maßfestsetzungen in einem Bebauungsplan vielmehr von einer entsprechenden Zwecksetzung der Gemeinde ab, die im unbeplanten Innenbereich – wie er hier in Rede steht – naturgemäß fehlt (OVG Schleswig, Beschl. v. 12.05.2020 - 1 MB 9/20 -, n.v., unter Verweis auf OVG Lüneburg, Beschl. v. 09.03.2020 - 1 ME 154/19 - und OVG Münster, Beschl. v. 15.04.2020 – 2 B 1322/19 -, beide juris).

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Vergleichbares gilt mit Blick auf die von den Antragstellern angeführte faktische hintere Baugrenze; auch diese entfaltet als Kriterium der überbaubaren Grundstücksfläche i.S.d. § 23 Abs. 1 und 3 BauNVO vorliegend keine nachbarschützende Wirkung (vgl. zum Nachbarrechtsschutz durch eine hintere Baugrenze OVG Schleswig, Beschl. v. 25.10.2012 - 1 MB 38/12 -, Rn. 8, juris).

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Im Übrigen, d.h. über die soeben dargelegte fehlende Rügemöglichkeit der Antragsteller hinaus, ist aber im vorliegenden Fall auch davon auszugehen, dass sich das grenzständig geplante Vorhaben der Beigeladenen hinsichtlich der zentral von den Antragstellern in den Blick genommenen Bauweise in die nähere Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 BauGB einfügt.

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Für die Bestimmung der maßgeblichen näheren Umgebung kommt es auf die Umgebung zum einen insoweit an, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und zum anderen insoweit, als die Umgebung ihrerseits das Baugrundstück prägt (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.05.1978 - 4 C 9/77 -, Rn. 33, juris; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB Kommentar, Stand: 02/2019, § 34 Rn 36 mwN). Hinsichtlich des räumlichen Bereiches der näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB stellt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf den Sinn und Zweck des Einfügungsgebotes ab. Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene bzw. bebaute Grundstück eingebettet ist. Dabei ist der Bereich der näheren Umgebung nicht abstrakt, sondern für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgeführten Bezugsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil diese jeweils eine Prägung mit ganz unterschiedlicher Reichweite und unterschiedlichem Gewicht entfalten können (OVG Schleswig, Urt. v. 31.05.2001 - 1 L 86/00 -, n.v.). Generell wird der „Radius“ der näheren Umgebung etwa bei der Bestimmung der überbaubaren Fläche enger als bei dem Merkmal der Art der baulichen Nutzung zu bemessen sein, weil die von den überbauten Grundstücksflächen ausgehende Prägung im Allgemeinen hinter der Reichweite der von der Art der baulichen Nutzung ausgehenden Wirkung zurückbleibt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.05.2014 - 4 B 38/13 -, Rn. 8 m.w.N., juris). Diese Annahme bezeichnet allerdings nur einen gedanklichen Ausgangspunkt, der nicht von einer Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall entbindet (BVerwG Beschl. v. 13.05.2014 - 4 B 38/13 -, Rn. 9, juris).

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Die Kammer geht vorliegend auf der Grundlage der durch die Beteiligten vorgelegten und der im Internet verfügbaren Kartenauszüge, etwa auf dem Geoportal des Kreises A-Stadt, davon aus, dass sich die nähere Umgebung hinsichtlich des Kriteriums der Bauweise auf die südöstliche Seite der M-Straße zwischen den Einmündungen der Stichstraße im Westen bis zur Einmündung des K-Wegs, aber auch auf die auf der gegenüberliegenden Seite der M-Straße befindlichen Gebäude mit den Nr. xx bis xx erstreckt. In dem so gezogenen Rahmen finden sich zahlreiche Gebäude, die unmittelbar auf der Grundstücksgrenze errichtet sind (Nr. XX (beide jeweils im hinteren Bereich), xx) oder aber lediglich einen ganz geringen seitlichen Grenzabstand aufweisen (Nr. xx (beide jeweils im vorderen Bereich), xx). Ein solches Bild entspricht dem Typus der geschlossenen Bauweise gemäß § 22 Abs. 3 BauNVO, wonach in der geschlossenen Bauweise die Gebäude ohne seitlichen Grenzabstand errichtet werden, es sei denn, dass die vorhandene Bebauung eine Abweichung erfordert. Auch geringfügige Grenzabstände, z.B. bei sog. Traufgassen und Durchgängen, stehen der Annahme einer geschlossenen Bauweise nicht entgegen (OVG Schleswig, Beschl. v. 29.04.2008 - 1 MB 1/08 -, n.v. unter Verweis auf OVG Schleswig, Urt. v. 22.05.2000 - 1 L 132/98 -; VGH München, Urt. v. 14.08.2003 - 2 BV 03.771 -, Rn. 22, BeckRS 2003, 27630; Blechschmidt, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB Kommentar, Stand: 10/19, § 22 BauNVO, Rn. 38 m.w.N.; König/Petz, in: König/Roeser/Stock, BauNVO Kommentar, 4. Aufl. 2019, § 22 BauNVO, Rn. 23).

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Soweit die Antragsteller die von ihnen geltend gemachte offene Bauweise darin bestätigt sehen, dass die Baugenehmigung für das hintere der beiden auf ihrem Grundstück befindlichen Gebäude ausschließlich auf Grundlage der von der Antragsgegnerin seinerzeitig geforderten Nachbarzustimmung im Wege der Befreiung erteilt worden sein soll und auch für die nun geplante Zufahrt zur Tiefgarage eine Nachbarzustimmung vorliege, so bleibt dies für die Beurteilung der näheren Umgebung ohne Belang. Dies ist schon deswegen der Fall, weil allein die Zustimmung der Grundstücksnachbarn ohne die – hier nicht ersichtliche – Eintragung einer entsprechenden Abstandflächenbaulast zu Lasten des die Grenzflächen übernehmenden Grundstücks den Verzicht auf die gesetzlich vorgesehenen Abstandflächen nicht rechtfertigen kann. Auch mit Blick auf die Tiefgaragenzufahrt zwingt nicht allein die Tatsache, dass eine Nachbarzustimmung behördlich gefordert worden sein mag bzw. auch erteilt worden ist, zu der Annahme, es könne sich daher nur um eine offene Bauweise handeln. Vielmehr mag hier etwa eine Rolle gespielt haben, dass die Zufahrt sich entlang des Flurstücks xx/x in den hinteren Grundstücksbereich erstreckt und hier Einwendungen betreffend die Beeinträchtigung von Ruhebereichen von vorneherein vermieden werden sollten.

16

Das Bauvorhaben der Beigeladenen verletzt darüber hinaus nicht das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, welches für faktische Baugebiete im Einfügensgebot des § 34 Abs. 1 BauGB verankert ist. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann an Rücksicht verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist.

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Soweit ein Bauvorhaben die landesrechtlichen Abstandvorschriften einhält, scheidet die Verletzung des bauplanungsrechtlichen Gebotes der Rücksichtnahme im Regelfall aus (OVG Schleswig, Beschl. v. 11.11.2010 - 1 MB 16/10 -, Rn 14; OVG Schleswig, Urt. v. 20.01.2005 - 1 LB 23/04 -, Rn. 44; BVerwG, Beschl. v. 11.01.1999 - 4 B 128/98 -, Rn. 4, alle juris). Unter besonderen Umständen kann ein Bauvorhaben – ausnahmsweise – auch rücksichtslos sein, obwohl die bauordnungsrechtlichen Abstandflächen gewahrt sind. Dies kommt in Betracht bei „bedrängender“ oder (gar) „erdrückender“ Wirkungen einer baulichen Anlage oder in Fällen, die – absehbar – zu gravierenden, allein durch die Abstandflächenwahrung nicht zu bewältigenden Nutzungskonflikten führen (OVG Schleswig, Beschl. v. 11.11.2010 - 1 MB 16/10 -, Rn. 15 mwN, juris). Die in der näheren Umgebung anzutreffende geschlossene Bauweise muss hierbei naturgemäß auch im Rahmen der Betrachtung der Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens Berücksichtigung finden dergestalt, dass sie gerade dazu führt bzw. führen soll, dass seitliche Abstandflächen zwischen den Gebäuden nicht zu wahren sind (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 4 LBO, wonach eine Abstandfläche nicht erforderlich ist vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grundstücksgrenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf). Auch soweit bestimmte Maßkriterien, wie z.B. die Höhe des Gebäudes, für die Beurteilung seiner Rücksichtslosigkeit eine Rolle spielen können, ist im Rahmen der geschlossenen Bauweise zu bedenken, dass zwei aneinandergrenzende Gebäude gerade nicht - wie bei einer Doppelhausbebauung, die i.S.d. § 22 Abs. 2 BauNVO der offenen Bauweise genügen soll (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 24.02.2000 - 4 C 12.98 -, Rn. 16 ff.; Urt. v. 05.12.2013 - 4 C 5.12 -, Rn.13 ff., beide juris) - einen einheitlich wirkenden Gesamtkörper bilden müssen, dessen beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut sind.

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In Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das streitbefangene Bauvorhaben gegenüber den Antragstellern zu 1. und 2. nicht als rücksichtslos.

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Zwar übersteigt die Grundfläche des geplanten Vorhabens diejenige der auf dem Flurstück xx/x befindlichen Wohnhäuser um einiges ebenso wie die (Gesamt-)Höhe des Vorhabens diejenige des hinteren Pultdachgebäudes, insbesondere im unmittelbaren Grenzbereich. Allein diese Größenunterschiede sind hier aber nicht geeignet, dem Grundstück der Antragsteller seine eigene, eben durch die vorhandene geschlossene Bauweise vorgeprägte baurechtliche Charakteristik abzusprechen. Auch eine von den Antragstellern gerügte „Abriegelungswirkung“ ist hier nicht auszumachen; dies schon deshalb, weil auf ihrem - lang gezogenen - Grundstück im Südosten noch ein signifikanter unbebauter Bereich verbleibt und der Eindruck des „Eingemauertseins“ bei Weitem nicht den Grad der in der Rechtsprechung ausdrücklich geforderten „Dramatik“ (vgl. nur vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.01.2007 - 1 ME 80/07 -, Rn. 24 und v. 13.01.2010 - 1 ME 237/09 -, Rn. 14) erreicht.

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Schließlich führt die geplante Bebauung nicht zu einer unzumutbaren Verschattung des Grundstücks der Antragsteller. Innerhalb eines bebauten Gebietes muss regelmäßig damit gerechnet werden, dass Nachbargrundstücke innerhalb des vorgegebenen Rahmens baulich ausgenutzt werden und es durch die Bebauung zu einer Verschattung des eigenen Grundstücks zu bestimmten Tageszeiten kommt (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 11.11.2010 - 1 MB 16/10 -, Rn. 20 ff., juris), so wie hier in den Nachmittags- und Abendstunden. Das Rücksichtnahmegebot vermittelt keinen Anspruch auf die unveränderte Beibehaltung der einmal gegebenen Besonnung eines Grundstücks oder darauf, dass eine Nachbarbebauung Verschattungswirkungen in einem größeren Umfang zu vermeiden oder zu minimieren hat, als es das Planungs- bzw. Abstandflächenrecht fordert. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme erfordert vielmehr eine qualifizierte Betroffenheit des Nachbarn, die über bloße Lästigkeiten hinausgeht (OVG Schleswig, Beschl. v. 11.11.2010, a.a.O. unter Verweis auf BVerwG, Urt. v. 06.10.1989 - 4 C 14/87 -, Rn. 20, juris). Vergleichbar verhält es sich mit den zu befürchtenden Möglichkeiten der Einsichtnahme durch das angegriffene Bauvorhaben. Auch hier geht das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es in der Regel keinen über die landesrechtlichen Abstandflächenvorschriften hinausgehenden Schutz vor Einsichtsmöglichkeiten von benachbarten Grundstücken aus gibt (u.a. Beschl. v. 03.01.1983 - 4 B 224.82 -, Rn. 5; Beschl. v. 24.04.1989 - 4 B 72.89 -, Rn. 7; Beschl. v. 11.1.1999 - 4 B 128/98 -, Rn. 4, alle juris). Es gibt keinen Rechtsanspruch des Nachbarn, dass Räume, Fenster, Terrassen, Balkone oder Dachgauben auf dem benachbarten Grundstück so angeordnet werden, dass sein Grundstück nicht oder nur eingeschränkt eingesehen werden kann (OVG Schleswig, Beschl. v. 14.07.2011 - 1 LA 31/11 -, Rn. 2, juris, unter Verweis auf VGH München, Beschl. v. 13.07.2005 - 14 CS 05.1102 -, juris). Einsichtsmöglichkeiten von Nachbargrundstücken in und auf Gärten, Terrassen, Balkone und Fenster sind in bebauten innerörtlichen Bereichen regelmäßig nicht zu vermeiden und damit eine grundsätzlich hinzunehmende Selbstverständlichkeit. Die von einer benachbarten Wohnnutzung und den damit verbundenen Lebensäußerungen typischerweise auf Nachbargrundstücke einwirkenden Beeinträchtigungen müssen grundsätzlich akzeptiert werden (OVG Schleswig, Beschl. v. 14.07.2011, a.a.O.). Dies gilt selbst für eine durch eine Dachterrasse eröffnete „Rundumsicht“ (vgl. OVG Schleswig, Urt. v. 24.04.2007 - 1 LB 16/06 -, n.v.; VG Schleswig, Urt. v. 28.05.2010 - 2 A 74/09 -, n.v.). Es ist dem betroffenen Nachbarn ferner zuzumuten, unerwünschte Einblicke durch eigene Mittel abzuwehren, sei es durch Sichtschutz im Haus oder im Gartenbereich (vgl. VG Schleswig, Urt. v. 25.11.2014 - 8 A 119/12 -, n.v.).

21

Vorliegend sind schon auf der Grundlage der baulichen Beschaffenheit der Gebäude auf dem Grundstück der Antragsteller unzumutbare Verschattungen oder Einsichtsmöglichkeiten durch das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht zu erwarten. Auf der dem Bauvorhaben zugewandten Seite sind sowohl im vorderen als auch im hinteren Gebäude keine Fenster und/oder Dachöffnungen vorhanden, welche etwa der Belichtung der dahinterliegenden Aufenthaltsräume dienen oder den Einblick ins Innere des Hauses freigeben würden. Auch möglicherweise schutzbedürftige Aufenthalts- oder Ruhebereiche im Freien sind – schon wegen der Grenzbebauung durch die Antragsteller selbst – an dieser Stelle nicht vorhanden. Insofern trifft es auch nicht zu, wenn die Antragsteller vortragen, dass ihnen jegliche Ruhebereiche auf ihrem Grundstück verloren gehen. Vielmehr bleiben diese in ausreichendem Maße auch nach Errichtung des Vorhabens im begrünten südöstlichen Teil ihres Grundstücks erhalten. Insbesondere der Bereich, der sich unmittelbar an das hintere Gebäude mit dem Pultdach anschließt und in dem sich ausweislich der vorgelegten Lichtbilder der Terrassenbereich befindet, kann vom Bauvorhaben faktisch gar nicht eingesehen werden, weil nach der hier allein maßgeblichen Planung auf der gesamten den Antragstellern zugewandten Seite gar keine Öffnungen vorgesehen sind. Lediglich am südöstlichen Ende des Mehrfamilienhauses sind Terrassen bzw. Balkone – indessen mit Ausrichtung in weiter südöstliche Richtung – geplant.

22

Schließlich verstößt das Vorhaben auch unter dem Aspekt des von den Antragstellern befürchteten erhöhten Immissionsaufkommens (Geruchs-, Licht- und Lärmeinwirkungen) nicht gegen das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme. Nach der gebotenen summarischen Prüfung sind keine unzumutbaren Immissionen auf das Grundstück der Antragsteller zu erwarten, die aus der Lage bzw. der Nutzung der für das Mehrfamilienhaus vorgesehenen Tiefgarage resultieren. Die Zufahrt der Tiefgarage auf dem Baugrundstück erfolgt ausschließlich über die von den Antragstellern abgewandte Seite des Baugrundstücks und hinter dem geplanten Mehrfamilienhaus. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Gebäude der Antragsteller gar keine Fensteröffnungen in die maßgebliche Richtung aufweisen, so dass nicht nachvollziehbar erscheint, inwiefern etwa ihre Nachtruhe durch das Licht einfahrender Fahrzeuge beeinträchtigt werden könnte.

23

Vorschriften des Bauordnungsrechts, auf deren Verletzung sich die Antragsteller berufen könnten, sind bereits nicht Gegenstand des Prüfungsumfangs der im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren gemäß § 69 LBO erteilten Baugenehmigung und können vorliegend daher ebenfalls nicht zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Nachbarwiderspruchs führen. Denn in einem solchen Verfahren wird außer bei Sonderbauten die Vereinbarkeit der Vorhaben mit den Vorschriften der Landesbauordnung und den Vorschriften aufgrund der Landesbauordnung nicht geprüft; lediglich die §§ 65 Abs. 4, 68 und 70 LBO bleiben unberührt.

24

Das vorläufige Rechtsschutzgesuch der Antragsteller zu 1. und 2. war nach alldem mit der sich aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO ergebenden Kostenfolge abzulehnen.

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Es entsprach hier der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären (§ 162 Abs. 3 VwGO), weil sie sich durch das Stellen eines eigenen Sachantrages nach § 154 Abs. 3 VwGO am Kostenrisiko des vorliegenden Verfahrens beteiligt hat.

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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG, wobei die Kammer unter Berücksichtigung der geltend gemachten Beeinträchtigungen der Wohnhäuser auf dem Flurstück xx/x von einem Streitwert in Höhe von jeweils 15.000 € für das Hauptsacheverfahren ausgeht, der für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren war.

        


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